Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?

Rosa  Luxemburg
Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?

Es handelt sich um einen Auszug aus dem Aufsatz: „Und zum dritten Male das belgische Experiment“. Die obige Überschrift stammt aus dem gleichen Aufsatz und steht unmittelbar vor dem hier Zitierte. Dort sagt Rosa Luxemburg: „Ja, fragen wir besser: Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?“und  gibt in den beiden folgenden Absätzen die hier abgedruckte Antwort. Redaktion „offen-siv“

Wenn ein “freier Bürger” von einem anderen gegen seinen Willen, zwangsweise in ein enges, unwohnliches Gelass gesteckt und dort eine Zeitlang gehalten wird, so versteht jeder, das dies ein Gewaltakt ist. Sobald jedoch die Operation auf Grund eines gedruckten Buches, genannt Strafkodex, geschieht und das Gelass “königlich-preußisches Gefängnis” oder Zuchthaus heißt, dann verwandelt sie sich in einen Akt der friedlichen Gesetzlichkeit. Wenn ein Mensch von einem anderen gegen seinen Willen zur systematischen Tötung von Nebenmenschen gezwungen wird, so ist es ein Gewaltakt. Sobald aber dasselbe “Militärdienst” heißt, bildet sich der gute Bürger ein, in vollem Frieden der Gesetzlichkeit zu atmen. Wenn eine Person von einer anderen gegen ihren Willen um einen Teil ihres Besitzes oder Verdienstes gebracht wird, so zweifelt kein Mensch, dass ein Gewaltakt vorliegt, heißt aber dieser Vorgang “indirekte Steuer-erhebung”, dann liegt bloß eine Ausübung der geltenden Gesetze vor.

Mit einem Worte: Was sich uns als bürgerliche Gesetzmäßigkeit präsentiert, ist nichts anderes als die von vornherein zur verpflichtenden Norm erhobene Gewalt der herrschenden Klasse. Ist diese Festlegung der einzelnen Gewaltakte zur obligatorischen Norm einmal geschehen, dann mag die Sache sich im bürgerlichen Juristenhirn und nicht minder im sozialistischen Opportunistenhirn auf den Kopf gestellt bespiegeln: die “gesetzliche Ordnung” als eine selbständige Schöpfung der “Gerechtigkeit” und die Zwangsgewalt des Staates bloß als eine Konsequenz, eine “Sanktion” der Gesetze. In Wirklichkeit ist umgekehrt die bürgerliche Gesetzlichkeit (und der Parlamentarismus als die Gesetzlichkeit im Werden) selbst nur eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsform der aus der ökonomischen Basis emporge-wachsenen politischen Gewalt der Bourgeoisie.

Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 1, 1893 bis 1905, Zweiter Halbband, Dietz Verlag Berlin 1974; Seite 242.