Was war der 17. Juni 1953?

Dieter Hainke:
Was war der 17. Juni 1953?

Demnächst steht wieder ein Datum an, das von den in diesem Staate Herrschenden sicher wieder dazu genutzt wird, das abgedroschene Argument von einem sogenannten Arbeiteraufstand am 17. Juni  1953 in der DDR zu wiederholen. Nun war das allerdings kein Arbeiteraufstand son-dern ein Streik, an dessen Spitze sich konterrevolutionäre Kräfte setzten, die ihn in einen konter-revolutionären Umsturz umwandeln wollten. Ein Arbeiteraufstand macht nur Sinn, wenn er gegen jene gerichtet ist, die den Arbeiter ausbeuten, gegen die Kapitalisten. Wenn gerade die Kapitalisten den 17. Juni 1953 so groß als historisches Ereignis feiern und seinen Misserfolg so sehr bedauern, so zeigt das unmissverständlich, wessen Interessen damit verbunden waren. Nur wer die damaligen Ereignisse im Zusammenhang mit der damaligen weltpolitischen Lage sieht, kann diese Ereignisse richtig verstehen.

Nun ist es unstrittig, dass am 17. Juni 1953 Werktätige gestreikt haben, zwar begrenzt auf  industrielle Zentren, aber doch in einer nicht als Bagatelle abzutuenden Zahl. Die meisten von ihnen waren nicht politisch motiviert oder gar organisiert, sondern einfach wegen der schlechten Lebenslage frustriert. Ursache und Wirkung waren nicht immer allen richtig bewusst.

Nach dem Krieg gab es in Deutschland mehr Trümmer als Maschinen. Während die Ostzone und später die DDR allein die Reparationen für ganz Deutschland an die SU zahlte, über die die Kriegsfurie über tausende von Kilometern einmal hin und einmal zurück hinwegfegte, was ohnehin nicht die gewaltigen materiellen Verluste der SU ausgleichen konnte, verzichteten die westlichen Alliierten weitgehend auf Reparationszahlungen und verhinderten Zahlungen an die SU. In begrenztem Maße gab es Forderungen Frankreichs, insbesondere in Form von Kohlelieferungen.

Das Kapital unter Hegemonie der USA dachte weit voraus. In dem enorm gewachsenen Prestigegewinn der SU bei den Völkern der Welt und ihrem vergrößerten territorialen Einfluss-bereich sah das internationale Kapital eine ernste Gefahr. Es wollte verhindern, dass der Einfluß der SU weiter wächst und den gestiegenen Einfluß zurückdrängen. Der kalte Krieg war in vollem Gange, das „roll back“ Zielstellung. Der Antikommunismus war die ideologische Fahne, die diesem Prozess vorangetragen wurde.

Die Klasse der Kapitalisten in Deutschland war durch den Sieg der Antihitlerkoalition über den Faschismus in Deutschland, der zur damaligen Zeit höchsten Form der Konzentration des Kapitals,  arg geschwächt und auf dem Territorium der DDR nahezu ohne Einfluß.

Die Sowjetunion hatte die größte Last bei der Zerschlagung des Faschismus getragen und auch die größten Opfer an Menschen und Material gebracht, aber der eigentliche Gewinner dieses Krieges waren die USA. Ohne Verluste auf dem eigenen Territorium erleiden zu müssen, haben die amerikanischen Konzerne riesige Gewinne gemacht.

Wie waren Kräfteverhältnis und Interessenlage am Ende des zweiten Weltkrieges?

Deutschland war militärisch besiegt und von fremden Truppen besetzt und nicht handlungsfähig. Es war Verhandlungsgegenstand der Siegermächte. Die Siegermächte allerdings hatten sehr unterschiedliche Interessen. Die Hoffnungen der französischen Bourgeoisie, den Erzfeind Deutschland endgültig im Kampf um die Vormachtstellung in Europa niedergerungen zu haben, scheiterten an den Interessen der USA. England lag zu sehr am Rand und konnte auch weder militärisch noch ökonomisch mit den USA mithalten. Es diente sich trotz aller ökonomischen Konkurrenz als Juniorpartner der USA an, welche Rolle es noch heute ausübt. Die drei imperialistischen Siegermächte einigte im Prinzip nur der Antikommunismus.

Lagen die geopolitischen Interessen der USA bis zum zweiten Weltkrieg mehr im pazifischen Raum, und natürlich auf dem amerikanischen Kontinent, so richteten sie jetzt ihre Haupt-aufmerksamkeit auf Europa, als Voraussetzung zur endgültigen Durchsetzung ihrer Weltherr-schaftsansprüche. Dazu brauchten sie einen zuverlässigen Stützpunkt in Europa. Das konnten weder Frankreich noch England sein, denn sie standen im wirtschaftlichen und damit auch politischen Konkurrenzkampf mit den USA. Deutschland, wenn auch nur der westliche Teil, erwies sich als besser geeignet. Territoriell direkt an das sozialistische Lager angrenzend, mit einer zahlreichen Bevölkerung, mit großer wirtschaftlicher Tradition, vom Antikommunismus noch weitgehend gegen die „Russen“ ideologisch ausgerichtet, lag es politisch am Boden und war für jede Chance dankbar, sich wieder etablieren zu können. Nur unter Berücksichtigung dieser strategischen Konzeption der USA ist die Nachkriegsentwicklung der BRD zu verstehen. Im Nürnberger Prozess wurden vor allem die verbrauchten Militärs und Politiker verurteilt. Die Wirtschaft wurde weitgehend geschont.

Als nächstes wurde in den westlichen Besatzungszonen eine sogenannte Entnazifizie-rungskampagne gestartet. Fast alle Nazis erhielten eine Bescheinigung, populär geworden als Persilschein, dass sie vom Nazisystem gezwungen waren mitzumachen, bzw. dass sie sein ver-brecherisches Wesen nicht erkannt hätten. Dagegen wurden von der Bevölkerung spontan gewählte Kommunisten und andere fortschrittliche Personen durch die Besatzatzungsmächte aus ihren Ämtern entfernt, bzw. gar nicht erst zugelassen.

Der nächste Schritt war die Umsetzung des Marshallplans. Westdeutschland sollte der noch hungernden, schwer an den Folgen des Krieges leidenden Bevölkerung  des Ostens als Schau-fenster überlegener westlicher (gemeint kapitalistischer) Lebensart vorgeführt werden. Nicht mehr benötigte Staatsreserven, insbesondere der amerikanischen Armee wurden als humanitäre Hilfe in die Westzonen gepumpt. Parallel wurde die Bevölkerung der USA zu Spendenaktionen aufgerufen, die in Form von Care-Paketen nach Deutschland geschickt wurden. Ähnliches war der SU nicht möglich. Sie hungerte selbst.

Der nächste Schritt zur Integration Westdeutschlands in die Pläne der USA war die Währungsreform. Sie war die Vorbereitung der endgültigen Teilung Deutschlands durch die Ausrufung der BRD. Adenauer tat jenen berühmten Spruch: Lieber des halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb. All das erfolgte mit klarer Stoßrichtung gegen die SU und das sich formierende sozialistische Lager.

Die deutschen Kapitalisten wussten genau, dass sie nur als treue Bundesgenossen der USA eine neue Chance hatten. Die Bildung der BRD hatte zur Folge, dass sich auch im Osten ein Staat herausbildete, die DDR. Beide Staaten galten pro forma als souverän, konnten aber in Wirklichkeit keine Politik betreiben, die die Interessen ihrer Schöpfungspaten gestört hätte. Die SU verfolgte in ihrer Deutschlandpolitik das Ziel, Deutschland zu neutralisieren und schlug im März 1952 vor, einen Friedensvertrag abzuschließen, der Deutschland zur Neutralität ver-pflichtet hätte. In diesem Zusammenhang sollten auch alle Besatzungsmächte Deutschland ver-lassen. Die SU, die noch stark an der Auszehrung durch den Krieg litt, wollte Ruhe an ihrer Westflanke und sicher auch Zeit gewinnen, um sich zu erholen. Die Westmächte und Adenauer lehnten diese Vorschläge ab und trieben die Konfrontation gegenüber der SU voran. Bereits 1949 wurde die NATO gegründet, ein militärisches Bündnis der Westmächte mit Stoßrichtung gegen die SU. Im Mai 1952 kam es zur Bildung der „Europäischen Verteidigunsgemeinschaft“ unter Einbeziehung Deutschlands in das westliche Militärbündnis. Und im September erklärte der Präsident der USA, Truman, dass die Politik der Verhinderung der Ausbreitung des Sozialismus durch eine Politik der „Befreiung“ der sozialistischen Länder abzulösen ist. Wie sehr die Nachkriegskonzeption der USA aufging, zeigt sich in der Tatsache, dass Deutschland heute eine modern ausgerüstete Militärmacht ist und an der Seite der USA in fremden Ländern Krieg führt.

Mit der Bildung der BRD hatte eine intensive Restauration des deutschen Kapitalismus be-gonnen. Kredite halfen der Wirtschaft der BRD zu schneller Produktivitätssteigerung. Für die DDR gab es keine Hoffnung auf nennenswerte Hilfe durch die SU, nicht weil diese nicht auch hätte helfen wollen, schon aus Prestigegründen, sondern weil sie selbst noch an nahezu allem Mangel hatte und sich der Angriffsdrohung der USA (siehe Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki) gegenübergestellt sah. Die DDR stand vor einer Grundsatzentscheidung. Entweder alle bisher bereits durchgeführten demokratischen Veränderungen, wie Bodenreform, Schaffung eines volkseigenen Sektors in der Industrie, demokratische Schulreform mit antifaschistischer Ausrichtung, große Rechte für die Gewerkschaften und andere, aufgeben und zurück zum Kapitalismus, oder vorwärts in Richtung Sozialismus. Ersteres war eine undiskutable Variante, letzteres eine gewaltige Herausforderung. Größtes Problem war das Fehlen einer metallur-gischen Basis auf der Grundlage von Kohle (Steinkohle!) und Erz. Dieser Nachteil konnte nie kompensiert werden und war in all der Zeit der Existenz der DDR der Angriffspunkt des Westens, um Bedingungen zu stellen. Die SU konnte auch nicht helfen oder sah ihre eigenen Sorgen für wichtiger an als eine Hilfe für die DDR. So hingen die traditionell im Osten gelegenen Industriezweige, wie Textilindustrie und Werkzeugmaschinenbau, und teilweise chemische Industrie, in der Luft. Während der Westen den allgemeinen Maschinenbau infolge seiner engen Verknüpfung mit dem gesamten westlichen Wirtschaftsraum sehr schnell nachziehen konnte, blieben der DDR solche Zugriffsmöglichkeiten verschlossen, da die Währung der DDR aus gutem Grund nicht frei konvertierbar war. Hätte man sie frei konvertierbar gemacht, hätte der Westen die DDR in kurzer Zeit aufgekauft, wie 1990.

In dieser Situation schlug die SED auf ihrer 2. Parteikonferenz 1952 den beschleunigten Aufbau des Sozialismus vor. Ehemalige Wissenschaftler der DDR streiten darüber, ob diese Ent-scheidung richtig war oder zur damaligen Zeit richtig war. Ich denke, diese Fragestellung ist falsch. Diese Entscheidung war sicher richtig. Es musste vorwärts gehen und nicht rückwärts. Über die Umsetzung kann man sich streiten, wie es immer sehr einfach ist, im Nachhinein viele Gedanken zu äußern.

Und noch ein Fakt von internationaler Bedeutung spielt meiner Meinung nach eine wichtige Rolle. Im März 1953 war Stalin verstorben. Der Westen hoffte, dass mit seinem Ableben ein gewisser Bruch in der Politik der SU eintreten würde. Diese Hoffnung war nicht ganz unberechtigt, wie der in den Jahren unter Chrustschow stattfindende Zickzackkurs in der sowjetischen Innen- und Außenpolitik beweist.

Nun zu den Ereignissen selbst.

Seit Monaten hatte die Regierung der DDR versucht die Bevölkerung zu überzeugen, dass eine schnelle Verbesserung des Lebensstandards nur möglich ist, wenn die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft erhöht wird. Für jeden denkenden Menschen sicher eine Binsenwahrheit. Versuche, durch freiwillige Normerhöhungen eine Massenbewegung in Gang zu bringen, scheiterten.  Dabei waren Leistungssteigerungen durchaus möglich, denn die Normen waren damals recht weich. Ich selbst stand damals noch an der Maschine und kann das beurteilen. Es gab viele Beispiele persönlicher Normerhöhungen. Die Mehrzahl der Werktätigen jedoch verweigerte sich. Ein Problem bestand darin, dass die persönlichen Normerhöhungen dann für alle galten. Das erregte den Unmut derer, die gegen Normerhöhungen waren und führte oft zur Isolierung derer, die die Sache voranbringen wollten.

Noch war das politische Wissen der meisten der Werktätigen sehr unterentwickelt. Der Faschismus hatte die klassenbewussten Kader der Arbeiterklasse erheblich dezimiert, die Über-lebenden in tiefste Illegalität oder ins Ausland getrieben. Noch wirkte die faschistische Ideologie in weiten Kreisen der Bevölkerung nach. Viele sahen die Ursache ihres schlechten Lebens-standards nicht in der verbrecherischen Politik der Nazis sondern in der Einflussnahme der SU. Genau so wenig erkannten sie, dass in Deutschland eine erbitterte Systemauseinandersetzung stattfand. Die gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen in der Wirtschaft (volkseigene Be-triebe) und in der Landwirtschaft (Bodenreform) wurden in ihrer Bedeutung längst nicht von allen begriffen, sondern als eine Gegebenheit hingenommen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren.

Nachdem die Entfaltung einer Massenbewegung nicht die erhofften Ausmaße annahm, ver-suchte die Regierung die an sich richtige Zielstellung einer Leistungssteigerung durch administrative Maßnahmen durchzusetzen und beschloß am 28. Mai 1953 eine durchschnittliche 10%-ige Normerhöhung, was bis zum 30. Juni durchgesetzt sein sollte. Die Normen gaben das fast überall her. Aber es war, wie man heute weiß, keine glückliche Entscheidung. Man hatte in der Regierung den Stand des Bewußtseins der Masse der Werktätigen falsch eingeschätzt. Die allgemeine Unzufriedenheit nahm zu.

Jetzt glaubte das Kapital eine günstige Gelegenheit zu haben, mal schnell einen konter-revolutionären Vorstoß zu wagen. Vermutlich glaubten sie selbst nicht daran, die sozialistische Ordnung in der DDR beseitigen zu könne, denn es war unwahrscheinlich, dass sich die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte teilnahmslos verhalten würden. Trotzdem, oder gerade deswegen schickten sie ihre Provokateure los, um sich an die Spitze der Unzufriedenen zu setzten. Daß gerade Berlin als Zentrum der Provokation gewählt wurde, ist mehr als verständlich. Berlin war eine Agentenhochburg, wie es wohl kaum eine zweite in der Welt gab. Mitten im sozialistischen Territorium gelegen konnte man ungehindert in den Ostsektor der Stadt hinein und darüber hinaus in die gesamte DDR hineinwirken. Wo gab es Gleiches noch einmal in der Welt. Mitten im Gebiet der DDR gelegen gab es einen leistungsstarken Rund-funksender, den RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor). Mit ihm konnte man das gesamte Gebiet der DDR ideologisch bearbeiten.

Das Signal sollten die Bauarbeiter der Stalinallee geben. Am 16. Juni legten einige Brigaden die Arbeit nieder und riefen zum Streik auf. Wer davon ein schlafender Agent war, das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber man muß schon mehr als naiv sein, um nicht zu wissen, dass hier ein ganz großes Spiel getrieben wurde, in dem die Werktätigen nur die Puppen waren, die Fäden aber ganz woanders gezogen wurden. Die USA waren Meister in der ideologischen Diversion der Massen.

Am Vormittag des 16. Juni zogen Bauarbeiter zum Haus der Ministerien, um die Rücknahme der Normerhöhungen zu fordern. Als sie dort ankamen, bestand der Demonstrationszug schon nicht mehr nur aus Arbeitern. Minister Selbmann, selbst einst Arbeiter und 12 Jahre in faschistischen Kerkern und KZ gewesen, wollte sich den Arbeitern stellen und erklären, dass die Regierung den Beschluß über die Normerhöhungen bereits zurückgenommen hat. Das war ungefähr um 12 Uhr. Er wurde niedergeschrieen. Es kam nicht zum Dialog. Neue Losungen tauchten auf. Aus „Fort mit den Normerhöhungen“ wurde „Fort mit der Regierung“. Wir kennen das aus 1989. Aus „Wir sind das Volk“, was den Wunsch nach mehr Mitbestimmung ausdrückte, wurde „Wir sind ein Volk“, was die Annexionsabsichten der BRD gegenüber der DDR ausdrückte. Die Zusammenrottung vor dem Haus der Ministerien löste sich zunächst auf, da es zu keinen Konsequenzen kam.

Nicht viel später  nahm der RIAS seine Berichte über die Unruhen im Osten Berlins auf. Um 19.30 Uhr brachte der RIAS eine Meldung, die angeblich von den Bauarbeitern überbracht worden sei und die stündlich wiederholt wurde. Darin hieß es: „Die Arbeiter haben durch den Streik und ihre Demonstration bewiesen, dass sie in der Lage sind, den Staat zur Bewilligung ihrer berechtigten Forderungen zu veranlassen. Die Arbeiter werden von der Möglichkeit jederzeit wieder Gebrauch machen, wenn die Organe des Staates und der SED nicht unverzüglich folgende Maßnahmen einleiten:

– Auszahlung der Löhne nach den alten Normen schon bei der nächsten Lohnauszahlung.

– Sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten .

– Freie und geheime Wahlen .

– Keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher.“

Insbesondere Punkt 3 war eine offen konterrevolutionäre Forderung.

Ab 23 Uhr brachte der RIAS dann stündlich Sondermeldungen, in denen aufgerufen wurde, dass sich am nächsten Tag, dem 17. Juni, die Arbeiter aller Industriezweige Ost-Berlins früh 7 Uhr am Straußberger Platz versammeln sollten. Der amerikanische Sender als Koordinator der Ereignisse. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen.

Frustriert und von der Naziideolgie noch nicht ganz geheilt, in dem Gefühl es den „Oberen“ mal zu zeigen, schlossen sich viele den Aufrufen an. Über Zahlen wird viel spekuliert. Ich möchte mich nicht daran beteiligen. Wichtiger scheint mir das Wesen der Ereignisse zu sein.

Am Morgen des 17. Juni kam es im Zentrum Berlins zu Zusammenrottungen. Wie viele davon auch aus dem Westen waren, das lässt sich heute schwerlich feststellen. Der Tatbestand selbst aber ist Fakt. Es wurden antisozialistische Losungen gerufen. Sehr schnell kam es zu Aus-schreitungen und Verbrechen. Volkspolizisten, Funktionäre und auch Sowjetsoldaten wurden angegriffen, auch mit Schusswaffen, blutig zusammengeschlagen und auch ermordet, auch in Magdeburg.  Brände wurden gelegt, staatliche Einrichtungen wurden demoliert, da es nicht in jedem Fall gelang, diese zu verteidigen; man war auch gar nicht auf solche Vorgänge vorbereitet. Gegen Mittag schaltete sich der sowjetische Stadtkommandant ein. Panzer rückten aus und machten dem Spuk ein Ende. Der Ausnahmezustand wurde verhängt. Es kam zu Verhaftungen und anschließenden Verurteilungen, -und auch zu standrechtlichen Erschießun-gen. Jedes der auf beiden Seiten zu verzeichnenden Opfer ist zu bedauern, denn die eigentlichen Drahtzieher saßen im Westen, in den Agentenzentralen und im RIAS. Aber so ist das. Ist die Gewalt erst einmal ausgebrochen, und sie ging eindeutig zuerst von den Provokateuren aus, so kommt es zum gegenseitigen Hochschaukeln.

Ich selbst habe den 17. Juni wie folgt erlebt. Ich arbeitete damals in der Motorendreherei des Karl-Liebknecht-Werkes in Magdeburg. Ich hatte Frühschicht. Am 16.Juni war noch alles normal. Mir sind auch keinerlei Diskussionen in Erinnerung (Frühschicht!). Am 17. Juni schien auch alles ganz normal zu sein. Der RIAS hatte ja nur zu Aktionen in Berlin aufgerufen. Von den Ereignissen in Berlin selbst wusste ich kaum etwas. Der RIAS war für mich kein Standardsender. Auf der Straße erzählte man sich, in Berlin wurde gestreikt. Ich ging, wie immer, wie gewohnt, zur Frühschicht. Die Motorendreherei  arbeitete normal.

So um die Frühstückszeit kamen ca 20 bis 30 Mann grölend in unsere Halle, wo mehrere hundert Arbeiter tätig waren und normal arbeiteten, und riefen „aufhören mit arbeiten, wir streiken“, rissen die Transparente runter und bedrohten Kollegen, die ihre Maschinen nicht abstellen wollten, mit Schlägen. (Die Kumpel der Großen Schmiede ließen die Provokateure gar nicht erst in ihre Halle. Sie fuhren glühende Brammen vor beide Tore.) Es war ein wüster Tumult. Nach ca 15 Minuten riefen plötzlich einige „jetzt holen sie den roten Stern runter“. Er war auf dem höchsten Turm des Werkes montiert und immer dann beleuchtet, wenn der Plan erfüllt war. Daraufhin strömten die meisten aus der Halle.  Plötzlich standen schon LKWs da, ich glaube es waren zwei. Einige riefen:“ Los wir fahren in die Stadt“. Andere machten sich zu Fuß auf den Weg, ohne jedoch jemals in der Stadt anzukommen. Es war zu weit. Die meisten allerdings gingen einfach nachhause. Ich blieb im Betrieb. Beim Betriebsleiter fanden sich so ungefähr 20 Kollegen zusammen, zumeist Genossen, aber auch Parteilose. Wir schauten uns an  und fragten uns, was machen wir nun. Der Betriebsleiter nahm Kotakt zur Parteileitung auf, die nicht angegriffen worden war (vermutlich weil sich die Kollegen mehr für den roten Stern interessierten), und sagte, zunächst müssen wir sichern, daß keiner an unseren Produktions-mitteln Schaden ausübt. Das war eigentlich eine unnötige Sorge, denn im ganzen Betriebs-gelände waren nur  noch Werktätige, die  diesen Putsch nicht mitmachen wollten. Aber keiner wusste, was noch passieren würde. Ich wurde eingeteilt, nachhause zu gehen und zur Nacht-schicht zurückzukommen. Was ich auch tat. Die Nacht verlief völlig ruhig. Jetzt kam es darauf an, das normale Leben wieder herzustellen. Ich begann also meine Frühschicht. Mit mir hatten etliche andere ihre  Arbeit begonnen.  Nach einigen Stunden  kam mein Betriebsleiter und sagte: mach Schluß, was wir jetzt produzieren ist unwichtig. Laß uns unsere Kollegen aufsuchen und sie auffordern, die Arbeit wieder aufzunehmen. Ich erhielt eine Liste von aufzusuchenden Kollegen. Gleich mir erhielten solche Listen auch andere Kollegen. Damals war es üblich, dass die Arbeiter in der Nähe ihrer Betriebe wohnten, so dass wir relativ viele erreichten. Wir wurden ausdrücklich darauf hingewiesen, gegenüber unseren Kollegen nicht mit Drohungen oder Vor-würfen zu argumentieren, sondern sie zu informieren, dass die Normerhöhungen bereits am 17. Juni in einer Ansprache von Otto Grotewohl für zurückgenommen erklärt sind und dass Streiken auf keinen Fall auch nur ein einziges Versorgungsproblem löst. Wir sollten beachten, dass die Kollegen, die sich verleiten ließen die Arbeit niederzulegen,  nicht unsere Feinde sind. Auch über den demokratischen Rundfunk wurden die Werktätigen aufgefordert, die Arbeit wieder aufzunehmen. Bereits in der Spätschicht kamen ein Teil der Kollegen und nahmen die Arbeit wieder auf. Am nächsten Tag waren schon fast alle wieder da. Und am dritten Tag wurde wieder vollzählig gearbeitet.

Die Normerhöhungen waren der Hauptgrund für die Unruhen um den 17. Juni 1953. Doch es gab noch eine andere Seite, die die antisozialistische Ausrichtung dieser Unruhen stark prägte. Durch die destruktive Haltung der Westmächte war die Einheit Deutschlands praktisch nicht mehr in Sichtweite. Um eine gesunde leistungsfähige Wirtschaft aufzubauen, ist es erforderlich, dass die Produktion von Produktionsmittel schneller wächst als die Produktion von Konsumptionsmittel. Um das zu sichern, waren erhebliche Investitionen erforderlich, die aus anderen Quellen beschafft werden mussten. Es wurde ein umfangreiches Sparprogramm aufgestellt. Das betraf  insbesondere besser gestellte Kreise der Bevölkerung. So wurde sozial Bessergestellten, wie z. Bsp. Freischaffenden, Gewerbetreibenden, Bürgern mit hohem Einkom-men und ähnlich gelagerten Schichten der Bevölkerung, die Lebensmittelkarten entzogen. Sie sollten sich aus der HO versorgen, in der die Preise höher waren als die Kartenpreise. Das er-zeugte in diesen Kreisen natürlich offene Feindschaft. Gerade aus diesen Kreisen rekrutierten sich am 17. Juni eine Reihe von Anführern der Unruhen. Auch gab es vereinzelte Preis-erhöhungen, so bei Fleisch- und Zuckerwaren, die alle betrafen.

Ein weiteres Problem war die Landwirtschaft. Im Zuge der Bodenreform entstanden in der DDR viele kleine bäuerliche Betriebe. Die Bodenreform war notwendig, um die Macht der Groß-grundbesitzer zu brechen. Im Wettbewerb mit der westlichen Produktionsweise, die auf Groß-bauern und gut gestellten Mittelbauern basierte, war die Produktionsweise der DDR nicht wettbewerbsfähig. Die Kleinbauern produzierten hauptsächlich für ihren persönlichen Bedarf. Die Großbauern waren der neuen Ordnung feindlich gesonnen, da sie um ihren Besitz fürch-teten. Die Mittelbauern hingen dazwischen. Eine produktivere Produktionsweise musste her. Das sollten die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sein. Zuerst schlossen sich die kleinen Betriebe zusammen, was auch wieder eine schwache Leistungsfähigkeit hervor-brachte. Sie bedurften gleich einer jungen Pflanze besonderer Fürsorge. Die Mittelbauern stan-den abseits, die Großbauern feindlich. Es ist kein Geheimnis, dass gerade die Bauern besonders an ihrem persönlichen Besitz hängen. Unabhängig von dieser Situation, war die Land-bevölkerung sozial weitaus besser abgesichert als die Stadtbevölkerung. Die Versorgung der Bevölkerung in der Stadt war ein ernstes Problem. Es kam zu Zurückhaltungen in der Ab-lieferungspflicht. Dagegen ging die Regierung der DDR in aller Strenge vor. Was auch in diesen Kreisen Haß erzeugte. An dieser Stelle muß man allerdings sagen, dass sich die Land-bevölkerung an den Ausschreitungen des 17. Juni praktisch nicht beteiligte. Aber die durch sie verursachten Probleme in der Versorgung der Stadtbevölkerung hatten indirekten Einfluß auf die Stimmung in den Städten.

Und noch ein Problem gab es, die Kirche. In der DDR war Glaubensfreiheit in der Verfassung garantiert. Zunächst muß man Christentum und Kirche auseinander halten. Während das Christentum ein Glaubensbekenntnis ist, das in vielen humanitären Fragen sogar mit den Moralvorstellungen des Sozialismus identisch ist, ist die Kirche eine politische Institution. Sie verfügt über gut organisierte Strukturen und über Besitz und hat einen eigenen Haushalt, den sie über Kirchensteuern  finanziert. Bestimmte Kreise der Kirche widersetzten sich der sozialis-tischen Entwicklung. Sie fürchteten einen Rückgang ihres Einflusses in der Bevölkerung. Einer der dabei führenden Kirchenführer war Bischof Dibelius. Besonders engagierten sich bestimmte Kreise der Jungen Gemeinden. Diese verstanden sich als Gegenpol zur FDJ. In ihnen waren vor allem Jugendliche aus Kreisen der Intelligenz organisiert. Ein bewusstes Wirkungsfeld der Jun-gen Gemeinde waren die Gymnasien und die Hoch- und Fachschulen. In den Betrieben spielten sie praktisch keine Rolle. Es kam zu antisozialistischen Provokationen, in deren Folge Wort-führer von den entsprechenden Einrichtungen verwiesen wurden. Man muß sich aber hüten, alle Christen in einen Topf zu werfen. Viele von ihnen nahmen aktiv am sozialistischen Aufbau teil. Die Mehrzahl verhielt sich indifferent.

Alle mit Einschränkungen verbundenen Maßnahmen wurden auf Empfehlung des Präsidiums des ZK der KPdSU bereits am 11. Juni offiziell zurückgenommen. Dazu gehörten auch Straf-urteile wegen Verstöße gegen die Ablieferungspflicht, Verweisungen von Schulen, und andere Reglementierungen. Die Betroffenen würdigten diesen Schritt nicht, sondern sahen darin eine Niederlage der sozialistischen Staatsmacht und stellten sich in vielen Fällen an die Spitze der Unruhen des 17. Juni.

Unverständlich ist, dass gerade die geplanten Normerhöhungen nicht zurückgenommen wurden. Es ist schon kurios. Eine sich Arbeiterregierung nennende Regierung nimmt Belastungen klein-bürgerlicher Kreise zurück und belässt gerade die Maßnahmen, die die Arbeiter betroffen hätten. Ob sie glaubten, die Arbeiterklasse habe soviel Bewusstsein, dass sie die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Leistungssteigerung begreifen würde, kann man heute nicht mehr herausfinden. Jedenfalls blieb der Hauptzündstoff für die am 17.Juni stattfindenden Ereignisse aufrecht erhalten.

Abschließend muß man sagen, dass die DDR sich 1953 in einer ernsten Krise befand. Sie hat sie überstanden und die erforderlichen Schlussfolgerungen gezogen. Sie verband sich enger mit der Bevölkerung. Mit ihr gemeinsam wurden neue moderne Industriebetriebe geschaffen, ein eige-ner Überseehafen und eine eigene Handelsflotte aufgebaut, die Umgestaltung der klein-bäuerlichen Landwirtschaft in eine leistungsfähige industriell geführte Landwirtschaft durch-geführt, die demokratische Gesetzlichkeit gefestigt, ein modernes Arbeitsrecht geschaffen, die durchgängige medizinische Versorgung der Bevölkerung durch die Entwicklung der Poli-kliniken gesichert, das Wohnungsproblem gelöst, frei von jeglichem Mietwucher, und vieles anderes. Es waren goldene Jahre, die endfünfziger und sechsziger Jahre. Danach verlangsamte sich das Entwicklungstempo. Die Wirtschaft der DDR, wie auch die der anderen sozialistischen Staaten, litt schwer unter den immer mehr zunehmenden Belastungen durch das vom Westen aufgezwungene Wettrüsten. Schließlich kam es zur Stagnation. Das aber ist schon ein anderes Thema.

Erst spätere Generationen werden begreifen, welche große historische Leistung die DDR voll-bracht hat, dass sie 40 Jahre lang es geschafft hat, sich dem gierigen Zugriff westlicher Kon-zerne zu entziehen und trotz aller Armut für die Bevölkerung ein, wenn auch nicht luxuriöses, so doch ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, das in moralischer Hinsicht den westlichen Wertvorstellungen weit überlegen war, und das viele DDR-Bürger heute schmerzlich vermissen. Man darf westdeutschen Bürgern keinen Vorwurf machen, wenn viele von ihnen  das nicht verstehen. Was man nicht selbst erlebt hat, kann man nur schwer beurteilen. Einverstanden, das Angebot an Konsumptionsmitteln hat sich mit der Eingliederung der DDR in die BRD erheblich verbessert. Das ist ohne Frage ein großes Positivum. Aber Lebensqualität ist nicht nur Konsum. Lebensqualität das ist auch ein Leben frei von Existenzangst, das ist auch ein gesicherter Arbeitsplatz, das ist auch eine für alle erschwingliche Freizeitgestaltung bei Sport, Kultur und Erholung, das sind Ferienheime, Kulturhäuser und Jugendclubs, das ist auch eine nahezu kostenlose liebevolle Betreuung der Jüngsten in Kindergärten und Krippen, das ist auch eine niedrige Kriminalität, das sind auch gleiche Entwicklungschancen für alle. Nehmen wir das Bildungssystem. Es war dem heutigen föderalen Bildungssystem um ein ganzes Jahrhundert voraus. Einverstanden, nicht jeder konnte Medizin studieren, was eine sehr lukrative Ausbildungsrichtung war, wie es unsere ehemalige Familienministerin unter Kohl, Frau Nolte gerne gewünscht hätte. Sie musste, welche Grausamkeit, Biologie studieren. Heute bekommen  Zigtausende nicht einmal eine Lehrstelle. Nehmen wir das Gesundheitswesen. Ein durch-gängiges kostenloses Impfsystem ließ Krankheiten wie Pocken, Masern, Kinderlähmung, Tbc weitgehend verschwinden, Krankheiten die heute in der BRD wieder auf dem Vormarsch sind. Frei von Motiven der Gewinnsucht wurde eine bestmögliche und effektive und kostenlose  medizinische Versorgung auf der Basis von Polikliniken gewährleistet.

Eine ganz besondere Fürsorge der DDR galt den Kindern und der Jugend. Jede Familie konnte es sich leisten, ihre Kinder für wenig Geld in Ferienlager zu schicken, wo sich die Kinder unbekümmert vom Geldbeutel der Eltern für ein paar Wochen bei Sport und Spiel erholen konnten, und das zum Teil an Plätzen, die heute nur noch der high society zugänglich sind.

Einverstanden, in der DDR konnte man keine Politiker lächerlich machen, was die heutigen Politiker nicht stört. Sie machen ohnehin, was sie wollen, bzw. was das Kapital will.. Aber dafür stand in der Verfassung der DDR das Recht auf Arbeit, ein elementares Lebensrecht für alle jene, die nichts anderes besitzen als ihre Arbeitskraft, und das ist die Mehrheit der Bevölkerung. Ohne das Recht auf Arbeit gibt es keine wirkliche Freiheit. Daß dieses Recht in der Verfassung der BRD nicht enthalten ist, zeigt die ganze Verlogenheit dieser freiheitlich demokratischen Ordnung. Freiheit gibt es in der BRD nur für die Reichen. Sie stellen zu allem Überdruß diesen Reichtum auch noch demonstrativ zur Schau. Lieschen Müller darf sich dann im Fernsehen ansehen, wie diese mal schnell mit dem Jet nach Paris fliegen und für ein paar Millionen ein bisschen shoppen. Der arbeitende Werktätige aber ist praktisch rechtlos. Mit der Mütze in der Hand steht er vor dem Unternehmer oder der Behörde und muß betteln, dass er arbeiten darf und dafür noch viele Belastungen auf sich nehmen, die dem DDR-Bürger fremd waren. Tut er das nicht, dann ab in Hartz 4.

Und noch ein Verdienst ist untrennbar mit der DDR verbunden. Vom Boden der DDR ging nie ein Krieg aus, kein Soldat der DDR hat je in feindlicher Absicht fremden Boden betreten.

Heute führt Deutschland wieder in fremden Ländern Krieg, befindet sich wieder in unseliger Tradition. Man ist wieder wer und fordert sogar einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat.

Die Pläne der USA sind aufgegangen.

Dieter Hainke,
Magdeburg