Zum Stand der Neuherausgabe des „Lehrbuchs politische Ökonomie“

Gerald Hoffmann:
Zum Stand der Neuherausgabe des „Lehrbuchs politische Ökonomie“

Wie bereits in offensiv 9/04 erwähnt, arbeitet derzeit ein Kollektiv an der Neuherausgabe des erstmals 1954 auf russisch veröffentlichten und 1955 im Dietz Verlag als Übersetzung erschienenen „Lehrbuchs politische Ökonomie“. Hier soll über Zielsetzung und Zwischenstand der Arbeit berichtet werden.

1. Das Vorhaben, heute ein Lehrbuch für politische Ökonomie herauszugeben, bedarf wohl keiner besonderen Rechtfertigung. Jede/r über die Gemeinplätze parlamentarischer Tagespolitik hinaus Interessierte und politisch Engagierte wird über kurz oder lang auf die Tatsache stoßen, dass die politischen und sozialen Kämpfe einer jeden Gesellschaft sich letztlich um die Produktions- und damit Eigentumsverhältnisse drehen: Wer verfügt über den Reichtum der Gesellschaft? Wer bestimmt über die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verteilung der Arbeit? Welchen Einfluss haben die arbeitenden Menschen auf die Bedingungen, unter denen sie die beste Zeit ihres Lebens – eben ihre Arbeitszeit – verbringen? In welcher Höhe nehmen die unterschiedlichen Klassen und Schichten der Bevölkerung am Nationaleinkommen teil? Wirkliche Antworten kann hier nur eine Wissenschaft geben, welche die Gesetze der Produktionsverhältnisse der Menschen untersucht, und das ist heute nur die marxistische politische Ökonomie.

2. Politökonomische Lehrbücher gibt es indessen auch ohne Neuherausgabe des „Klassikers“, warum also der blaue Band von 1955? Zunächst ist festzustellen: die antiquarischen Bestände aus der DDR beginnen zu versiegen. Aber dann steht immer noch die Frage: warum gerade dieses und kein anderes Lehrbuch? Zum einen sind die späteren politökonomischen Gesamtdarstellungen aus der Sowjetunion und der DDR schwierig zu handhaben, weil sie auf 800 bis 2700 Seiten in bis zu vier Bänden anschwellen. Das ist heute nicht finanzierbar, es ist für die studierende Jugend unzumutbar und – es ist unnötig zur Auffrischung marxistischen Grundwissens. Weiter: politökonomische Darstellungen der 60er Jahre (etwa das Lehrbuch „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“) vermengen z.T. unzulässig aktuelle Diskussionen um bestimmte Probleme der Entwicklung des Sozialismus mit der Darstellung gesicherten Wissens und verlieren auf diese Weise ihren Überblicks-Charakter. In den 1970er Jahren traten einführende Darstellungen zurück gegenüber Fach- und Hochschullehrbüchern sowie gegenüber Spezialuntersuchungen (etwa zur Geschichte des ökonomischen Denkens, zur Wirkungsweise der ökonomischen Gesetze des Sozialismus usw.

3. Unser Lehrbuch soll eines für die fortschrittliche Jugend sein sowie für Menschen, die in der Gewerkschafts- und Sozialbewegung wirken und sich um weitergehende Orientierung bemühen. Warum erfüllt die Ausgabe von 1955 diesen Zweck?

  • Das Lehrbuch bietet eine methodisch und didaktisch einheitliche Darstellung der politischen Ökonomie auf rund 600 Seiten. Es ist prägnant, ohne unzulässig zu verkürzen. Es führt in die grundlegenden Probleme der politischen Ökonomie ein und gibt eine marxistische Darstellung aller geschichtlich vorkommenden Produktionsweisen.
  • Das Lehrbuch gibt einen verständlichen Abriss der Marxschen Kapitalismusanalyse, der keine Vorkenntnisse, sondern nur Interesse verlangt und schafft so die Grundlage zu weiterer eigenständiger Beschäftigung mit der politischen Ökonomie.
  • Das Lehrbuch umfasst alle geschichtlich vorkommenden Produktionsweisen von der Urgesellschaft bis zum Sozialismus/Kommunismus. Es beginnt vom einfachsten ökonomischem Faktum, arbeitet sich systematisch hinauf zu den Grundfragen des politischen Klassenkampfes und kritisiert schließlich die Ideologien, welche Ausbeutungsverhältnisse rechtfertigen. Auf diese Weise zeigt es zugleich den Zusammenhang der wissenschaftlichen politischen Ökonomie mit den Grundeinsichten des dialektischen und historischen Materialismus sowie mit dem wissenschaftlichen Sozialismus als der Lehre vom Klassenkampf.
  • Schließlich behandelt das Lehrbuch im Zusammenhang mit der sozialistischen Produktionsweise die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, auf denen die historisch einmaligen (und heute gern „vergessenen“) Leistungen im Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion beruhten – ihre Entwicklung von einem Agrar- in ein Industrieland sowie die Überlegenheit ihres sozialistischen Gesellschaftssystems im Zweiten Weltkrieg.

4. Die Arbeit am Lehrbuchtext erwies sich als schwieriger und langwieriger denn erwartet. Ziel war und ist – wo nötig – eine Präzisierung anhand der Klassiker des Marxismus-Leninismus sowie eine behutsame Aktualisierung und leichte Kürzung des Textes. Aber was als einfache „Begleitung“ des Texteinscannens gedacht war, erfordert immer wieder eingehende Diskussionen darüber, wie weit der Text zu kürzen, umzustellen oder zu ergänzen ist und welches weitere Material herangezogen werden soll, um das Buch für die heutige Leserschaft zu einem brauchbaren Lehr- und Lernmaterial zu machen. Immerhin sind seit Erscheinen des Lehrbuchs 50 Jahre vergangen. Auch wenn die ökonomischen Gesetze selbst unveränderlich sind und heute wie nach Ende des zweiten Weltkrieges wirken, so ist doch die Entwicklung des Sozialismus wie auch Imperialismus nicht stehen geblieben. Nötig ist daher erstens ein zusätzlicher Abschnitt über die ökonomischen Gründe der Konterrevolution in der Sowjetunion und den europäischen Volksdemokratien. Ein weiterer Abschnitt muss diejenigen Entwicklungen skizzieren, welche der Imperialismus mit dem Wegfall des sozialistischen Weltsystems durchmachte und inwieweit sich dies niederschlug im Kräfteverhältnis von Bourgeoisie und Arbeiterklasse, d.h. in den Kampfbedingungen für die Befreiung der werktätigen Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung. Schließlich muss es einen kurzen theoriegeschichtlichen Exkurs auch für den Sozialismus geben, welcher im Lehrbuches nur für Urgesellschaft, Sklavenhalterepoche, Feudalismus und Kapitalismus vorliegt. 1954 war ja nicht absehbar, wie sehr sich innerhalb der sozialistischen Staaten die politökonomischen Ansichten (etwa zur Warenproduktion im Sozialismus) einmal ändern würden.

Der Redaktion wird es wohl gelingen, bis Frühjahr 2006 in „ehrenamtlicher“ Arbeit einen redaktionell überarbeiteten, zu weiterem Studium sowie zur Diskussion anregenden Lehrbuchtext vorzulegen. Aber es fehlt noch Geld für die Herausgabe des Lehrbuches! Wer sich also für politische Ökonomie interessiert, wer die Notwendigkeit eines marxistisch-leninistischen Lehrbuches im Prozess der Neuformierung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung anerkennt – sollte überlegen, welchen finanziellen Beitrag er oder sie dazu leisten kann.

Gerald Hoffmann, Berlin