Wolfgang Hoss
Stellungnahme zur Abhandlung von Hermann Jacobs“Die Theorie von der sozialistischen Warenproduktion. Ein verhängnisvoller Irrtum”, Sonderheft offen-siv 8/08.
Hermann Jacobs fragt in der Einführung:
“Warum ist die sozialistische Wissenschaft von der Ökonomie des Sozialismus, beginnend und maßgeblich in der Sowjetunion … , nie mit dem Thema Warenproduktion fertig geworden, warum bleibt das ihr ungelöstes Problem bis zuletzt und vor allem bis heute noch immer das ungelöste Problem der kommunistischen Bewegung? Ordnen wir diese Frage noch genauer ein, so hätten wir – die Warenproduktion ist ja die der bürgerlichen Produktionsweise – wohl zu fragen: Warum ist die sozialistische Ökonomie nie klar gekommen mit der Aufhebung der bürgerlichen Produktionsweise, oder auch der Trennung von ihr?” (S.7)
Es ist ohne Zweifel richtig, daß nach Marxens Lehre die hochentwickelte Warenproduktion Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist, und daß nach seiner Theorie für den Übergang zur nächst höheren Stufe der Produktionsorganisation, d.h. für den Übergang zur sozialistischen Produktionsweise, die Warenproduktion aufgehoben werden muß. In dieser Hinsicht finden die Ausführungen von H. Jacobs meine volle Zustimmung. Es ist auch kein Geheimnis, daß die führenden Politiker und Theoretiker des ehemaligen Ostblocks immer wieder behauptet haben, daß sie die Lehre Marxens vertreten würden und seine Vorgaben realisiert hätten. Die Fragen von H. Jacobs im Zitat betreffen also tatsächlich einen wunden Punkt der Sozialismustheorie – und von ihrer Beantwortung ist die strategische Orientierung der Marxisten in der Gegenwart und der Zukunft maßgeblich abhängig.
Aber damit sind diese drängenden Fragen noch lange nicht beantwortet. Jacobs sagt im Schlußwort seiner Abhandlung:
“Nun, Gorbatschow war wohl kein ‘sozialistischer Reformer’, sondern war, am sozialistischen Maß gemessen, ein Konterrevolutionär – und ein großer Teil der Apologeten der Warenproduktion im Sozialismus resp. ‘sozialistischer Marktwirtschaft’ waren es auch”. (S.55).
Es wird im letzten Teil des Zitats indirekt eine weitere fundamental Frage gestellt, die durch die Sozialismustheorie bisher ebenfalls nicht zufriedenstellend beantwortete wurde, nämlich die Frage, welche Rolle der Markt und das Geld in der sozialistischen Wirtschaft spielen sollen bzw. müssen. Die von manchen Theoretikern vertretene Ansicht, daß im Sozialismus nicht nur die Warenproduktion, sondern auch das Geld und der Markt aufgehoben werden müssen, stimmt nicht mit Marxens Ansicht überein, jedenfalls nicht in vollem Umfang. Man kann die erste postkapitalistische Gesellschaftsordnung Sozialismus nennen, im Gegensatz zur nächst höheren ökonomischen und sozialen Ordnung, dem Kommunismus.
Marx forderte nicht die Abschaffung des Geldes im Sozialismus, also in der ersten postkapitalistischen Ordnung, sondern es sollten Geldsurrogate (Arbeitszertifikate) eingeführt werden.
Es finden sich in Marxens Werk auch keine Aussagen, daß der Markt, speziell der Konsumgütermarkt, im Sozialismus abzuschaffen sei.
Nach Marx sollte der Lohn statt in gewöhnlichem Geld in Arbeitszertifikaten gezahlt werden, und die Arbeiter und Angestellten sollten diese Arbeitszertifikate gegen Konsumgüter tauschen und damit ihre Existenzmittel auf dem Markt nach freien eigenen Entscheidungen kaufen. Es ist in Marxens Sozialismustheorie (erste postkapitalistische Ordnung) daher undenkbar den Konsumgütermarkt abzuschaffen. Wo sonst als auf dem Markt (Markthallen, Kaufhäusern, Wochenmärkten usw.) sollten die Arbeiter und Angestellten ihre Konsumgüter kaufen? Am allgemeinen Prinzip des Güterkaufs ändert sich natürlich nichts, wenn das Geld, mit welchem gezahlt wird, seine Form ändert.
Die weltfremde Annahme, der Konsumgütermarkt müsse im Sozialismus abgeschafft werden, findet man in Marxens Werk nicht, er glaubte lediglich, daß es möglich und ökonomisch vorteilhaft sei, den Produktionsmittelmarkt durch eine planmäßige Produktion ähnlich wie in einer einzigen volkswirtschaftlichen Fabrik zu ersetzen. Innerhalb einer Fabrik gibt es den Markt offensichtlich nicht, aber auch “die volkswirtschaftliche Gesamtfabrik” in Marxens Modell muß Konsumgüter entsprechend der Nachfrage auf dem Markt produzieren und den Plan der Produktionsmittelproduktion entsprechend dieser zahlungsfähigen Nachfrage gestalten. Die Sache ist also offenbar bei weitem nicht so einfach, wie es sich die radikalen “Abschaffer” des Marktes und des Geldes vorstellen – diese Spezialisten berufen sich zu unrecht auf Marxens Sozialismustheorie. Die Ausrede, daß nach Marx im Kommunismus, also in der nächst höheren Wirtschaftsordnung nach dem Sozialismus, die Güter ohne Geld nach dem Prinzip jeder nach seinen Bedürfnissen verteilt werden sollen, hilft nichts, denn eine solche Wirtschaftsordnung, die eventuell eine Nichtgeldwirtschaft sein könnte, steht heute und in der nahen Zukunft offen-sichtlich nicht auf der Tagesordnung. Im 21. Jahrhundert droht der Untergang der menschlichen Zivilisation, und es ist daher heute müßig sich den Kopf über die Zeit danach zu zerbrechen, in der es möglicherweise keine Menschen auf der Erde mehr geben wird, wenn nicht rechtzeitig die vorhergehend nötige neue ökonomische Ordnung realisiert wird.
Die sinnige These, daß die Marktordnung mit der kapitalistischen Ordnung identisch sei, hatte zu Marxens Lebzeiten keine Verbreitung gefunden, so daß es für Marx keinen Anlaß gab, der Rolle des Marktes im Sozialismus besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Im Gegensatz zu Marx verfügen wir heute über wertvolle Erfahrungen, die uns der Sozialismusversuch in den ehemaligen Ostblockländern gebracht hat. Dieser Versuch hat unter anderem gezeigt, daß es in einer heutigen großen Volkswirtschaft mit ihrer ungeheueren Komplexität (z.B. in der DDR gab es einen zentralen Artikelkatalog mit etwa 100 Millionen verschiedenen Erzeugnistypen) weder möglich noch zweckmäßig ist, die Produktion und Ver-teilung der Produktionsmittel wie in einer einzigen volkswirtschaftlichen Fabrik zu planen. Es hat sich in der Praxis gezeigt, daß ein solcher Versuch nur zu staatlichen Reglementierungen der Betriebe und ihrer Fachleute und zu übermäßiger Bürokratie führt, und daß damit die volkswirtschaftliche Arbeitsproduktivität im Vergleich zu den privatkapitalistischen Systemen nicht steigt, sondern sinkt.
Wir wissen heute also, daß die Abschaffung des Produktionsmittelmarktes im Maßstab der Volkswirtschaft in der heutigen Zeit nicht zweckmäßig ist – und erst recht nicht im Welt-maßstab. Aber eine Abschaffung des Marktes ist zur Aufhebung der Warenproduktion und für den Übergang zu einer effektiven Volkswirtschaftsplanung auch gar nicht nötig. (vgl. Wolfgang Hoss, “Nachhaltiges Wachstum durch eine neue Produktions- und Verteilungsweise”, http://www.wolfgang-hoss.com/mediapool/43/431891/data/_offensiv-9-nachhaltiges_Wachs-tum.pdf , oder W. Hoss, Stellungnahme zum Beitrag ” Ware geht – Markt bleibt? ” von H. Jacobs, in offen-siv 5/08, S. 67 ff)
Die Märkte wurden in der hochentwickelten Urgesellschaft geboren, sie waren ab diesem Datum Begleiter aller politökonomischen Ordnungen.
Nicht der Markt und das Geld sind Grundlagen der kapitalistischen Ausbeuterordnung, sondern das Kapitalverhältnis – also das Verhältnis zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten. Das Kapitalverhältnis besitzt die wunderbare Wirkung für den Kapitalbesitzer sich Produkte fremder Arbeit unentgeltlich aneignen bzw. Einkommen ohne eigene Arbeit erwerben zu können. Diese Eigenschaft besitzt das Kapital, nicht aber der Markt. Auch heute noch gibt es eine Vielzahl privater Produzenten, die erstens, keine Lohnarbeiter beschäftigen, und die zweitens, Produkte auf dem Markt kaufen und ihre Produkte verkaufen, und in solchen warenproduzierenden Systemen ist Ausbeutung fremder Arbeit im allgemeinen bzw. Ausbeutung von Lohnarbeitern natürlich nicht möglich.
Den Markt gab es, wie gesagt, bereits in der hochentwickelten Urgesellschaft, z.B. wurden Produkte zwischen urgesellschaftlichen Hirten- und Ackerbaustämmen ausgetauscht, Produktenaustausch gab es also auch auf Basis des Gemeineigentums an den Produk-tionsmitteln. Und kein Mitglied der Produkte tauschenden Stämme oder Sippen hat andere Mitglieder ausgebeutet. Für einen funktionierenden Markt sind also weder Privateigentum noch kapitalistisches Eigentum an den Produktionsmitteln notwendige Voraussetzungen. Die historisch kurzsichtige Gleichsetzung “Privateigentum an den Produktionsmitteln gleich Marktwirtschaft gleich Kapitalismus” ist nur deshalb gemeinhin anerkannt worden, weil sie ständig in den Massenmedien wiederholt wurde.
Wolfgang Hoss,
Berlin