Vera Butler: Hegemonialmacht Amerika. Antwort auf Kurt Gossweilers Anmerkungen zu meinem Essay „Hegemonismus”

Vera Butler:
Hegemonialmacht Amerika. Antwort auf Kurt Gossweilers Anmerkungen zu meinem Essay „Hegemonismus”

Offensiv Januar-Feburar 2002, S. 36-38

Lieber Kurt, ich bin „offen-siv” dankbar, dass dort die Diskussion über die Imperialismustheorie geführt wird und besonders dafür, dass Deine Anmerkungen zu meinem Essay über den „Hegemonismus” gebracht wurden. Ich richte mich in meiner Antwort nach Deinen Punkten und Fragen, wie sie in „offen-siv” erschienen sind. Ich hatte meine deutsche Übersetzung des englischen Originals etwas gekürzt, und eine Reihe der von Dir angeschnittenen Fragen hatte ich dort behandelt.

1. Der Hegemonismus als weiteres Entwicklungsstadium des Imperialismus

Die Anfälligkeit des hegemonistischen Machtanspruchs für Herausforderungen ist selbst-verständlich. Die Dauerhaftigkeit aller Machpositionen und –ansprüche ist mit einer dialektischen Konzeption der Geschichte unvereinbar. Es handelt sich um Entwicklungsstadien des kapitalistischen Systems.

Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ist eine unumstößliche Tatsache, die ja gerade von der Hegemonialmacht zu ihren Gunsten ausgenutzt wird (siehe Osteuropa, Argentinien, Venezuela, Kongo usw.) Ein eurozentristisches Weltbild (manchmal durch Hinweise auf Japan erweitert) steht – wie mir scheint – einer realistischen Einschätzung der Rolle der Hegemonialmacht und ihrer Methoden im Wege.

Die europäischen Mächte WAREN EINMAL die Träger des weltweiten Kolonialismus und Imperialismus ebenso wie das Osmanische Reich, das bis Ende des Ersten Weltkrieges Ländereien von Ägypten bis zum Persischen Golf (inkl. Irak) mit einschloss. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerriss der koloniale Nexus: „Britisch”-Indien, „Französisch”-Indochina, „Holländisch”-Indonesien, der „belgische” Kongo konnten dem Druck der nationalen Befreiungsbewegungen nicht mehr standhalten. Zwei Weltkriege hatten die imperialistischen Länder ruiniert, so dass sie ihre Machtansprüche in der „Dritten Welt” nicht mehr aufrecht erhalten konnten. Dasselbe galt für Japan (Mandschurei, Südsachalin, Korea).

Die Methode des Hegemonismus ist heute ganz anders. Das Ziel ist nicht mehr Hoheitsanspruch oder/ Territorialbesitz wie zur Zeit des Imperialismus, sondern die wirtschaftliche, politische und militärische Eingliederung der verschiedenen „selbständigen” Nationalstaaten in das globale kapitalistische System. Dadurch steht der Zugang zu Investitionsobjekten wie z.B. Energiequellen oder Rohmaterialien nicht nur für die Unternehmer des imperialistischen „Mutterlandes” offen, sondern ebenfalls für die transnational operierenden Korporationen, die mit amerikanischem Kapital arbeiten. Eine globale Kette von Militärbasen der Hegemonialmacht sichert diesen Zugang gegen die früheren imperialistischen Oberherren sowie gegen alle Versuche der nationalen Kräfte, ihre souveräne Kontrolle geltend zu machen. (Die Geschichte Venezuelas, seit 1922 ein führender Ölproduzent, und die Rolle des Rockefeller-Konzerns Standard Oil ist ein Beispiel dieser Hegemonialpolitik.)

Um die Interessen der globalen Oligopolie transnationaler Korporationen zu sichern, wird dafür gesorgt, dass in den heute nominell selbständigen Nationalstaaten „demokratische”, system-freundliche Regierungen an der Macht sind. (Der venezolanische Präsident Gomes , der 1908 mit Hilfe der US Navy die Macht ergriff, hatte bei seinem Tode 1935 einen Privatbesitz von 200 Millionen US$.) Wie mit unfügsamen Objekten umgegangen wird, ist zur Genüge bekannt.

Heute verstehen sich die europäischen Länder, zusammengekoppelt innerhalb der EU, als ein gemeinsames (europäisches) Machtzentrum. Trotzdem spielt die EU eine untergeordnete Rolle im Verhältnis zur Hegemonialmacht Amerika – eine Rolle, die bis heute in der NATO verankert ist. Dass sie dabei ab und zu aufmucken, ist wohl eine Konzession an die öffentliche Meinung, aber kein wirklicher Versuch, ihre eigenen Wege zu gehen. Dazu sind sie viel zu eng mit dem globalen kapitalistischen System verflochten, das von der Hegemonialmacht bestimmt wird – nicht zu reden vom „Kulturhegemonismus”, dessen „Werte” (incl. der Marktgläubigkeit) über die weltweit koordinierten Medien verbreitet werden.

Das europäische Wirtschaftswachstum ist schwach, Arbeitslosigkeit und soziale Konflikte sind im Anstieg, Frankreichs Jean-Marie Le Pen nimmt GEGEN die EU und GEGEN der Euro Stellung – in wessen Interesse? Der Euro, die einzige wirkliche Herausforderung an den US-Dollar – ist Washington schon lange ein Dorn im Auge.

Japan wird sich hüten, als Großmacht aufzutreten (trotz der kleinen militärischen Kontingente im Auslandseinsatz, wie die 700 Mann in Ost-Timor). Japan ist gespickt voll amerikanischer Basen . von Okinawa im Süden, Yokosuka, bis Misawa auf Hokkaido. (Japan ist Amerikas „unversenklicher Flugzeugträger” an der Küste Ostasiens, wie Premierminister Nakasone es formulierte.) Japan ist vor allem an Handel, an Absatzmärkten interessiert – in China und Südostasien und Australien, jetzt, wo der amerikanische Markt schrumpft. Sollte es jedoch der Hegemonialmacht Amerika gelingen, China – die letzte nominell kommunistische Großmacht – zu zerschlagen, würden die Japaner als Alliierte natürlich gern ihren Anteil einheimsen – da winkt die Mandschurei, aber auch ein Teil Nordkoreas, die Kurilen-Inseln, halb (oder ganz) Sachalin, vielleicht Wladiwostok gleich mit, denn Russland kann seine fernöstlichen Territorien nicht mehr verteidigen.

2. Imperialismus heute

Überbleibsel des Imperialismus und Kolonialismus existieren heute noch, aber als Teile des Globalisierungsprozesses, und agieren nicht im nationalen Alleingang. Heute erfüllen die diversen nationalen Bourgeoisien die Rolle einer Comprador-Klasse, die nur von Gnaden des Hegemon Amerika an der Macht bleibt.

Israel ist ein Beispiel des derzeitigen Imperialismus, d.h. eine militärisch überlegene regionale Macht usurpiert neuen Landbesitz, um ihr Hoheitsgebiet zu erweitern (die Westbank wird als „Judäa und Samaria” zu Groß-Israel gerechnet). Trotzdem konnte Israel ohne massive Geld- und Rüstungsunterstützung seitens des Hegemon Amerika überhaupt keine Annexionskriege führen.

Die NATO-Aktion in Jugoslawien oder die Kriege im Irak und in Afghanistan dagegen zielen nicht auf territoriale Expansion sondern auf die Sicherung geostrategischer Positionen und Zugang zu Öl- und Naturgas-Reserven, besonders in Zentralasien, wo der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Machtvakuum hinterlassen hat. Amerikanische Einheiten und einige britische, französische und deutsche NATO-Hilfstruppen befinden sich heute in Afghanistan, Kasachstan und Kirgisien.

3. Englands Hegemonialstellung

Lenin unterstreicht, wie Deutschland und Amerika die englische Machtposition auf den Weltmärkten schon VOR dem Ersten Weltkrieg überholten. In meinem englischen Original-Essay führe ich zusätzlich vergleichende Statistika aus den dreißiger und sechziger Jahren an (Ref. Harry Magdoff), die diesen Prozess bestätigen:

Lenins critique was to prove far-sighted. Between 1913 and 1967 the United States had overtaken his main competitors.

SHARE OF EXPORTS IN MANUFACTURED GOODS (in %)

Country 1913 1929 1937 1950 1967

United States 13,0 20,4 19,2 26,6 20,6

United Kingdom 30,2 22,4 20,9 24,6 11,9

Germany 26,6 20,5 21,8 7,0 (BRD) 19,7 (BRD)

France 12,1 10,9 5,8 9,6 8,5

4. Am Exempel Englands wird es deutlich, dass Imperialismus – wie auch Hegemonismus – nicht von Dauer sind, dass es sich im Stadien in der Entwicklung internationaler Beziehungen handelt, die von den dialektischen Wechselwirklungen verschiedener Machtfaktoren beeinflusst werden. Zu diesem Zeitpunkt hält die Hegemonialmacht Amerika die militärische, politischen und wirtschaftlichen Haupttrümpfe in der Hand. Allerdings deuten die Anzeichen des inneren Zerfalls unter dem Druck wachsender sozialer Widersprüche auf den unvermeidlichen Zusammenbruch des parasitären Systems.

5. Krisenloser Kapitalismus

Diese Theorie beruht auf einer Missinterpretation des Wesens des Kapitalismus. Der zentrale Begriff der „Krisenlosigkeit” ist Equilibrum, d.h. ein Gleichgewicht zwischen Einkommen (Löhnen) und Preisen. Wenn Preise durch Manipulationen hochgetrieben werden und Löhne statisch bleiben oder künstlich gesenkt werden, entsteht eine Diskrepanz zwischen Produktionsfähigkeit und Zahlungsfähigkeit oder Nachfrage bei einem gewissen Preisniveau (effective demand). Überproduktion hängt nicht unbedingt nur von schrumpfender absoluter Nachfrage ab, sondern ebenfalls von Zahlungsunfähigkeit bei niedrigen Löhnen im Vergleich zu einem gewissen Preisniveau. Die Autoindustrie ist ein gutes Beispiel. Z. Zt. Sieht man alle Anzeichen der Überproduktion in dieser Industriebranche. Sollten aber die Preise für einen 4-Zylinder-Wagen um die Hälfte gesenkt werden, gäbe es weltweit eine enorme Nachfrage: – erstens hätten viele Familien gern einen Zweitwagen, wenn sie es sich erlauben könnten (jedenfalls in Australien), zweitens gäbe es Millionen Menschen in den fortgeschritteneren Entwicklungsländern, die sich bei niedrigen Preisen gern einen Wagen anschaffen würden. Das Problem ist eine weltweite Preisabsprache innerhalb der Autoindustrie, die lieber die Kaufkraft künstlich durch Kredite ankurbelt (wobei die Kreditanstalten auch wieder verdienen), als die Preise senkt. Die Vorstellung vom „freien Markt” wurde bereits 1776 von Adam Smith als unrealistisch verworfen. (Sie ist heute in Russland wieder auferstanden.)

6. Neue Wege des Imperialismus?

Ich stimme mit allen der angeführten Punkte überein, ebenso, wie Lenins Kritik des Imperialismus als Stadium der kapitalistischen Fäulnis von mir nicht in Frage gestellt wird. NATÜRLICH waren die Anzeichen der kapitalistischen Krise schon zu Lenins Zeit klar erkennbar – ja, sie gaben bereits Mitte des 19. Jahrhunderts (1848) Anlass zur Abfassung des „Manifests” und wurden später von Marx im „Kapital” analysiert. Heute sehen wir die weitere Fortentwicklung.

Ich argumentiere, dass seit Ende des Zweiten Weltkrieges, der die Verarmung der imperialistischen Länder mit sich brachte, der Imperialismus als Ausdruck eines feudalistischen Hoheitsstrebens durch den globalen, bourgeois-demokratischen Herrschaftsanspruch des Finanzkapitals mit Zuhilfenahme des amerikanischen Wirtschafts- und Militärpotentials verdrängt wurde. Daher halte ich den Hegemonismus für ein gefährlicheres Entwicklungsstadium des Imperialismus. Und gerade weil das kapitalistische System sich überhoben hat, zu unmäßig in seinen Machtansprüchen ist, erzeugen hegemonistische Bestrebungen Konflikte in allen Teilen der Welt, die nur zeitweilig und durch brutale Gewaltanwendung unter Kontrolle gehalten werden können. So schafft der Hegemonismus die Vorbedingungen für den Zusammenbruch des spekulativen, verlogenen und ausbeuterischen Systems – wie Lenin es voraussah.

Ich hoffe, dass diese Diskussion dazu beitragen wird, den Blick auf die heutige Hauptgefahr für den Weltfrieden und für die Entwicklung der schöpferischen Kräfte der Menschheit zu lenken – die Politik der Hegemonialmacht Amerika. Vera Butler, Melbourne