Interview mit Ali Fayad, Mitglied des Politbüros von Hezbollah

Chris den Hond, Mireille Court, Nicolas Qualander
Interview mit Ali Fayad, Mitglied des Politbüros von Hezbollah

Vorbemerkung von „Editions democrite“: Im August 2007, genau ein Jahr nach dem Sieg des libanesischen Widerstandes über die israelische Armee, haben wir uns mit Ali Fayad, Mitglied des Politbüros von Hezbollah und Präsident des Zentrums für Studien und Forschung, das mit Hezbollah verbunden ist, getroffen. Das Zentrum hat seinen Sitz im Beiruter Süden, dem schiitischen Vorort. Ali Fayad ist gleichzeitig Professor an der Libanesischen Fakultät, wo er politische Wissenschaften lehrt.

Frage: Was ist die grundsätzliche Schlussfolgerung aus Ihrem Sieg über die israelische Armee?

Ali Fayad: Die aktuelle Schlussfolgerung aus dem Sieg unseres Widerstandes über die israelische Armee ist die, dass die Vorhaben der Amerikaner im Nahen Osten scheiterten. Condoleeza Rice, die meinte, dass der israelische Angriff der Beginn für eine Neuordnung des Nahen Ostens sei, muss ihre Pläne nun neu gestalten.

Der Sieg der Hezbollah eröffnet eine neue Ära, und das nicht nur für den Libanon, sondern für die gesamte Region. Was erreicht wurde, ist ein Modell für all diejenigen, die sich der amerikanischen Vorherrschaft, der israelischen Okkupation und der Dominanz der internationalen Institutionen wie der UNO verweigern wollen.

Gleichzeitig ist es ein Sieg über die us-amerikanische Propaganda, die behauptet, dass der Krieg gegen uns ein Krieg zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie sei. Das ist nicht wahr. Denn unser Sieg ist ein Sieg aller Verdammten dieser Erde, für Venezuela, für Lateinamerika, für die arabische Welt, für die Palästinenser, für den Irak, den Libanon und für alle, die sagen, dass die Völker in der Lage sind, die Großmächte, und seien sie bis an die Zähne bewaffnet, zu schlagen.

Frage: Ist Hezbollah eine religiöse Widerstandsbewegung? Was ist ihre Identität?

Ali Fayad: Als allererstes verstehen wir uns als eine nationale Befreiungsbewegung mit dem Ziel, unsere von Israel besetzten Gebiete zu befreien. Wir sind eine Befreiungsbewegung, die versucht, den Libanon gegen die israelische Aggression, unter der wir seit mehr als 50 Jahren leiden, zu verteidigen. Wir sind eine Bewegung des nationalen Widerstandes und der Befreiung mit einer zuallererst menschlich-humanistischen und in zweiter Linie auch nationalen und religiösen Dimension. Wir teilen den Schmerz der unterdrückten islamischen Welt.  Wir sind Teil der arabischen Welt, die unter der israelischen Besetzung leidet. Alles in allem sind wir also eine nationale Befreiungsbewegung mit humanistischem, arabischem und islamischem Cha-rakter.

Des weiteren hoffen wir, einen libanesischen Staat schaffen zu können, der frei ist von den religiösen Interessenvertretungen und dem Proporzdenken zwischen ihnen – einen Staat, in dem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz unabhängig von ihrer Religion, Herkunft oder politischen Zugehörigkeit. Wir wollen einen demokratischen Staat, einen Rechtsstaat, einen Staat der sozialen Gerechtigkeit und schließlich einen Staat, der fähig ist, sich selbst, sein Territorium und seine Bürger zu verteidigen. Wir wollen keinen religiösen so genannten „Gottes-staat“.

Der Libanon ist eine vielfältige Gesellschaft. Es gibt Christen und Moslems. Beide Grundbekenntnisse differenzieren sich in unterschiedlichste Richtungen. Wir zählen insgesamt 18 Bekenntnisse im Libanon. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft. Wir brauchen einen Libanon, der Modell sein kann für unsere islamische Welt. Wir wollen beweisen, dass es möglich ist, trotz unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse solidarisch zusammen zu leben.

Frage: Welche Beziehungen unterhalten Sie mit der Linken?

Ali Fayad: Die Marxisten hier im Libanon sind unsere Verbündeten. Die KP Libanons ist unsere Verbündete. Die Linke generell ist unsere Verbündete. Wir haben unterschiedliche Ideologien, wir haben unsere Überzeugungen und sie ihre, da gibt es Differenzen, aber heute ist das in unserem Land eine völlig unwesentliche Frage. Für uns gilt heute die prinzipielle Frage: Bist Du für oder gegen die Amerikaner? Bist Du an der Seite der Unterdrückten dieser Erde oder nicht? Bekämpfst Du die „neue Weltordnung“ oder nicht. Willst Du die fortschreitende Spaltung der Welt in Reich und Arm bekämpfen oder nicht?

Wir glauben nicht, dass die heutigen Bruchlinien solche zwischen unseren Ideologien oder Religionen sind oder dass der Widerspruch zwischen Christen und Moslems oder zwischen Marxisten und Gläubigen liegt. Was heute wichtig ist, ist zu wissen,

wer für und wer gegen die us-amerikanische Weltherrschaft ist,

wer für oder wer gegen den Widerstand ist,

wer für oder wer gegen die Okkupation ist,

wer gegen die ungezügelte Globalisierung ist und wer sie billigt.

Mit aller Wertschätzung sage ich: Der Widerstand der Kommunisten ist auf der gleichen Seite wie wir, und die Moslems, die nicht am Widerstand teilnehmen so wie diejenigen, die mit den Weltmächten paktieren, sind sehr weit von uns entfernt.

Wir haben eine spezifisch schiitische Identität – bei einer gleichzeitig sozialen Ausrichtung. Diese Ausrichtung hat religiöse Wurzeln und ist mit der Geschichte des Landes verbunden. Aber unser Widerstand ist nicht religiös, er ist national.

Unser politisches Projekt ist ein nationalpatriotisches Projekt par excellence. Wir machen keinen Unterschied zwischen den Religionen, auch nicht darin, ob Du Sunnit oder Schiit bist.

Was die Ökonomie angeht, so lehnen wir die Politik der Privatisierung ab, wir wollen weitere Preissteigerungen vermeiden. Wir wollen eine einflussreiche Rolle des Staates in der Ökonomie des Libanon. Ich betone nochmals, dass unser politisches und ökonomisches Programm ein anti-neoliberales Programm ist.

Ich habe das Programm der kommunistischen Partei gelesen und festgestellt, dass es keine großen Differenzen zwischen ihren politischen Vorstellungen und den unsrigen gibt. Ich kann unser politisches Programm nicht ein marxistisches oder sozialistisches Programm nennen. Nach westlichen Kriterien könnte man unsere Vorstellungen über die Veränderung der Welt wohl eher sozialdemokratisch nennen, wir sind für eine freie kapitalistische Gesellschaft, aber mit einer starken Rolle des Staates; oder anders gesagt: für ein Gleichgewicht von Staat und Markt. Wir weisen alle Bestrebungen der Privatisierung und der Verringerung des Staatssektors zurück.

Frage: Wie sind die Beziehungen zwischen Hezbollah und dem Iran?

Ali Fayad: Zunächst einmal: wir erhalten keine Direktiven von irgendeiner Partei außerhalb des Libanon. Aber das hindert uns nicht daran, mit dem Iran verbündet zu sein. Der Iran steht an der Spitze der Länder, die Widerstand leisten gegen die „neue Weltordnung“ und den Neokolonialismus. Der Iran unterstützt das libanesische Volk seit 25 Jahren. Als die israelische Armee unsere Häuser, unsere Fabriken, unser Land zerstörte, was es der Iran, der uns beim Wiederaufbau half. Wenn man heute in den Südlibanon reist, kann man sehen, wie der Irak bei der Wiederherstellung der Straßen und Brücken und bei der Wiederinbetriebnahme der Krankenhäuser hilft.

Sehen Sie sich die Vereinigten Staaten von Amerika an: sie unterstützen Israel mit allen Arten von Waffen und amerikanischer Militärhilfe im Wert von mehr als drei Milliarden US-Dollar. Wieso soll es negativ sein, wenn uns der Iran in den Bereichen Soziales, Erziehung und Bildung, Wirtschaft und Entwicklung unterstützt? Der Iran ist ein Freund des Libanon, ein Freund des gesamten libanesischen Volkes und ein Freund der Hezbollah.

Aber das widerspricht nicht der Tatsache, dass wir eine unabhängige Partei sind. Über unsere Politik entscheiden wir selbst. Die Maßgabe unserer Entscheidungen sind die nationalen Interessen der Befreiung des Libanon.

Frage: Welche Rolle spielt der Sender „Al Manar“ für Ihren Kampf?

Ali Fayad: Der Sender „Al Manar“ ist eine zivile Institution zur Unterstützung des Widerstandes. In unserer Gesellschaft darf man die Bedeutung der Medien nie unterschätzen. „Al Manar“ ist in den vergangenen Jahren zum zweiten arabischen Sender geworden. „Al Manar“ unterstützt unseren Kampf und spielt eine ursprüngliche und wichtige Rolle dabei, den Widerstand zu verteidigen. Das erklärt auch, warum die USA „Al Manar“ für eine „terroristische“ Institution halten.

Frage: Wie ist Ihre Position zu Palästina?

Ali Fayad: Ich glaube, dass sowohl die Geographie Palästinas als auch die ökonomischen Möglichkeiten Palästinas es unmöglich machen, eine Stabilität mittels der Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen. Wir glauben, dass es hier einen einheitlichen Staat geben muss, in dem alle leben können: Juden, Moslems und Christen. Und alle Palästinenser – Kinder dieser Region – müssen das Recht haben, in diesen Staat zurückzukehren. Über die Art und politische Ausrichtung dieses Staates müssen sie selbst bestimmen, ebenso über seine Verbündeten, seine Sicherheit und über die Zukunftsperspektiven seiner Bürger. Also: nach unserer Auffassung braucht eine Stabilität in Palästina einen einheitlichen Staat. In dem alle Bürger gleich sind vor dem Recht, unabhängig davon, ob sie Juden, Moslems oder Christen sind.

Frage: Gibt es eine besondere Verbindung zwischen dem Präsidenten Venezuelas, Hugo Chavez, und dem Generalsekretär der Hezbollah, Hassan Nasrallah?

Ali Fayad: Als Hassan Nasrallah vor mehr als einer Million Menschen von Hugo Chavez sprach, bezeichnete er den Präsidenten Venezuelas als „Bruder Chavez“. Wir wissen, dass dieser Mann uns sehr nahe steht, dass er ein Weggenosse ist. Es ist so, als gäbe es zwischen ihm und uns schon eine lange Geschichte gemeinsamer Kämpfe, es ist so, als wäre sein Gewehr das unsere. Wir lieben ihn, wir respektieren ihn und wir sind davon überzeugt, dass wir unsere Beziehungen zu einer Qualität entwickeln können, die ein Modell sein kann für die Beziehungen zwischen der antiimperialistischen Linken und dem politischen Islam.

Frage: Zwischen General Aoun, der dem christlichen Block angehört, und Hezbollah gibt es eine Allianz. Wie beurteilen sie diese?

Ali Fayad: Zwischen uns und General Aoun gibt es die Allianz, die die Stabilität des zukünftigen Libanon garantieren kann. Es handelt sich nämlich um die Allianz der beiden populärsten politischen Kräfte des Libanon. Nach unserer Auffassung sind unsere beiden Bewegungen in der Lage, einen wirklichen Rechtsstaat für den Libanon zu schaffen. Ja, wir glauben, dass General Aoun der für das künftige Präsidentenamt geeignete politische Führer des Libanon ist. Er ist ein Mann, der für wahrhaftige Unabhängigkeit kämpft und für eine wahrhaftige Souveränität, er ist in der Lage, eine ganz wichtige Rolle im Dienst für alle Libanesen zu spielen.

                                               Die Fragen stellten Chris den Hond, Mireille Court, Nicolas Qualander.

                       Veröffentlicht in französischer Sprache bei „éditions démocrite“ im September 2007.

                                                                   Übersetzung aus dem Französischen: Redaktion „offen-siv“.