Wider die Illusionsmacherei !

Rolf Vellay:
Wider die Illusionsmacherei !

Artikel zum in der UZ vom 20.6.1997 erschienenen Artikel von Manfred Sohn: „Das Subjekt der gegenwärtigen Wendung”, von Rolf Vellay bezeichnet als Beispiel für eine Tendenz im Umfeld und bei der DKP; Rolfs Artikel erschien in der UZ stark gekürzt (drei-viertel UZ-Seite) am 5. September 1997. Hier Rolfs ungekürzte Arbeit:

Der Blick in die Zukunft ist, das lehren uns 150 Jahre Geschichte der marxistischen Arbeiterbewegung, ein schwieriges Geschäft. Gleichwohl ist politisches Handeln nicht möglich ohne Gedanken über die Zukunft anzustellen, unter Einbeziehung gemachter Erfahrungen zu erwägen, welche Entwicklung gesellschaftlicher Kräfte am ehesten wahrscheinlich ist, die Durchsetzbarkeit eigener politischer Zielsetzungen unter den vermutlichen zukünftigen Bedingungen bei realistischer Einschätzung des vorhandenen Potentials zu prüfen und am Ergebnis die eigene Strategie und Taktik in der Gegenwart zu orientieren. Wenn wir nüchtern unsere politische Vergangenheit selbstkritisch ansehen, lernen wir daraus, dass dieser „Blick in die Zukunft” ein hochspekulatives Unterfangen ist. Die Fehlerquote ist offensichtlich gewaltig neben den Volltreffern, die wir auch gelandet haben und aus denen die revolutionäre Bewegung bis heute wesentlich Motivation gewinnt.

Die grösste Gefahr, der wir nun wirklich vielfach erlegen sind und die zu bitteren, blutigen Niederlagen geführt hat, ist das Schönfärben der Perspektiven. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen verbrecherischer Absicht der Täuschung – SPD 1918/19 ,,Der Sozialismus marschiert”, Kurt Schumacher 1945: ,,Der Sozialismus steht auf der Tagesordnung” – , und der Fehleinschätzung aus voluntaristischem, revolutionärem Enthusiasmus, beruhend auf – in manchen Fällen fahrlässiger, unverantwortlich leichtsinniger – Missachtung der Gegebenheiten.

Der konkrete Fall

Unter dem immerhin anspruchsvollen Titel „Das Subjekt der gegenwärtigen Wendung” stellt Manfred Sohn in der UZ vom 20. Juni 1997 aufgrund der Wahlergebnisse aus jüngster Zeit in einigen wichtigen Ländern ,,Über1egungen zum Träger eines neuen sozialistischen Anlaufs” in einem ganzseitigen Artikel an. ,,Die kapitalistischen Hochburgen selbst geraten in Bewegung‘ beginnt der Vorspann meinem Textes und der Autor stützt diese Feststellung auf den Stimmengewinn der japanischen Kommunisten bei des Parlamentswahlen im Oktober 1996, auf die Einschätzung, Labour habe bei den kürzlichen Wahlen in Großbritannien die Tories ,,hinweggefegt”, ferner, in Frankreich seien nun die Kommunisten ebenso wie in Italien für die Regierungsbildung „unentbehrlich” und schließlich seien in Russland die Kommunisten die ,,stärkste Partei”.

Diese Fakten veranlassen ihn dann zu der Frage: ,,Welche Möglichkeiten eröffnet dieser Aufbruch für einen neuen sozialistischen Anlauf, der diesmal sich möglicherweise nicht am Rande, sondern im Herzen des imperialistischen Systems selbst entfaltet?”

Interessant ist so schon mal die Formulierung der gestellten Trage. Hätte sie gelautet: ,,Eröffnet dieser Aufbruch neue Möglichkeiten….”, ließe das ja zunächst einmal die Antwort offen. Mit der Wendung ,,Welche Möglichkeiten eröffnet dieser Aufbruch .., gibt der Autor eindeutig seine verinnerlichte Fixierung auf die Bedeutung von Wahlergebnissen als entscheidenden Hebel für die Veränderung politischer Machtverhältnisse zu erkennen. Vollends deutlich wird das an der Verwendung des in diesem Zusammenhang euphorisch klingenden Wortes ,,Aufbruch” für das Zustandekommen linker Mehrheiten in Parlamenten. Und schließlich, neuer ,,sozialistischer Anlauf” im ,,Herzen des imperialistischen Systems”. Ja, da sieht wohl einer schon wieder konkret die revolutionär-sozialistische Morgenröte am kapitalistischen Endzeithorizont heraufdämmern – wie gehabt! Wie oft schon gehabt?

USA – Fehlanzeige !

Was ist davon zu halten? Beginnen wir bei der Analyse mit der Lokalisierung der nach Manfred Sohn sich anbahnenden revolutionären Veränderungen ,,in Herzen des imperialistischen Systems”. Im Gegensatz zum menschlichen Herzen, um bei der anatomischen Metaphorik zu bleiben, weist der Imperialismus offensichtlich mehr als zwei ,,Herzkammern” auf. Die wichtigste und in jeder Beziehung stärkste sind eindeutig die USA. Sohn zitiert mehrfach die FAZ, also darf ich das auch. Zum Beispiel FAZ, 2. 5. 97 unter der Überschrift: „Amerikas Wirtschaft weiter stark in Schwung?”:

„Mit einem starken Wachstum von real 5,6 Prozent (auf das Jahr hochgerechnet) im ersten Quartal hat die amerikanische…Wirtschaft alle Erwartungen weit übertroffen…” Schon im vierten Quartal 1996 habe das Wachstum mit 3,9 Prozent deutlich über den offiziell prognostizierten 2,3 Prozent gelegen, heißt es weiter. Mit diesen Zahlen wiesen die USA das höchste reale Wachstum seit zehn Jahren aus.

Passend dazu die FAZ am 5. Juni 1997: ,,Die Zahl der Arbeitslosen in den Vereinigten Staaten ist im April auf den niedrigsten Stand seit 24 Jahren gesunken. Die Quote habe bei 4,9 Prozent gelegen, teilte das Arbeitsministerium in Washington mit. Das sei der niedrigste Stand seit 1973. Gleichzeitig sank auch der wöchentliche Durchschnittsverdienst im Vergleich zum März um knapp ein Prozent auf 420 Dollar. Im Vergleich zum April vorigen Jahres verdienten die Amerikaner jetzt aber durchschnittlich 3,6 Prozent mehr.”

Diese Zahlen erklären auch die ,,stürmische Zunahme des privaten Verbrauchs (plus 9,9 Prozent)” FAZ, 2. 5. 97. Am 16. Juni meldet das gleiche Blatt aus Washington, die erhöhten Steuerzuflüsse aufgrund des starken Wirtschaftswachstums ließen wahrscheinlich das Haushaltsdefizit auf 40 Mrd. Dollar schrumpfen – im Haushaltsansatz war mit einem Defizit von 148 Mrd. Dollar gerechnet worden. Sollte wie bisher die Konjunktur anhalten, könne der Haushalt im nächsten Jahr sogar ohne Defizit abschließen!

Stärkstes Wachstum seit zehn Jahren, niedrigste Arbeitslosigkeit seit 24 Jahren, Lohnzuwachs. bei niedriger Inflation und niedrigen Zinsen, starke Zunahme des Konsums, sinkende Staatsverschuldung – das alles spricht für sich, unbeschadet der se1bstverständlich nach wie vor gegebenen Krisenanfälligkeit jeder kapitalistischen Wirtschaft und unbeschadet der Skepsis hinsichtlich der Arbeitslosenzahlen. Nach 0ECD-Kriterien z.B. liegt die Arbeitslosigkeit in den USA bei 17 Prozent. Zur Zeit jedenfalls bleibt festzuhalten: Die USA – Herzkammer des Weltimperialismus pumpt entgegen allen unseren Erwartungen überaus kräftig – und das trotz aller katastrophalen sozialen Missstände in ,,Gottes eigenem Land”! Das Tüpfelchen auf den ,,i”: Absoluter Höchstkurs des Dow-Jones-Aktienindex mit über 8ooo Punkten – gleichzeitig radikale Streichung von Leistungen in der Wohlfahrtsgesetzgebung, ohne dass sich irgendwie soziales Aufbegehren erkennen lässt. Manfred Sohns ,,Subjekt der gegenwärtigem Wendung” nimmt in den USA die Dinge offenbar hin, wie sie sind. Spricht er in Europa von einigen kommunistischen ,,Baby-Parteien”, so befindet sich Vergleichbares in den USA, wie seit längerem schon, in embryonalem Stagnationsstadium.

Die etwas ausführlicherere Befassung mit der Situation in den USA ist deshalb notwendig, weil Manfred Sohn bei seiner schließlich weltumspannenden Betrachtung über die Lage im weitaus wichtigsten imperialistischen Staat kein Wort verliert. Aber ohne dass sich auch da etwas ändert, wird aus der von ihm gesichteten sozialistischen Morgenröte wohl kein strahlender revolutionärer Sonnenaufgang weltweit werden, Klar, USA passt derzeit nicht ins Bild, wird ausgeblendet – wie gehabt!

Geht in Japan die sozialistische Sonne auf?

Nicht ausgeblendet dagegen wird bei Manfred Sohn Japan, bei uns für gewöhnlich ,,Land der aufgehenden Sonne” genannt. Für ihn geht dort offenbar nicht nur die planetarische Sonne auf, sondern auch eine fiktiv-revolutionär-sozialistische, in deren Strahlen er sich sichtbarlich wärmt. Sind für ihn doch die Kommunisten die eigentlichen ,,Sieger der Parlamentswahlen in Oktober 1996″. Die Ergebnisse dieser Wahlen sind mir nicht präsent, aber ich lese in der FAZ vom 8.7.‘97 die Überschrift „Erfolg der Kommunisten in Tokio”, In Text heißt es: ,,Die Kommunistische Partei wird künftig 26 Abgeordnete im Stadtrat stellen, sie konnte die Zahl ihrer Sitze seit den Wahlen des Jahres 1993 verdoppeln. Es ist das beste Ergebnis der Kommunisten in einer Kommunalwahl in Tokio und. macht die Partei zur zweitstärksten Kraft im Stadtparlament.” So weit, so gut und ganz hervorragend, möchte man meinen und es liest sich wie eine Bestätigung der Einschätzung von Manfred Sohn, die eigentlichen Gewinner der letztjährigen Parlamentswahlen seien die Kommunisten. Trotzdem ist bei der Einschätzung Zurückhaltung angesagt: Einmal, weil keine absoluten Stimmzahlen genannt werden. Die Wahlbeteiligung betrug nur 40,8 Prozent gegenüber 52 Prozent bei der vorhergehenden Wahl. Selbst ein nur moderater absoluter Stimmanstieg der Kommunisten kann dann schon zu einer überproportionalen Erhöhung der Zahl der Mandate führen und die alleinige Orientierung an dieser führt dann zu der bei uns in solchen Fällen üblichen Überschätzung des Masseneinflusses der Partei.

Zum anderen, und das ist der für mich bei weiten gewichtigerer Grund zur Zurückhaltung: Ich weiß nichts Näheres über die heutigen ideologischen Positionen der KP Japans. Ich erinnere mich aber an die große Marx-Konferenz 1978 in Berlin. Und was die japanischen Genossen damals vorgetragen haben, war aus meiner Sicht so katastrophal, dass ich mich nur gewundert habe, wie SED und KPdSU das zulassen konnten. Angesichts der späteren Entwicklung der beiden Parteien erscheint mir die damalige Toleranz heute einleuchtend. Wenn die Japanischen Genossen aber immer noch in dem gleichen ideologischen Sumpf waten wie damals, dann sind ihre Stimmengewinne für die revolutionäre Bewegung nicht mehr wert, als wenn einstmals die KP Italiens jahrzehntelang die Rathäuser wichtiger Großstädte beherrschte. Was hat es uns gebracht angesichts des ideologischen Fäulnisprozesses in der Partei, der am Ende auch hinsichtlich des Namens zur Liquidierung führte? In der FAZ wurden damals die kommunalpolitischen Leistungen der Kommunisten gelegentlich durchaus anerkannt – sie ,,müssten halt nur vom Leninismus lassen”, seufzte der Leitartikler der FAZ einmal. Sie taten’s, die “Genossen” in Italien — das Ende ist bekannt

Soviel zum wahlpolitischen ,,neuen sozialistischen Anlauf” in der japanischen Herzkammer des Weltimperialismus.

Auf dem Kreml blinkt immer noch der Rote Stern….

….. und Lenin ruht nach immer im Mausoleum auf dem Roten Platz und Stalins Grab an der Kremlmauer ist geschmückt mit Blumen wie eh und je und noch ist Russland keine ,,Herzkammer” des Weltimperialismus – eher jetzt der Abort des Systems. Vierzig Jahre lang hat unsereins die Menschen dort gegen alle Angriffe und Beleidigungen verteidigt, – der heute alle gesellschaftlichen Ebenen durchdringende flächendeckende moralisch-politische Niedergang und Verfall zeigt, dass die Massen dort eines Lenin und Stalin bedurften, um Weltgeschichte zu schmieden. Diese Sicht ändert nichts daran, dass ich nach wie vor die Volksmassen für die Schöpfer und Gestalter der Geschichte halte — nur, mit 18 Millionen ,,Bolschewiken”, die wir in der KPdSU vereinigt sahen, war nichts mehr los, als es darauf ankam. So wenig wie mit der SED im entscheidenden Moment. Was soll heute wohl los sein mit einer ,,Kommunistischen Partei Russlands” nach deren Wahlsieg das US-Außenministerium die Öffentlichkeit wissen ließ: ,,Kein Grund zur Beunruhigung!” Nein, der besteht auch wirklich nicht und für mich ist der Grund nicht ersichtlich, der Manfred Sohn veranlasst hat, diese Partei den Faktoren mit der Potenz zur Weltveränderung zuzurechnen. Aber es gibt ja bei uns auch an sich kluge Leute, die trotzdem immer noch Hoffnung auf die PDS setzen….

Bringt es vielleicht ,,New Labour”?

Manfred Sohn schließt das jedenfalls nicht aus mit der Bemerkung, die Labour Party sei nach wie vor ,,mehr als durchgeblairter Neoliberalismus”. In der Tat stimmt das seit alters her so in allen reformistischen Parteien, dass man sich dort der Attraktivität für ein bestimmtes Wählerpotential wegen wohldosiert ein paar ,,linke Spinner” hält, die man sich ganz gern auch wegen des Anscheines innerparteilicher Demokratie leistet. Sollten in gesellschaftlichen Krisensituationen diese Gruppierungen Zulauf erhalten und zur Gefahr zu werden drohen, sorgt man schon für „Regulierung” – siehe den Ausschluss des SDS aus der SPD. Dass das gegebenenfalls auch bei ,,New Labour” so sein wird, dafür steht der Medien-Strahlemann Tony Blair, über den man in der FAZ am 3.5.’97 folgende Einschätzung lesen konnte: ,,Und auch seine innerparteilichen Widersacher mussten rasch erkennen, dass sich hinter Blairs Lächeln ein fester Wille zur Macht verbirgt. Dass er, der einst als „Bambi” verspottete Vater dreier Kinder, bei der Versöhnung der Partei mit der Marktwirtschaft, mit den Erfordernissen einer modernen Verteidigung und. dem Prinzip individueller Verantwortung eine kompromisslose Härte zeigte, hat ihm den Vorwurf eines autoritären, gar `stalinistischen´ Führungsstils eingetragen”.

Danach scheint auf Tony Blair wirklich ,,Verlass” zu sein, den – so die FAZ im gleichen Beitrag – Schüler ,,einer der nobelsten Privatschulen Schottlands” und Jura-Absolventen des St. John-College in Oxford, wo bekanntlich nicht gerade die Nachwuchskader der revolutionären Arbeiterbewegung ausgebildet werden. Was er da gelernt hat, hat er dann – immer der FAZ zufolge — nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Labour-Party umgesetzt, indem er die Partei einer ,,beispiellosen ideologischen Reinigung” unterzog. „Er hat sie auf eine Politik der Mitte ausgerichtet, den ehemals erdrückenden Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik der Partei zurückgedrängt. Er hat sich dabei nicht von den damals keineswegs schwachen traditionalistisch-sozialistischen Kräften der Beharrung beirren lassen”.

Eben. Und deshalb konnte die FAZ am 3. Mai, zwei Tage nach der Wahl, mit dreispaltiger Überschrift im Wirtschaftsteil aus London vermelden: ,,Börse reagiert gelassen auf Labours Wahlsieg.” Im Weltfinanzzentrum London weiß man offenbar seine Angelegenheiten in vertrauenswürdigen Händen! Nicht ganz so einverstanden waren offenbar mit ,,New Labour” Teile der bisherigen linken Wählerschaft. Oder wie erklärt es sich, dass ausgerechnet bei dieser Wahlschlacht gegen die verhassten Tories in einer Reihe traditioneller Hochburgen von Labour – bei Gewinn der Sitze für die Partei – der prozentuale Anteil der Labour-Stimmen zurückging, wie aus der ausgezeichneten Wahlanalyse der ,,Arbeiterstimme” zu entnehmen ist. Aber nicht nur an der Basis gibt es Skepsis. So heißt es in der FAZ vom 3.5.’97 unter der bezeichnenden Überschrift ,,Untergang im Sieg?”, Untertitel ,,Die linken Intellektuellen Großbritanniens sind nun heimatlos”: ,,Die Bereitschaft, es allen recht zu machen, und dabei die alten Grundsätze der Arbeiterbewegung über Bord zu werfen, hat Blair auch Mitgliedern der linken Intelligenz entfremdet, die sich seit der Thatcher-Ära entmündigt fühlt und nichts so sehr herbeisehnte wie einen Labour-Sieg. … Sie fragen, wie Ben Pimlott, Professor an der Londoner Universität und Autor einer Harold-Wilson-Biographie, ‘ob eine Partei ihr historisches Zielbewusstsein wie eine Schlangenhaut abwerfen kann, ohne sich eine neue zuzulegen, die nicht bloß eine hochempfindliche Membran für die Bedürfnisse der Verbraucher ist’. Der Publizist Martin Jaques, Herausgeber der inzwischen eingestellten Zeitschrift ‘Marxism Today’, hatte Biairs Wahl zum Parteiführer zunächst begrüßt. Inzwischen sieht er in New Labour jedoch eine »historische Niederlage für die britische Linke'”

Lohnt es noch- um in der Metaphorik von Manfred Sohn zu bleiben – sozusagen „Herzrhythmusstörungen” in der britischen Herzkammer des Weltimperialismus zu diagnostizieren, wenn der progressive englische Dichter Harold Pintcr schon vor der Wahl New Labour „Arschleckerei gegenüber dem Big Business (Literaten dürfen sich so ausdrücken!) als eine Schande vorwarf und selbst das „Neue Deutschland” am 5. Mai. 1997 meint (ich bitte zu registrieren, was es heißt, wenn ich das „ND” zitiere!): Inhaltlich setzt Blair durch moderate und in sofern modernisierte Fortschreibung dem Thatcherismus letztlich die Krone auf.

In dem bereits zitierten FAZ- Beitrag „Untergang im Sieg” heißt es – und ich meine zutreffend – zum Schluss: „Tony Blairs Kritiker in der eigenen Partei haben ihm vorgeworfen, er böte nichts als den Thatcherismus mit menschlichen Antlitz. Anders als Margaret Thatcher, die das ganze Land umkrempeln wollte, hatte Labour zunächst nur ein Ziel: Labour um jeden Preis wieder wählbar zu machen, indem er dem linken Flügel einen Maulkorb anlegte. Neben New Labour gibt es einen anderen Sieger der Wahl vom l. Mai, Margaret Thatcher”.

Noch Fragen? Man sollt meinen – nein. Manfred Sohn aber schreibt: „Labour …hat die Konservativen nicht von der Macht verdrängt, sondern weggefegt”. Hört sich gut an für uns und die Mandatszahlen belegen es: Labour 419 Sitze, – die höchste jemals erreichte Zahl und damit eine wirklich haushohe Mehrheit im Unterhaus. Für die Tories 165 Sitze, das schlechteste Ergebnis seit 1832, für die Liberalen 46 Sitze, femer noch ein paar Sitze für Schotten, Waliser usw. Für Manfred Sohn langt die Sitzverteilung für das Diktum „weggefegt”. Das passt ins Bild, kommt in Grossaufnahme in den Vorspann seines Artikels, eignet sich gut für die Motivierung der nach linken Erfolgserlebnissen dürstenden Leserschaft – weitere Analyse wird ausgeblendet, ist nichts fürs Parteivolk. Dabei relativieren die Stimmzahlen sowie die Wahlbeteiligung bei genauerer Betrachtung den ,, Erdrutschsieg” von Labour. Die Tories erhielten 31,4 Prozent der Stimmen, Labour 44,4 Prozent. Nach den Stimmen ist das knapp die Hälfte mehr als die Tories, brachte aber zweieinhalbmal soviel Sitze im Unterhaus ein, als die Tories bekamen. So etwas kommt zustande aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts in den einzelnen Wahlkreisen, das Maggie Thatcher z.B. einmal die Mehrheit im Unterhaus einbrachte mit 37 Prozent der Stimmen gegenüber einer Stimmenmehrheit von Labour von 44 Prozent! Der „Times” vom 3.5.’97 zufolge lag das prozentuale Stimmergebnis für Labour bei dem jetzigen triumphalen Erfolg nur wenig über dem der Wahlen von 1959 und 1970, als Labour jeweils schwer geschlagen wurde. Die Arbeiterstimme in ihrer Analyse:

„Blairs Erdrutschsieg rührt her vom Zusammenbruch der Tories, deren Unbeliebtheit seit 1992 kontinuierlich angewachsen ist. Die niedrigen Ergebnisse (für Labour, d.Verf.) in den städtischen Zentren könnten so zu verstehen sein, `dass es sich hier weniger um eine positive Unterstützung von New Labour als eine begeisterungslose Abstimmung gegen die Tories handelt´ (Independent, 5.5.’97). Genauso ist es.“

Diesem „Genau so ist es“ der „Arbeiterstimme“ kann ich mich nur anschließen, wenn ich ansonsten auch mit deren politischer Orientierung nichts an Hut habe. Dafür, dass es sich nicht in erster Linie um „enthusiastische Zustimmung“ für Labour handelte, sondern um die ,,begeisterungslose Ablehnung der Tories“, spricht auch die Wahlbeteiligung von nur 71 Prozent, sieben Prozent weniger als 1992 und die niedrigste seit 1945! Auch das ein Detail, das bei Manfred Sohn offenbar nicht ins Bild passt — wie könnte er sonst im Hinblick auf die von ihm gesehene zunehmende Politisierung der Menschen pauschal urteilend schreiben: ,,Dieser Umschwung schwappt bis in die Wahlurnen – ablesbar an den gestiegenen Wahlbeteiligungen“.

Wohl zutreffend für Frankreich, aber eben nicht für Großbritannien. Zur rea­listischen Bewertung des linken Wahlsieges in der britischen ,,Herzkammer des Weltimperialismus“ noch dieses: Labour 44,4 Prozent, Tories 31,4 Prozent, Liberal-Demokraten 17,2 Prozent. Da man sicherlich auch bei weitestgehender Auslegung des Begriffs ,,antikapitalistische Kräfte“ die Wähler der Liberal-Demokraten nicht wird zu den Antikapitalisten zählen können, hat Labour: trotz überwältigender Mehrheit im Unterhaus keine Mehrheit im Volke, denn Tories und Liberal-Demokraten haben zusammen 48,6 Prozent der Stimmen gegenüber 44,4 Prozent für Labour – wohlgemerkt der Wahlberechtigten, die auch zur Wahl ge­gangen sind. Macht man nun für Labour die Rechnung auf, die Fritz Noll in der ,,UZ“ vom 4.Juli (1997, Red. Offensiv) auf der ersten Seite unter der Überschrift ,,Sozialdarwinismus in den USA kein Vorbild für die Welt“ den Herrschenden in den Vereinigten Staaten vorhält, nämlich dass sie aufgrund der dort üblichen geringen Wahlbeteiligung im Durchschnitt nur von 25 Prozent der Bevölkerung in ihre Ämter gewählt werden, dann kann sich Labour gerade mal so auf 30,8 Prozent der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung stützen – auch nicht gerade überwältigend und ver­mutlich etwas mager, um daraus Möglichkeiten ,,für einen neuen sozialistischen Anlauf“ unter Umständen sogar ,,im Kerzen des imperialistischen Systems“ abzuleiten.

Der Ordnung halber sei schließlich noch erwähnt, dass hier von der KP Groß­britanniens deshalb nicht die Rede war, weil sie bei Parlamentswahlen keine Rolle spielt. Es ist lange her, dass die Partei zwei Abgeordnete ins Unter­haus entsenden konnte, Das war 1945 – in der Stalinepoche und die ist ja zur Zufriedenheit so vieler Linker glücklich vorbei!

 

Frankreich – Keine linke Mehrheit in Volk!

Vorbei auch in Frankreich, wo die Kommunistische Partei 1946 fast 30 Prozent der Stimmen erhielt! Jahrzehntelang hielt sich die KPF dann noch bei gut über 20 Prozent, auch noch, nachdem die Genossen sich 1968 das patriotische Verdienst erworben hatten, einen entscheidenden Beitrag zu leisten beim Abwürgen des revolutionären Aufbegehrens erst der Studenten und dann auch der Arbeiter im legendären Mai ’68. Damit retteten sie de Gaulle vor dem Verlust der Macht und bewahrten — vielleicht — Frankreich vor dem Bürgerkrieg.

Chruschtschows verderbliche These von der Möglichkeit des parlamentarischen Weges zum Sozialismus in hochentwickelten Ländern trug 12 Jahre nach dem XX. Parteitag Früchte! Damit aber war der Keim gelegt für den beginnenden inneren Zerfall der Partei. Es wurde die Entwicklung eingeleitet, die nach dem Harakiri der Regierungsbeteiligung unter Mitterand 1981 die Kommunisten weitgehend ihren Masseneinfluss kostete und schließlich auf dem letzten Parteitag im Dezember 1996 in den offenen Reformismus mündete, Dass das so ist, belegt eindeutig der Bericht der beiden DKP-Vertreter auf dem Parteitag, Heinz Stehr und Georg Polikeit, veröffentlicht in der ,,UZ‘ vom 10.1.’97:

„Zugleich aber knüpft sich daran (an die Kritik des Kapitalismus; d. Verf.) die Vorstellung, dass die ,soziale Transformation‘ bereits heute mit der Durchsetzung einzelner Reformschritte gegen die `Logik des Geldes´ beginnt und in einem länger anhaltenden Prozess schrittweise zur Herausbildung der neuen kommunistischen Gesellschaft führen wird, deren ökonomische und politische Grundlagen ohne deutliche Aussage zur Macht- und Eigentumsfrage nur reichlich vage definiert werden. Eingeordnet in dieses Konzept ist auch der auf dem Parteitag nunmehr offiziell verkündete Verzicht auf das Ziel ,Sozialismus‘ als Vor- und Übergangsstufe zum Kommunismus“.

Mit solchen programmatischen Aussagen tilgt die KP Frankreichs endgültig die letzten Überbleibsel revolutionärer Ideologie, nachdem sie ihren Charak­ter als revolutionäre Partei schon längst verloren hatte durch Verzicht auf die Forderung nach Errichtung der ,,Diktatur des Proletariats“ und schließlich auch der Aufgabe des ,,demokratischen Zentralismus“ als Organisationsprinzip. Da ist es nur konsequent, wenn seitens der Führung auf dem Parteitag die Rede davon war, man wolle weg von einer ,,kommunistischen Partei vom Typ der III. Internationale“, hin zu einem ,,französischen Kommunismus“. Dementsprechend heißt das bisherige Zentralkomitee jetzt ,,Nationalkomitee“ und das ehemalige Politbüro wird in ,,Nationalbüro“ umbenannt. Dementsprechend wird jetzt, dem Beispiel anderer ehemals kommunistischer Parteien folgend, “die Vergangen­heit aufgearbeitet“. Laut FAZ vom 24.6.’97 sprach der Parteivorsitzende Hue auf einer der Rehabilitierung des einst prominenten Genossen Kriegel-Valrimont gewidmeten Veranstaltung im lothringischen Longlaville sein Bedauern über in der Vergangenheit ,,in der KPF begangenes Unrecht aus“. ,,Ja, die Kommunistische Partei ist zutiefst und für lange Zeit vom Stalinismus geprägt gewesen“. Bezeichnend, dass die FAZ dazu vermerkt: ,,Kriegel-Valrimont gehörte zu denen, die die vom den sowjetischen Parteichef Chruschtschov begonnene Entstalinisierung unterstützten“. 1961 hatte er seinen Sitz im Zentralkomitee verloren.

Der Lohn für derlei opportunistische Bußebekenntnisse wie das von Hue blieb nicht aus. Fix entdeckten französische Intellektuelle ihre linksradikalen Sympathien wieder. Der Filmregisseur Gerard Blain sah auf einmal für die Partei die „wunderbare Gelegenheit, wieder revolutionär zu werden“ und forderte die Rehabilitierung Trotzkis, „um Stalin endgültig zu begraben“ ( FAZ, 3.6.’97) An gleicher Stelle heißt es weiter, den ,,vom Totalitarismus geläuterten Kommunisten“ hätten ,,ein paar prominente Intellektuelle – von Emanuel Todd bis Julia Kristeva – …einen antistalinistischen Persilschein“ ausgestellt. Todd in einem Rundfunkinterview lt. FAZ von 30. 4.’97: ,,Ich kehre mit großem Vergnügen zu den Kommunisten zurück. Sie sind entstalinisiert und verfügen über menschliche und ideologische Qualitäten – zum Beispiel den Glauben an die Gleichheit, – die in der politischen Landschaft selten ge­worden sind“.

Die volle Würze erhält eine solche Äußerung dadurch, dass Todd Wahlkampfbe­rater von Chirac bei der Präsidentenwahl vor zwei Jahren war!

Mit solch qualifizierter Unterstützung kann ja nichts mehr schief gehen — und es ging auch nichts schief bei den jüngsten Wahlen. Ist es doch ein durchschla­gender Erfolg, wenn sich die Zahl der Abgeordneten der Partei von 23 auf 38 um mehr als die Hälfte erhöht! Diesen Sprung vor Augen, hört bei Manfred Sohn offenbar auch schon die Wahlanalyse auf und er sieht Anlass für die stolze Feststellung: ,,Die Kommunisten sind in Frankreich zur Regierungsbildung unentbehrlich“. Ausgeblendet wird dabei, dass der prozentuale Stimmanteil der Kommunisten beim ersten Wahlgang 1995 gerade mal von 9,1 auf 9,4 gestiegen ist. Für noch nicht einmal ein Prozent mehr Stimmen über 50 Prozent mehr Abgeordnetenmandate – das ist doch wohl ein glänzendes politisches Geschäft! Grundlage für den deal: Das bereits vor den Wahlen geschlossene Bündnis mit den Sozialisten – und das wäre vermutlich nicht zustande gekommen ohne den ,,Entstalinisierungsparteitag“ der KPF vom Dezember 1996. Aus einer auf solche Art und Weise erlangten Schlüsselstellung für eine linke Regierungsbildung bei kaum gestiegenem Masseneinfluss der Partei leitet Manfred Sohn Möglichkeiten ,,für einen neue sozialistischen Anlauf …… im Herzen des imperialistischen Systems“ ab!

Wie wackelig tatsächlich die linke Mehrheit in Frankreich ist, auf die nicht nur Manfred Sohn große Hoffnungen setzt, zeigt ein weiteres Zahlenparadoxon dieser Wahlen. Als Folge des französischen Wahlrechts blieb den ,,Ecologiste“, den dortigen ,,Grünen“, trotz eines Stimmanteils vom 11,1 Prozent 1993 ein Sitz im Parlament versagt. Ihr Stimmanteil beim ersten Wahlgang jetzt ging auf 6,81 Prozent zurück — aber durch das Bündnis mit den Sozialisten können sie jetzt stolze sieben Abgeordnetenmandate aufweisen! Demgegenüber konnte die rechtsradikale Nationale Front Ihren Stimmenanteil gegenüber 1993 von 12,7 auf jetzt 14,94 Prozent steigern, was aber gerade mal für ein Abgeordnetenmandat reichte.

Im Hinblick auf die Zusammensetzung des Parlaments verzerrt das Wahlrecht ein­fach das wahre Stimmungsbild in der Bevölkerung. Das verleitet zu dem gefährlichen Fehlschluss, in Frankreich, einer der ,,Herzkammern des Weltimperialismus“, hätten wir nach den letzten Wahlen eine ,,linke Mehrheit“. Zählt man die für die vereinigte Rechte und die Front National abgegebenen Stimmen zusammen, dann ergibt sich für die gesamte Rechte ein Stimmanteil von 51,46 Pro­zent – die Linke in Frankreich hat also ebenso wenig eine Mehrheit im Volk wie Labour in Großbritannien. Aber, derlei diffizile Erwägungen liegen natürlich dem ,,UZ“-Redakteur Manfred Sohn fern, man muss vielmehr – nach langjährig bewährtem Vorbild – das ,,Positive aufgreifen“, allem andere wird, ebenfalls nach langjährig bewährtem Vorbild, ausgeblendet. Wozu die Basis mit solchen Überlegungen belasten, da ist es doch viel schöner und einfacher, mit rosa parlamentarischer Himbeersauce revolutionär-sozialistischen Schaum zu schlagen.

Wollen wir sehen, wie die Regierung Jospin mit dem Problem zurecht kommt, die Wahlversprechungen zu erfüllen, den Maastricht-Kriterien gerecht zu werden und auch noch den Interessen des großen Kapitals Rechnung zu tragen, womit die Banker und die „patrons“ der großen Konzerne offenbar fest rechnen — dreispaltige Überschrift im Wirtschaftsteil der FAZ vom 3.6.‘97, zwei Tage nach der Wahl: ,,Die Pariser Börse fürchtet die Sozialisten nicht“. Warum sollte sie auch?, kann ich da nur nach aller historischen Erfahrung fragen. Wollen wir mal sehen, wie sich ein kommunistischer Transportminister aus der Affäre zieht, wenn es — was ganz schnell passieren kann — auch unter einer linken Regierung zu Streiks im Verkehrswesen kommt, die das Land lahm zu legen drohen und die für die multinationalen Konzerne in Zeiten der Just-In-Time-Produktion lebenswichtigen interkontinentalen Verbindungen unterbrechen! 1984 war eine linke Regierung nicht gefährdet durch das Ausscheiden der Kommunisten, die Sozialisten hatten ohnehin die absolute Mehrheit. Anders heute, da belastete ein Ausstieg der Kommunisten sie mit der Verantwortung für das Scheitern des linken Projekts überhaupt.

Andererseits hat Chirac für die Rechte durchaus noch einen Joker im Ärmel, falls Jospin Probleme bekommt, seine Wahlversprechungen einzulösen und die Stimmung im Land umschlägt: Die Verfassung erlaubt ihm, in einem Jahr erneut die Nationalversammlung aufzulösen und bei nochmaligen Wahlen kann es im Parlament am Ende wieder ganz anders aussehen. Immerhin ist seit 1981 jede amtie­rende Regierung, ob linker oder rechter Couleur, abgewählt worden. Der bekannte konservative Politiker Alain Peyrefitte, Senator und Leitartikelschreiber in ,,Figaro“, bastelt nach verschiedenen Meldungen bereits eifrig an einem Modell, das Stimmpotential der Front National für die Rechte nutzbar zu machen.

Wie wenig auch lange die Macht ausübende linke Parlamentsmehrheiten unter den Bedingungen des bürgerlichen Parlamentarismus Aussicht auf gesellschaftsverändernde Beständigkeit haben, bewies uns da gerade letztes Jahr erst Spanien. Nach 13 1/2 Jahren Regierungsverantwortung wurden die Sozialisten unter Felipe Gonzales – übrigens bevorzugter politischer Partner von Helmut Kohl – unter dem Druck bis in höchste Regierungskreise reichenden Korruptionsskandal und wegen des Verdachtes des Staatsterrorismus – Bildung von ,,Todesschwadronen“ im Kampf gegen die ETA — abgewählt. Aber das Negativbeispiel ,,Spanien“ kommt im hoffnungsvollen Zukunftsgemälde von Manfred Sohn nicht vor, es liegt halt nicht in dem von ihm ausgemachten Trend. Nicht kleinlich in der Wortwahl, schweigt er lieber in der Hoffnung auf ,,titanenhafte“ Auswirkungen, wenn erst die durch den Kapi­talismus arbeitslos gemachten Menschen ihre bisherige Resignation überwänden und dann natürlich an den Wahlurnen, so meint er wohl, die ,,richtige“ Entschei­dung träfen. Das beflügelt ihn dann zu dem Satz: ,,Denn wir sind Zeugen einer Entwicklung, für die das oft überzogen gebrauchte Wort `historisch` tatsächlich zutrifft. Sein Wort in das Ohr unserer Klassiker — nur hätten die bei einer Analyse wahrscheinlich nicht übersehen, dass einer Statistik aus ,,Le Monde“ zufolge, in Frankreich 49 Prozent der abstimmenden Arbeitslosen das Rechtsbündnis und die Nationale Front gewählt haben – die NF sogar weit überproportional! Und in Spanien haben sogar 23 Prozent Arbeitslose die Sozialisten nicht vor der Abwahl gerettet!

 

Linker Hoffnungsschimmer für die BRD?

Nur gut, dass wir in der Bundesrepublik erst im nächsten Jahr große Wahlen haben. Gäbe es schon jetzt, wie die Umfragen ausweisen, .einen Wahlsieg der Schröder-Lafontaine-SPD und der Fischer-Grünen, die Euphorie von Manfred Sohn würde wohl überborden. Aber, so weit ist es noch nicht und so beschränkt er sich denn auf die immerhin hoffnungmachende Bemerkung, auch Kohl und Konsorten dämmere es, ,,dass die Entwicklung um dieses Land keinen Bogen macht“. Also, irgendwie kam mir diese Floskel bekannt vor. Ach ja, „Freud lässt grüßen“, das Unterbewusstsein hat da wohl Manfred Sohn die Feder geführt. Erich Honecker war es, der in seiner bekannten Geraer Rede davon sprach, auch um die Bundesrepublik ,,werde der Sozialismus keinen Bogen machen.“ Diene sprach­liche Nettigkeit bei Sohn gibt mir doch Gelegenheit, auch mal etwas Positives über den Autor zu sagen. Sie verrät, in welchem politischen Umfeld er seine Prägung erfahren hat und das ehrt ihn.

,,6.500 in der DKP organisierte KommunistInnen“

Dagegen ehrt ihn nicht eine andere Aussage in seinen Text, die ebenfalls ein­deutig durch seine politische Prägung vorgegeben ist, nämlich die von den ,,6.500 in der DKP organisierten Kommunistlnnen“. Was soll diese Karteizahl ohne irgendwelche näheren Angaben in einem Text, der Ermutigung für einen neuen revolutinären Aufbruch vermitteln will? Die Zahl soll, nach dem, was hinter den Kommunisten liegt, ein Bild wiedergewonnener Stärke aufbauen. Tatsächlich läuft es aber auf eine Wiederholung der eiligst betriebenen politischen Falsch­münzerei hinaus, als bei der DKP von „fast 60.000 Mitgliedern” die Rede warf l).Heute wissen wir, dass es de facto niemals mehr als 30.000 waren! Die Karteizahl von 6.500 mag ihre Richtigkeit haben, aber sie sagt nichts über wirkliche politische Effizienz aus. Laut Mitteilung des PDS-Geschäftsführers Bartsch sind 67 Prozent der PDS-Mitglieder älter als 60 Jahre, lediglich 10 Prozent unter 40 Jahren und nur ganze zwei Prozent Jünger als 30 Jahre! (FA/,, 26.5.’97). Man darf vermuten und der Augenschein bestätigt es, wenn man mal auf DKP-Veranstaltungen ist, dass die Altersstruktur der DKP ähnlich sein wird. Es halten offenbar am ehesten noch die zur Sache, die wir immer noch „für die beste der Welt” halten, die ihre politische Sozialisation in der glücklich und endlich überwundenen Stalin-Epoche erfahren haben. Als fast Siebzigjähriger liegt es mir natürlich fern, uns Ältere abzuschreiben. Aber es bedarf doch keiner Erläuterung, dass die Zukunft nur hei den anderen Altersgruppen liegen kann, und da dürfte es bei der DKP so betrüblich aussehen wie aus den obigen Angaben für die PDS ersichtlich. Da ist es kein Trost, dass es auch im bürgerliche» Spektrum nicht hesser steht. Nach einer kürzlich im Deutschlandfunk gemachten Angabe sind nur 2 Prozent der CDU-Mitglieder unter 25 Jahre alt, die Nachwuchsprobleme der SPD sind ebenfalls bekannt. Aber im Hinblick auf die DKP das wirklich existenzbedrohende Problem der völlig unbefriedigenden Allersstruklur durch platte Nennung der Karteizahl zu ignorieren, das ist nichts anderes als die Schönfärberei alten Stils.

Entspricht aber voll und ganz dem sonstigen Tenor des Textes von Manfred Sohn, der -sicherlich in bester Absicht, das ist ihm natürlich zugebilligt, – auf der Grundlage einiger Wahlergebnisse im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus gleich in System verändernde sozialistische Zukunftsphantasien verfällt und dabei genau die Fehler wiederholt, die wir früher gemacht haben. Nur die Grundlage dieses Fehlers ist heute eine andere, früher war das Vertrauen in die Stärke des sozialistisches Lagers und die Unumkehrbarkeit eingetretener gesellschaftlicher Veränderungen die Basis für, wie sich herausgestellt hat. völlige Fehleinschätzungen der revolutionären Perspektive.

Welche seltsamen Blüten diese geradezu bizarre Verleugnung der Realitäten aus Parteitreue trieb, macht eine Äußerung des Parteivorstandes der DKP, abgedruckt in der „UZ“ vom 21.12.1988 deutlich: ,,Wir verfolgen die Prozesse in der Sowjetunion, aber auch die Veränderungen in den anderen sozialistischen Ländern mit Begeisterung“, ließ Rolf Priemer im Namen des Parteivorstandes der DKP in Vorbereitung des Parteitages verlauten. Heute ist Rolf Priemer Chefredakteur der „UZ“, in der der Wunschdenken verbreitende und Illusionsmacherei darstellende Text von Manfred Sohn veröffentlicht wurde.

Die Fixierung von Manfred Sohn auf einige natürlich bemerkenswerte Wahlergebnisse belegt, dass heutige Grundlage für revolutionäres Wunschdenken und politische Illusionsmacherei die aus dem seinerzeitigen Konzept der ,,Antimonopolistischen Demokratie“ erwachsene Vorstellung ist, das System mit im Rahmen des Systems liegenden Mitteln zu überwinden.

 

„Verzweifelte Großkapitalisten“!

Nun ist die Illusionsmacherei von Manfred Sohn in der ,,ZU“ in der DKP kein Einzelfall und. dieser Umstand ist der eigentliche Anlass für mich, die­sen Aufsatz so ausführlich zu behandeln. Wie anders denn als “Illusionsmacherei“ soll man es bezeichnen, wenn die ,,UZ“ in ihrer Ausgabe vom 6.6.’97 eine Wirtschaftskolumne von Prof. Jürgen Kucszynski veröffentlicht unter der Überschrift ,,Verzeifeltes Großkapital“. Realiter, fürchte ich, ist es dem Großkapital weltweit wirklich noch nie so glänzend gegangen wie gegenwärtig. Nun bezog sich Kuczynski – dessen Leistung als Wirtschaftshistoriker in der DDR völlig außer Frage steht – auf das deutsche Großkapital. Als Kuczynski diese famose Überschrift formulierte, stand der deutsche Aktienindex bei 3.000 Punkten, sechs Wochen später hatte der ,,Dax“ die Marke von 4.200 übersprungen, eine – wenn zunächst auch spekulative – Wertsteigerung über 30 Prozent! Sollen wir das als sichtbares Zeichen für die Verzweiflung unserer Großkapitalisten sehen, die offenbar nicht mehr woanders hin wissen mit Ihrem sauer verdienten Geld, als an der Börse wertlose Aktien zu kaufen? Kommentar überflüssig!

,,Gibt es Kapitalismus ohne Ausbeutung?“

Nicht überflüssig zu kommentieren ist es, wenn Ellen Weber, Mitglied des Parteivorstandes der DKP, auf einer Veranstaltung des Parteivorstandes zur Erinnerung an den Stuttgarter Kongress der Internationale 1907 per Anzeige in der ,,UZ“ angekündigt wird mit einem Referat: ,,Nach dem Sieg im Kalten Krieg: Ist der Kapitalismus friedensfähig?“(2). Diese Frage kann ernsthaft doch nur jemand stellen, der nach Möglichkeiten friedlicher Systemveränderung sucht. Vielleicht sollte man Ellen Weber bei ihren weiteren Kapitalismus-Forschungen zu der Fragestellung raten, ob ,,Kapitalismus ohne Ausbeutung“ möglich ist. Wenn ja, dann bräuchte man schließlich den Kapitalismus gar nicht mehr abzuschaffen, an welcher Aufgabe wir uns seit 150 Jahren die Zähne ausbeißen. Dann genügte es doch, in Kapitalismus die Ausbeutung abzuschaffen – fertig ist die sozialistische Schrebergartenlaube als Heimstatt einer glücklichen Menschheit!

„Vorwärts zum Sozialismus“ mit dem Grundgesetz unter dem Arm!

Wo man auch hinschaut – überall lugt bei der DKP und in ihrem Umfeld die Suche nach einem gewaltsame Konflikte vermeidenden Weg zum Sozialismus hervor.

Auf den Beitrag von Hans Wunderlich in den ,,Marxistischen Blättern“ 6/96, in dem er als einen Weg, ,,revolutionäre Veränderungen“ zu realisieren, sich auf die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes bezieht, hatte ich schon bei frü­herer Gelegenheit hingewiesen. Immerhin hatte er aber doch einschränkend noch vermerkt, diese revolutionären Veränderungen seien ,,auf verschiedene Art und Weise denkbar und nicht vorauszusagen“.

Völlig eindeutig hinsichtlich der Ausschließlichkeit des ,,parlamentarischen Weges“ dagegen äußert sich dann in ,,Marxistische Blätter“ 3/97 der Historiker Prof. Dr. Heinz Karl in dem ,,Linke Widerstände gegen die Volksfront“ über­schriebenen Artikel. Heißt es doch da: ,,Überhaupt ist festzustellen, dass in allen diesen Polemiken gegen die Volksfrontpolitik das Problem einer möglichen Ent­wicklung der Demokratie über den bürgerlichen, kapitalistischen Horizont hinaus völlig ignoriert wird. Aber gerade dies ist doch einer der wichtigsten Aspekte des Kampfes um Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft, heute wohl der entscheidende – oder sogar der allein gangbare – Weg des Übergangs von der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft. Die Aktualität dieses Problems liegt nicht zuletzt darin, dass die optimale Ausschöpfung der Möglichkeiten des Grundgesetzes und der parlamentarischen Demokratie für eine gesellschaftliche Weiterentwicklung gerade in diesem Kontext zu sehen ist“.

Leider, leider verbietet es die vom Umfang her notwendige Beschränkung, das Zitat weiter fortzuführen. Jedenfalls sind diese Passagen des in anderer Be­ziehung durchaus akzeptablen Artikels sozialdemokratisches Gedankengut in Reinkultur. Bei der Gelegenheit: Weil gerade von Heft 4/97 der ,,MBl“ die Rede ist – auf welches Niveau die Debatte mittlerweile gesunken ist, macht der Ar­tikel von Manfred Sohn ,,Imperialismus und/oder Neoliberalismus?“ deutlich, im dem er sich – wofür ihm natürlich zu danken ist – veranlasst sieht, sogar in der Diskussion mit ,,Marxisten“ den Begriff ,,Imperialismus“ zu verteidigen. Aber das nur nebenbei.

 

Sozialismus: „Sowjetmacht plus Internet und Love Parade“?

Immerhin noch beim Namen genannt wird das Problem möglicher Gewaltanwendung im Klassenkampf in dem programmatischen Entwurf über die Sozialismusvorstellungen der DKP vom Dezember ’96: ,,Sozialismus — die historische Alternative zum Imperialismus“. Zitat: “Die Erfahrungen des Klassenkampfes lehren, dass die Monopolbourgeoisie, wenn sie ihre Macht und Privilegien bedroht sah, stets versucht hat, den gesellschaftlichen Fortschritt mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bis hin zur Errichtung faschistischer Diktaturen und zur Entfesselung von Bürgerkriegen zu verhindern. Im harten Kampf muss ihr unvermeidlicher Widerstand überwunden und ein solches Übergewicht der zum Sozialismus strebenden Kräfte erreicht werden, dass es er­möglicht, die Reaktion an der Anwendung blutiger, konterrevolutionärer Gewalt zu hindern und den für das arbeitende Volk günstigsten Weg zum Sozialismus durchzusetzen.“

Problem erkannt – aber nicht gelöst! Mein Artikel beginnt mit dem Satz: „Der Blick in die Zukunft ist, das lehren uns 150 Jahre Geschichte der marxistischen Arbeiterbewegung, ein schwieriges Geschäft.“ Er ist nicht möglich ohne den Blick in die Vergangenheit und wenn diese Vergangenheit etwas lehrt, das doch dieses, dass die imperialistischen Ausbeuter noch nie und nirgendwo abgetreten sind, ohne gewaltsamen, blutigen, konter-revolutionären Widerstand zu leisten. Das wird in dem Entwurf auch anerkannt. Die angebotene Lösung des Problems aber ist konkret betrachtet und rein gedanklich ein Unding. Unter den bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ja immer noch fortbestehenden imperialistischen Machtstrukturen ,,ein solches Übergewicht der zum Sozialis­mus strebenden Kräfte“ zu erreichen, ,,das es ermöglicht, die Reaktion an der Anwendung blutiger, konterrevolutionärer Gewalt zu hindern“, wie es in dem Entwurf heißt, bedeutet, die Sache auf den Tag des Jüngsten Gerichts zu verschieben. Es bedeutet, um es bildhaft zu machen, Überschwemmungen verhindern zu wollen, indem man dafür sorgt, dass es nicht zu viel regnet!

Ich erspare mir hier die sattsam und allseits bekannten Zitate unserer Klas­siker zum Problem der revolutionären Gewalt. Es ist doch gerade der Kerngehalt des Leninismus als der Konkretisierung des Marxismus für die Epoche des Imperialismus, dass eben diese die Anwendung von Gewalt verhindernde Zügelung der konterrevolutionären Kräfte n i c h t m ö g l i c h   ist! Ich bin ganz sicher, dieser Käse, dass man so stark werden muss, um die Bourgeoisie an der Ausübung von Gewalt hindern zu können, steht schon irgendwo bei Bernstein oder Kautsky. Die Experten werden wissen, wo, die Diskussion zu dem Thema ist ja uralt.

Rein gedanklich ist dieser Versuch der Lösung des Problems so ein Unding wie damals in der unsäglichen Debatte über die ,,Friedensfähigkeit des Imperialismus“ die von den Anhängern dieser These den Kritikern gegebene, wahrhaft entwaffnende Antwort ,,Man muss die Imperialisten eben zum Frieden zwingen!“ Was sollte man da noch sagen gegenüber solcher Naivität? Wenn wir so stark sind, den Imperialismus “zum Frieden zwingen“ zu können bzw. den inneren Klassenfeind an der Ausübung konterrevolutionärer Gewalt zu hindern — warum machen wir dann nicht gleich Schluss mit dem imperialistischen System weltweit und dem Klassenfeind im Inneren?

Contradictio in adjecto — ein Widerspruch in sich! ,,Illusionsmacherei“ – aus meiner Sicht – auf höchster Ebene! Dass das da möglich ist, darin sehe ich die Ursache für die anderen Erscheinungen dieser Art, die ich registriert habe.

Dass das so ist, dafür spricht der Umstand, dass Meinungsäußerungen, die unsere traditionellen Auffassungen als Marxisten-Leninisten beinhalten, praktisch keine Aussicht auf Publizierung haben. Die Verantwortung dafür liegt bei den zuständigen Institutionen und Redaktionen.

Nun kann ich natürlich so wenig in. die Zukunft sehen wie andere Leute und am Ende behält vielleicht doch Manfred Sohn recht, wenn er die sicherlich griffige Formel der Schicki-Micki-Sozialisten aufnimmt ,,Sozialismus ist Sowjetmacht plus Internet“.

Man stelle sich vor, die bald vielleicht schon Billionen Computer-Beschäftigten auf Heimarbeitsplätzen legen die betrieblichen „connections“ lahm und im Internet erscheinen statt Werbespots nur noch revolutionäre Losungen! ,,Computerfreaks aller Länder, vereinigt Euch!“

Wenn diese Parole dann die Millionenmasse auf der Love-Parade ergreift und so die ,,Idee zur materiellen Gewalt wird“ dann behalten am Ende doch Marx und Man­fred Sohn recht und wir sind stark genug, die Konterrevolution von der Anwendung blutiger Gewalt abzuhalten.

,,Lasst sozialistische Sonne gewaltfrei in Eure Herzen scheinen“ schlägt vor

Rolf Vellay, 5. September 1997

Anmerkungen:

  1. Hubert Reichel, langjähriger ,,uz“Redakteur, schwärmte in seiner Zeitung noch am 28. Oktober 1994 von einstmals ,,fast 60 000 DKP-Mitgliedern“.
  2. Vielleicht hat ja Ellen Weber ihr Referat gar nicht gehalten. Jedenfalls fand ich in der ,,uz“ bislang über diese Veranstaltung immerhin des Parteivorstandes keinen Bericht – falls ich nicht etwas übersehen habe. Wir wissen alle, wie schnell das geht.