Tibor Zenker
Revolutionäre Strategie erfordert konkrete Analyse
Diskussionsbeitrag von Tibor Zenker auf dem Symposium zur kommunistischen Programmatik
am 2. April 2005 in Wien.
Es ist bereits seit Monaten, lange vor dem heutigen Symposium, über den vorgelegten Programmentwurf der KPÖ diskutiert worden. (…)
Zunächst, und ich möchte das wirklich nur ganz kurz ansprechen, wissen wir alle aber eines: nämlich um den Unterschied zwischen diesem Programmentwurf und dem in Linz im Dezember 2004 mehr oder minder beschlossenen Papier, der sog. “Programmatischen Plattform der KPÖ”. Diese Plattform hat – ich hab’s nachgeprüft mit Hilfe Microsofts – über 6.000 Worte oder eher Wörter – ist also gar nicht so kurz – und genau zwei dieser 6.000 Wörter lauten “Imperialismus”, eines lautet “antiimperialistisch”. Dass dies keine seriöse Betrachtung des gegenwärtigen Kapitalismus mit transzendenten Perspektiven sein kann, liegt auf der Hand. (…)
Ich möchte mich auf einen allgemeinen Hinweis beschränken, der sich bei der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus aufzwingt. Was ich bei einer marxistischen Analyse des Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon einfordern muss, das ist eine konkrete Stamokap-Analyse und in weiterer Folge – noch wesentlicher – die gesamte Stamokap-Theorie mit allen strategischen Implikationen für die revolutionäre Bewegung. Ich halte die Stamokap-Theorie für nicht nur die wesentlichste, sondern eben auch und vor allem für eine notwendige und unverzichtbare Ergänzung, Vertiefung und Präzisierung der Leninschen Imperialismustheorie, die sich im 1. Abschnitt des Programms ja durchaus widerspiegelt. Nehme ich die grundlegenden Ergebnisse der aktuellen Stamokap-Analyse nicht zur Kenntnis, so ist wahrscheinlich, dass ich die ökonomisch-politischen Kernpunkte einer marxistischen Kapitalismusbetrachtung verfehle.
Der staatsmonopolistische Kapitalismus selbst findet sich im Programmentwurf zwar viermal oder fünfmal als Begriff – das habe ich nicht exakt überprüft -, doch er wird nicht genauer bestimmt, geschweige denn als Erklärungsansatz operationalisiert. Und so was wie eine Stamokap-Theoriediskussion – müsste man angesichts des ersten Abschnitts fast annehmen – gab’s im Laufe des 20. Jahrhunderts offenbar entweder gar nicht – oder dieser Theorieansatz war nach allgemeiner Ansicht ein Irrweg. Beides entspricht freilich nicht der Wahrheit. Warum aber ist es wichtig, die Stamokap-Theorie gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu vernachlässigen? Meiner Meinung nach sprechen mindestens die folgenden drei Punkte für die Relevanz der Stamokap-Theorie als unabdingbares Fundament und Instrument des handlungsorientierten revolutionären Marxismus.
1. Wir sind heute permanent gezwungen, Lenins Imperialismustheorie zu verteidigen. Nicht nur gegen offen antimarxistische Ideologien wie die antinationale – über die wir hier aber wirklich nicht weiter sprechen müssen – sondern auch gegen den Revisionismus innerhalb der kommunistischen Bewegung, gegen das Eindringen “neuer”, z.T. postmodern inspirierter angeblicher Theorien zum Imperialismus oder “Imperium”, die schon bei Kautsky vor 90 Jahren nicht besonders originell waren, dafür aber in der so genannten “globalisierungskritischen Bewegung” bisweilen Fuß fassen. – In Lenins Imperialismusdefinition sind bekanntlich fünf Charaktermerkmale des gegenwärtigen Monopolkapitalismus angeführt. Wir verweisen heute darauf – auch im Programmentwurf – dass dieses damit skizzierte aggressive und repressive Wesen des Imperialismus schon seit den frühen 1980er Jahren, vor allem aber seit 1989/90 wieder vermehrt offensichtlich wird. Der heutige Kapitalismus, wo Globalisierungstheoretikerinnen und -theoretiker erstaunt entdecken, dass nicht der Papst, sondern Galilei recht hatte, wo der Neoliberalismus begrifflich sein disziplinierendes und regulierendes Gegenteil behübscht, da können wir sehen, dass Lenins Erkenntnisse auf die Spitze getrieben abermals verifiziert werden. Die vollständige Imperialismusdefinition, so Lenin, ist aber mehr: der Imperialismus ist nicht nur das höchste, sondern daher auch das letzte Stadium des Kapitalismus; er ist nicht nur monopolistischer, er ist auch parasitärer, in Fäulnis begriffener und sterbender Kapitalismus. Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Sprach’s 1916/17. Wir müssen uns die Frage gefallen lassen, nach einem 90 Jahre zurückliegenden Vorabend, wo das Morgenrot bleibt und warum die Nacht eigentlich so lange dauert. Da ist nicht Otto Bauer schuld, nicht Friedrich Ebert, nicht Chruschtschow und Gorbatschow, nicht Stalin, Kreisky oder Walter Baier. Auch nicht der Trotzkismus. – Die Erhaltungs-, Erneuerungs- und Erweiterungsfähigkeit des Imperialismus politisch-ökonomisch, strukturell kapitalistisch erklären, bedeutet, den Eintritt des Imperialismus in seine staatsmonopolistische Phase zu betrachten – ab dem 1. Weltkrieg, mit dem vorläufigen Abschluss nach dem 2. Weltkrieg, anhand gegenwärtiger Bedingungen, Beziehungen und dem Verwachsen zwischen Staat und Monopolkapital. Schlussendlich ist es die Stamokap-Theorie, die uns sagt, nicht nur wo wir stehen, sondern auch warum und wodurch. Wir haben nicht nur ein imperialistisches Weltsystem, wir haben eine staatsmonopolistische Systematik auf struktureller und personeller, programmatischer und prozessualer Ebene – und der Output ergibt sich folgerichtig. Damit haben wir nicht nur die Beschreibung, dass der angebliche “Neoliberalismus” und die “Globalisierung” den Imperialismus nicht verlassen und verlassen können – sondern wir wissen auch, warum das so ist. Dieses “warum” bringt mich zum zweiten Punkt.
2. Im Programm steht richtig: die Menschen können nicht messianisch beglückt werden, denn die Überwindung des Kapitalismus wird ja nicht von oben “herbeibewusstseint oder -gemacht”. Die Menschen müssen mit konkreten Bedürfnissen und Sorgen für Hintergründe sensibilisiert und dann mobilisiert werden, indem Individualinteressen und spezifische Gruppeninteressen in Kollektivinteressen münden. Kollektivinteressen werden sichtbar, wenn ich über das bloße Postulat hinauskomme, dass hier Konzerne gegen ArbeitnehmerInnen, und bürgerliche Parteien gegen ArbeiterInneninteressen stehen. Dann, wenn ich zeigen kann, wie derartiges zwingend systematisch abläuft. Dann nämlich, wenn ich – und damit sind wir bei Kernbereichen der Stamokap-Analyse – nicht nur zeigen kann, welches Herrschaftssystem, sondern auch welche Herrschaftssystematik wirkt. Und wie sie wirkt. Die SPÖ plakatierte im letzten Nationalratswahlkampf zum Beispiel – vermutlich aus dem Bauch heraus oder aufgrund rudimentärer buchhalterischer Fähigkeiten: “Entweder 1 Abfangjäger – oder 20.000 neue Kindergartenplätze”. Die Stamokap-Analyse fördert zutage, dass man dies nicht nur plakativ und humanistisch inspiriert gegenüberstellen kann, sondern dass dies wirklich die direkten Alternativen sind, deren Kontext unauflösbar ist. Deshalb ist das Aufzeigen der staatsmonopolistischen Herrschaftsweise unsere Chance, die Menschen nicht nur dort abzuholen, wo sie stehen, sondern ihnen auch zu zeigen, warum sie dort stehen; und warum sie zwingend dort stehen bleiben werden, wenn sie sich nicht selbst bewegen.
3. Eine konkrete Kapitalismusanalyse und eine Kapitalismuskritik sind ja kein Selbstzweck. Aus jeder Analyse der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung und des Standes des Klassenkampfes folgen unweigerlich Ansichten über Strategie und Taktik der revolutionären ArbeiterInnenbewegung. Der Niederschlag der Stamokap-Theorie, vielmehr der Ausgangspunkt von der Stamokap-Theorie in einem marxistisch-revolutionären Programm ist deshalb unabdingbar, weil hier die Ansatzpunkte antimonopolistischer, antiimperialistischer und sodann allgemein antikapitalistischer Natur offensichtlich sind. Sie werden in späteren Programmteilen ja zum Teil auch inhaltlich richtig skizziert, aber ebenso wenig unoriginell wie unlogisch ist ja, dass sich auf dem Weg zum Sozialismus, quasi in Teil 3 des Programms, die Etappe der antimonopolistischen Demokratie terminologisch nicht wiederfindet, was wohl dem Verzicht auf den Stamokap-Ansatz zuzuschreiben ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auch kurz auf die Kritik des Genossen Pröbsting bezüglich der Etappentheorie eingehen – und auf sein Gleichnis mit dem vegetarischen Tiger, wonach die antimonopolistische Demokratie als Kapitalismus in eingeschränkter Form nicht als Durchgangspunkt zur sozialistischen Revolution dienen kann. Sehr wohl ist es möglich, einen Tiger zum Vegetarier zu machen. Was passiert dann? Der Tiger wird verhungern und sterben. Und die ArbeiterInnenklasse legt sich dann ein neues und wirkliches Schmusekätzchen zu – den Sozialismus. – Natürlich ist es unnötig, über bloße Begriffe um derer selbst willen zu streiten. Ich möchte bezüglich der notwendigen Begrifflichkeit der antimonopolistischen Demokratie jedoch zwei Dinge zu bedenken geben: eine “radikale Demokratisierung”, “radikale oder progressive Demokratie” und einen “neuen Sozialstaat”, wie’s im Programmentwurf vorkommt – das kann ich von Walter Baier und Leo Gabriel auch haben. Dies zum einen. Zum anderen besteht mit derartigem die Gefahr, ökonomische Hauptansatzpunkte aus den Augen zu verlieren; und damit auch nicht mehr zu sehen, wie eine richtige antimonopolistische Bündnispolitik seitens der Kommunistinnen und Kommunisten tatsächlich ausgerichtet sein muss, was der Genosse Bruckner ja schon sehr gut dargelegt hat.
Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass die Stamokap-Theorie nicht im Zentrum einer kommunistischen Kapitalismusanalyse steht, ebenso wie, dass eine direkt darauf aufbauende antimonopolistische Orientierung nicht deutlicher in der revolutionären Strategie herausgearbeitet wird. Ich möchte hier ja niemanden beunruhigen in seinem oder ihrem Weltbild, aber doch darauf verweisen, dass gegenwärtig die größte und wichtigste an der Stamokap-Theorie orientierte marxistische Strömung in Österreich in der Sozialistischen Jugend organisiert ist und arbeitet. Es ist ein – logisches und verdientes – Armutszeugnis für die Baier-Fraktion der KPÖ, hier ideologisch weit abseits, nämlich rechts-hinten abseits der Genossinnen und Genossen der “SJ-Stamokap” zu stehen. Der kommunistische Alternativentwurf zu Herrn Hopfgartners Umwälzungen des Marxismus muss aber auf dem festen Boden des kompletten Marxismus-Leninismus stehen, bevor dieser zum Monopol einer sozialdemokratischen Sekte wird.
Tibor Zenker