Hirtenbrief vom 1. Juni 1949

Dr. Dibelius, evang. Bischof von Berlin:

Hirtenbrief vom 1. Juni 1949

Liebe Brüder und Schwestern!

An der Schwelle des Pfingstfestes grüße ich die Glieder der Gemeinden mit dem Bekenntnis des Apostels: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht. 2. Timotheus I, 7.

Fünfzehn Jahre sind in diesen tagen vergangen, seit in Barmen die erste evangelische Bekenntnissynode zusammentrat und jene Erklärung beschloss, mit der der gemeinsame Widerstand der deutschen Christenheit gegen das System des Nationalsozialismus begann. Es war damals eine pfingstliche Stunde und oft ist seither zu Pfingsten die Frage aufgestanden, ob unserer Kirche auch heute noch die Kraft geschenkt sei, vor aller Welt zu bezeugen, was sie damals bezeugt hat: dass sie nur dem Herrn Christus und keinen anderen Nächsten und Gestalten dieser Erde gehorsam ist.

In den vier Jahren, die jetzt hinter uns liegen, haben sich alle deutschen Kirchenleitungen Zurückhaltungen auferlegt. Das hatte darin seinen Grund, dass unser öffentliches Leben bisher unter der alleinigen Herrschaft und Verantwortung der Besatzungsmächte stand. Nach allem aber, was andere Völker in sechs Kriegsjahren durch Deutsche erlitten haben, hatte die Kirche nicht die innere Freiheit, Anklage nach außen zu erheben. Wir haben für die Entrechteten, für die Gefangenen und die Internierten in Ost und West in aller Stille getan, was wir konnten. Öffentlich haben wir nur in einzelnen, ganz besonderen Fällen geredet, so schwer es auch war, zu schweigen, wenn Zehntausende Männer und Frauen, alte und ganz junge, auch Pastoren, plötzlich verschwanden, oder wenn, um ein Beispiel herauszugreifen, ein theologischer Lehrer wie Prof. Lohmeyer in Greifswald, hoch angesehen im Inland und Ausland, verhaftet wurde und wir bis auf diesen Tag nicht wissen, ob er noch am Leben ist.

Nunmehr aber wird die Verantwortung für das, was in Deutschland geschieht, mehr und mehr wieder auf deutsche Schultern gelegt. Deutsche Staatsgewalt ist wieder im Werden. Damit ist für unsere Kirche die Stunde gekommen zu reden, wo sie bisher hat schweigen müssen. Denn an das deutsche Volk ist sie mit ihrem Auftrag gewiesen.

Es ist viel zu sagen, zu bitten und zu warnen, nach allen Seiten hin, nach Westen und nach Oste.

Dabei darf kein Ansehen der Partei gelten. Die Kirche ist das Evangelium allen Menschen schuldig, auch allen Parteien. Wo immer Raum und Anlass sich bietet, ein Wort vom Evangelium her zu sagen, da soll es gesagt sein, auch wenn das bald dieser und bald jener Seite unbequem ist. Wer das Evangelium zu verkünden hat, muss großzügig sein, so wie der Sämann im Gleichnis.

Gegenwärtig bedrückt uns mehr als alles andere die Sorge, dass das Staatsgebilde, das um uns her entsteht, so viel von den Zügen zeigt, denen in der nationalsozialistischen Zeit unser Widerstand um Gottes Willen gegolten hat. Gewalt, die über alles Recht hinweggeht, innere Unwahrhaftigkeit und Feindschaft gegen das christliche Evangelium.

In der Abteilung  K 5  der so genannten Volkspolizei ist die Gestapo unseligen Andenkens wieder erstanden. Es wird mit denselben Methoden gearbeitet wie damals. Es tut nicht Not, das im einzelnen zu schildern. Dies Sammeln von Material durch Spitzel und Denunzianten, die nächtlichen Verhaftungen, die Zermürbung von Menschen in Gefängnisräumen, die oft der Beschreibung spotten, die Verhöre, bei denen die Angeschuldigten keine Möglichkeit haben, sich wirksam zu verteidigen, die unbestimmte Dauer der Haft, die Ungewissheit über das, was aus den Angehörigen wird – wir kennen das aus zwölfjähriger bitterer Erfahrung. Niemand ist vor solchem Schicksal sicher. Gegenwärtig sind es besonders Gewerbetreibende, deren Betrieb man zu enteignen wünscht und die auf diese Weise aus dem Wege geräumt werden. Hier ist alles beseitigt, was Recht genannt werden kann und was dem Christen ein unaufgebbarer Bestandteil der göttlichen Offenbarung ist. Und nicht nur hier! Die neuen „Volksrichter“ sind ausdrücklich angewiesen, „politisches Recht“ zu sprechen, was doch nichts anderes bedeutet als dass politische Gewalt an Stelle des Rechtes tritt.

Wo das Recht nicht mehr gilt, da ist auch keine Wahrhaftigkeit. Jener Landrat, der dem Pfarrer sein Ehrenwort gab, um es in der nächsten Minute zu brechen und triumphierend sagte: „Ich habe sie überlistet“ – ist ein typischer Repräsentant jenes Geistes, der schon unter den Nationalsozialisten alle moralischen Bindungen aufzulösen drohte. Wo die Staatsgewalt ihre Aufgabe darin sieht, die Glieder ihres Volkes zu überlisten, da ist der Staat keine sittliche Gemeinschaft mehr.

Man sage nicht, das seien Entgleisungen einzelner! Waren nicht selbst bei der Wahl zum Volkskongress die Stimmzettel genau nach dem Muster der nationalsozialistischen Wahlen gemacht? Eine vorgedruckte Frage, auf die es schwer war, anders als mit Ja zu antworten: Mit diesem Ja aber hatte man eine vorgeschriebene Liste von Abgeordneten gewählt, es bedurfte nicht erst der Anweisung an die Bürgermeister, Zettel, die nach allgemeinem Gebrauch ungültig waren, als Ja-Stimmen zu zählen, um die innere Unwahrhaftigkeit eines solchen Vorganges deutlich zu machen.

All dies und vieles andere, was hier nicht aufgezählt werden kann, ist nur möglich, wo man dem christlichen Evangelium den Abschied gegeben hat.

Die Leitung der evangelischen Kirche bezeugt offen und gern, dass sie für manche ihrer Anliegen bei leitenden politischen Stellen des Ostens Verständnis und Entgegenkommen gefunden hat. Sie kann nur hoffen, dass es dabei auch in Zukunft bleibt. Sie hat sich auch immer verpflichtet gefühlt, den Gerüchten entgegen zu treten, als gebe es im Osten unseres Vaterlandes so etwas wie eine organisierte Christenverfolgung. Aber dass in zahllosen Dörfern und Städten dem kirchlichen Leben durch Maßnahmen der politischen Gewalt aller möglicher Abbruch geschieht, ist eine Tatsache. Nur zweierlei erwähnt: Immer wieder werden die arbeitsfähigen Dorfbewohner, oft auch die Fabrikarbeiter in der Stadt, am Sonntag zur Arbeit kommandiert. Die Jugend muss am Sonntag Vormittag zu Vorführungen und zu Arbeiten antreten, obwohl dies alles genau so gut an einem Wochentag erledigt werden könnte. Der Gottesdienst der Gemeinde wird auf diese Weise zwar nicht verboten, aber praktisch unmöglich gemacht.

Dem Religionsunterricht in den Schulen werden dauernd Schwierigkeiten bereitet von den Schulräten und von anderen, so dass allen Zusicherungen zum Trotz an vielen Orten die Kinder, die die Kirche getauft hat, ohne jeglichen christlichen Unterricht heranwachsen, gleichzeitig aber im Schulunterricht dauernd in antichristlichem Sinne beeinflusst werden.

Hier muss die Kirche ihre warnende Stimme erheben. Sie klagt nicht an. Denn daran, dass es abermals zu diesem allen gekommen ist, trägt jeder von uns eine Mitschuld, ob er in der westlichen oder östlichen Zone Deutschlands seine Heimat hat. Wir haben uns alle unter die Gerichte Gottes nicht so gebeugt, wie wir es hätten tun müssen. Wir klagen nicht an, aber wir warnen und wir bitten.

Wir bitten alle, die es angeht: Verliert Euch nicht in dem Wahn, als sei ein Regiment der Gewalt und der Unwahrhaftigkeit der notwendige Ausfluss einer wissenschaftlichen Weltanschauung, der die Zukunft gehöre. Eine solche Zukunft könnte nur eine Zukunft sein, in der der Mensch nicht mehr Mensch sein darf.

Wir bitten jeden, in dessen Brust ein Gewissen schlägt, sich zu nichts herzugeben, was den Geist der Gewalt und der Lüge atmet. Ein tapferes Nein zu dem, was wider Gottes Gebot ist, macht frei, auch wenn es zunächst Not und Gefahr bringen mag.

Wir bitten aber vor allem die, die mit uns Christen sein wollen, die Wahrheit des Evangeliums immer entschlossener zu bezeugen. Wir bitten sie, nicht müde zu werden in der Fürbitte, insbesondere für die Gefangenen und Internierten, aber auch für die, die in unserem Staat eine Verantwortung tragen. Auch wo wir um Gottes Willen warnen müssen, hören wir nicht auf, in dem anderen den Bruder zu sehen, mit dem wir gemeinsam vor Gott stehen und mit dem wir Frieden zu halten bestrebt sind.

Die Stunde ist sehr ernst und niemand weiß, wie viel Zeit Gott uns noch lässt, in dieser Welt einen neuen Anfang zu machen. Unser Heiland Jesus Christus aber spricht: „Wenn Du doch erkenntest zu dieser Deiner Zeit, was zu Deinem Frieden dient! Friede wird nicht durch Gewalt, sondern durch Gerechtigkeit, nicht durch Lüge, sondern durch Wahrheit, nicht durch Abkehr, sondern durch entschlossene Einkehr zu dem lebendigen Gott.“

Er, dieser lebendige Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christi, er schenke uns solchen echten Frieden!

Gez. D. Dr. Dibelius

Quelle: Nachlass Wilhelm Pieck,
für die Richtigkeit der Abschrift gez: Pol.Meister Seifert.