Irene Eckert:
Bolivien – ein Reisebericht
O Bewegung, O schwer verwunderter Name, O Löffel wirren Windes
Aus Pablo Neruda „Beleidigtes Land“ in der Übersetzung von Anna Seghers (1949)
Gewidmet dem 2. Jahrestag der Wahl von Evo Morales, dem ersten indigenen Präsidenten Amerikas am 18. Dezember 2007
Nach Santa Cruz de la Sierra in Bolivien zog mich im Juli 2007 eine internationale Frauenfriedenskonferenz und natürlich der Ruf nach sozialem Wandel, für den die Regierung von Evo Morales Ayma im Dezember 2005 angetreten war. Der Konferenz-Ort war ein Fünfsternehotel in der nach Norden schielenden Provinzhauptstadt. Der Besitzer sympathisiert mit den Zielen der dort rührigen Frauenvereinigung. Immerhin verkörpert diese eine der ältesten bei der UNO akkreditierten NGOS. Die Erwartungshaltung gegenüber NGOS ist auch heute in den Entwicklungsländern noch unangemessen groß. Die LIMPAL* oder WILPF* zu Deutsch „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) ist eine sich politisch definierende Organisation, kein Hilfswerk. An ihrer Wiege standen Suffragetten, Frauenrechtlerinnen der ersten Stunde, Juristinnen, Sozialphilosophinnen, sozial engagierte Frauen aus bürgerlichen Kreisen, die sich inmitten des Ersten Weltkrieg im Haag als Kriegsgegnerinnen zusammengefunden hatten. Es waren ihrer damals weit über Tausend. Von dort aus sandten sie Botinnen zu allen Krieg führenden Parteien und legten den Grundstein zu Wilsons 14 Punkte Programm. Vier Friedensnobelpreisträgerinnen zählt die IFFF in ihren Reihen, dementsprechend konnte der Kongress Hoffnungen wecken auf klare Statements gegen die laufenden Kriege und solche, die in Planung sind.
Nun, die bolivianischen Frauen verdeutlichten gemeinsam mit den Repräsentantinnen anderer latein-amerikanischer Länder, worum es ihnen vor allen Dingen geht, nämlich dem Hunger Einhalt gebieten und der neokolonialen Ausbeutung, die ihn hervorbringt. Über den Reichtum ihres jeweiligen Landes in eigener Regie verfügen dürfen. Die geladenen Vertreterinnen der sozialen Bewegungen aus dem Hochland verließen aber schon nach zwei Tagen den Kongress, auf sie warteten drängendere Aufgaben.
Bolivien, das lernt man nicht wirklich in Santa Cruz kennen, dem Eldorado der vielfach Begünstigten, indem überwiegend hoch gewachsene Weiße ununterbrochen Schönheitswettbewerbe abhalten. Das eigentliche, ursprüngliche Bolivien, so erfuhr ich auf meiner an den Kongress anschließenden zweimonatigen Reise, kreuz und quer durch das über eine Million Quadratkilometer weite Land, ist multiethnisch, ist vielfältig. Das Bild der Frauen, die die Landesmehrheit verkörpern, ist eher klein und dunkelhäutig. Allgegenwärtig sind im Hochland die gegerbten Gesichter von Menschen, die auf dem Felde arbeiten unter der sommers wie winters sengenden Sonne. Tiefschwarz sind die traditionellen Zöpfe der ewigfleißigen indigenen Frauen und der Anblick ihrer Trachten bietet ein buntes Bild. Das Hochland Bolivien der Anden betört den Reisenden mit atemberaubender Naturschönheit. Blaubraun schimmern die Bergriesen, die auf die alte Hauptstadt Sucre herabblicken. Frühes Geschnatter von Papageienscharen weckt den Langschläfer in den Yungas, das Grüngold glänzender Kolibris an orangefarbenen Blütenkelchen verzaubert in Samaipata. Es fasziniert dort auch das Ruinenfeld der Incas, El Fuerte, das in bessere Zeiten zurückverweist. Im Inkareich sorgte wissenschaftliche Planung des Anbaus und ein ausgeklügeltes Versorgungssystem dafür, dass niemand darben musste. Das war vor der „Entdeckung“ durch El Colon, den Kolonisator. In relativer Nähe zum Inka-Ruinenfeld wurde bei La Higuera, nahe des Ortes Vallegrande vor 40 Jahren der Che mit seinen Leuten im Auftrag des CIA ermordet, der sich – ähnlich wie die Incas – neuer Beliebtheit im Lande erfreut. Aber noch tragen die landesweit 36 Ethnien schwer am kolonialen Erbe: Meist sind es Frauen, die nicht nur Kinder, sondern alles Mögliche durchs Land schleppen in Hand gewobenen schillernden Tüchern.
Bolivien ist neben dem ruhigen Fleiß seiner Bewohner vor allem Stille, Erdkraft und Erdverbundenheit, gleißende, brennende Sonnenglut auch am winterlichen Tage und feuchte, manchmal eisige Kälte in der Nacht. Die Nacht etwa auf der Isla del Sol mitten im Titicaca-See wird nicht gestört durch elektrisches Licht. Wer nach Sonnenuntergang sein Quartier nicht gefunden hat und der Höhenkrankheit Soroche ausgeliefert ist, tut sich schwer, den sternklaren Himmel der Milchstraße mit anschließendem Wetterleuchten zu bewundern. Noch weniger freut er sich über das Donnergrollen und den niederprasselnden Regen. Die Inselbewohner sind an ein karges Leben gewohnt. Sie werden nur entschädigt durch die überwältigende Schönheit der sie umgebenden Natur, die von keinem Motorengeräusch beeinträchtigt wird. Diese Menschen, die sich seit der Zerstörung des frühsozialistischen Inkareichs in Geduld üben lernten, sind erfinderisch. Wieder sind es vor allem die Frauen, die all die schönen Dinge herbeizaubern, die die Reisenden erfreuen und sie sind auch die Quartiermacher auf der weit ab gelegenen, heiligen Insel.
Angesichts der nicht vorhandenen Arbeitsplätze und in Anbetracht der Niedrigstlöhne und noch kaum sichtbaren Entwicklungsmöglichkeiten zieht es aber – trotz aller Liebe zu ihrem Land – Ungeduldige und Hoffnungsfreudige in großer Zahl in die Ferne, nach Argentinien etwa, in die dortige Hauptstadt Buenos Aires oder gar nach Spanien.
Bolivien ist nämlich für die Mehrheit seiner Bürger noch immer bitterste Armut, Unterentwicklung, Hunger und das trotz all des vorhandenen Reichtums an Biodiversität und an Bodenschätzen. Außer den Erdgas und -ölvorkommen – 90% davon noch unerschlossen – gibt es etwa Zink, Blei, Kupfer, Litium, Wolfram und Salpeter. Das Land verfügt auch über einen großen Vorrat an Süßwasserreserven und tradierter Kulturweisheit. Aber das seit 1825 unabhängige Land, wurde nach dem verehrten Gründungsvater und Namensgeber Simon Bolivar lange von wenig patriotischen Diktatoren gelenkt. Seit 1985 trat das neoliberale Projekt der Privatisierung sämtlicher Landesreichtümer in Bolivien seinen Siegeszug an. Unter acht Präsidenten innerhalb von 20 Jahren wurde alles achtlos und billig verscherbelt, was dem Land noch gehörte. Zwei Drittel der Bevölkerung des 9 Millionen Völkchens verfügen in dem reichen Land über weniger als einen Dollar pro Tag. Das Straßennetz ist zu Zwei Dritteln unbefestigt. Das Schienenetz und die Eisenbahn sind an Chile verkauft worden. Die heftigen sozialen Kämpfe werden bis heute häufig über Straßensperren ausgetragen, die den einfachen Menschen das Leben noch mehr erschweren.
Dabei ist der Binnenstaat Bolivien flächenmäßig fast dreimal so groß wie die Bundesrepublik und verfügt im Rohstoff reichen und fruchtbaren Osten des Landes, dort wo Großgrundbesitz regiert, über eine teilweise industrialisierte Land- und Forstwirtschaft. Großflächiger Sojaanbau heißt etwa in der nordöstlichen Provinz Beni das Gebot der Stunde. Soja für die Herstellung von Biodiesel, was die Subsistenzwirtschaft betreibenden Kleinbauern im Altiplano, dem Hochland, empört. Die Regierung Morales positioniert sich allerdings gegen genmanipuliertes Saatgut und Biotreibstoff anders als der Nachbar Lula in Brasilien.
Bolivien ist also ein Paradebeispiel für die „Segenswirkung“ von Kolonialismus und neoliberalem Kapitalismus. Das Land mit all seinen Naturreichtümer wurde Jahrhunderte lang seiner natürlichen Schätze wegen versklavt und ausgebeutet. Besonders sichtbar wird das an Potosi mit seinem Silberberg, dem „Cerro Rico“, einer Stadt, von der man sagt, dass sie im 17. Jahrhundert so reich war, dass angeblich selbst die Hufeisen der Pferde aus Silber waren. Die über 4000m hoch in den Anden liegende, höchste städtische Agglomeration der Welt hatte schon Ende des 16. Jahrhunderts so viele Einwohner wie London, eine der größten und reichsten Städte der Welt. Der Cerro Rico, der reiche Hügel, lieferte den Kolonisatoren so viel Silbermetall, dass einige bolivianische Schriftsteller behaupten, man habe damit eine silberne Brücke vom Gipfel des Cerro bis zum Tor des königlichen Palastes in Spanien bauen können. Mit der Entdeckung der Gold- und Silberlager in Amerika begann aber der Kreuzzug der Vernichtung, der Versklavung und der Beerdigung der eingeborenen Bevölkerung in den Minen. Es sind dies Geschehnisse, die nach Marxens Kapital (Bd. I) den Beginn der kapitalistischen Produktionsära ankündigten, es sind ihm gemäß Hauptfaktoren der ursprünglichen Kapitalanhäufung. (zitiert nach Eduardo Galeano, „Die offenen Adern Lateinamerikas“). Bis heute hat sich an den katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Minenarbeiter und ihrer Familien noch nichts oder nur wenig geändert. Es ist alles noch so wie es die Bergarbeiterfrau und Gewerkschafterin Domitila in ihrem Bericht „Si on me donne la parole …“ 1982 beschreibt: Lebensgefährliche, Körper schädigende Arbeit in den Stollen des arg gebeutelten Berges, der heute kaum Silber mehr birgt, aber Zink, Zinn und andere wertvolle Mineralien. Litium und Uran finden sich übrigens unweit in der endlos scheinenden, rauhen Salzwüste Salar de Uyuni. Die für den globalen Norden nützlichen Kostbarkeiten, werden der widrigen Natur aus dem Cerro Rico mithilfe von Dynamitsprengungen entrissen. Das Uran liegt noch ungeborgen. Die Arbeit im Stollen ist sehr gefährlich und gesundheitsschädigend. Jeder weiß dort, dass die Lebenserwartung eines Mineros (Bergarbeiter) etwa 35 Jahre beträgt, dann stirbt er normalerweise an Silicose (Staublunge). Das Leben in der Umgebung des Berges ist auch für die Familien düster, staubig, freudlos. Andere Arbeit als die eines Mineros gibt es aber so gut wie nicht. Das Kauen von Cocablättern, das die Spanier hierfür eingeführt haben, hilft den Arbeitstag im Stollen ohne Nahrung durchstehen. Unter Tage zu essen ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Vom „trickle down effect“ kapitaler Ausbeutung keine Spur weit und breit.
Aber es gibt seit zwei Jahren neue Hoffnung, die Gestalt annimmt. Nach langen Jahren scheinbar fruchtloser Kämpfe sind die Zeiten finsterster und blutiger Diktatur vorbei. Vorbei sind die Zeiten von Diktatoren wie Hugo Banzer und Präsidentenberater vom Schlage des Nazis Klaus Barbie, der den Beinamen „Schlächter von Lyon“ trug. Die indigene Bevölkerung, die in Bolivien die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht, ist gut organisiert und hat nach über 20 Jahren währenden Kämpfen bei den Wahlen 2005 am 18. Dezember einen der ihren vom Volk der Aymara zum Präsidenten gewählt. Der ehemalige Cocabauer ist ein Mann, der die Kämpfe des Volkes und seine bittere Armut früh erfahren hat, ein Organisator, ein ehemaliger Hilfsarbeiter, einer der die Gefängnisse des Landes von innen gesehen hat und doch schon 1997 zum Abgeordneter bestimmt wurde. Mit Evo Morales leitet zum ersten Mal ein indigener Mensch die Geschicke eines lateinamerikanischen Landes. In seiner Regierung sind indigene Frauen an führender Stelle tätig. Sind doch die Frauen ganz aktiv in den sozialen Bewegungen. Haben doch nicht zuletzt sie in Cochabamba, dem Bechtelkonzern das bereits privatisierte Wasser wieder entreißen helfen. So ist etwa Silvia Lazarte, die Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung eine Indigena, ebenso die stellvertretende Parlamentspräsidentin, Julia Ramos Sanchez. Je engagierter, je mehr werden sie von der bürgerlichen Opposition verleumdet. Die Regierung des Ayma Evo Morales, die mit annähernd 54%iger Mehrheit ins Amt gewählt wurde, wird aber getragen von der MAS, der „Bewegung für Sozialismus“. In Bolivien heißt das vor allem: Die Bauern aus dem Altiplano, Frauen und Männer aus den entlegendsten Bergdörfern sind zur Wahlurne geeilt, um ihrem Kandidaten die Stimme zu geben. Und sie kommen auf beschwerlichem Wege immer wieder, wenn es etwa gilt, die Verfassungsgebende Versammlung gegen Ihre Feinde zu schützen.
Das Projekt der Verfassungsumbildung kommt aus der indigenen Bevölkerungsmehrheit.
Es weht nach Venezuela und jüngst auch Ecuador in Bolivien ein neuer, frischer Wind, der aus dem Hochland kommt und der in Bolivien zum Rückkauf des Staates von Shell und Enron führte. Mittels solcher „re-regulierender“ Maßnahmen werden die Einnahmen der Erdöl und auch der Erdgasraffinerien in staatliche Kassen gelenkt, das ist der soziale Sinn der Nationalisierung der Petroindustrie. In der kurzen Zeit von zwei Jahren hat die Regierung Morales zur Gesundung der Makroökonomie maßgeblich beigetragen. Das Haushaltsdefizit wurde beseitigt Währungsreserven wurden aufgestockt, die Auslandsverschuldung wurde stabilisiert, der Verschwendung von Staatsgeldern wurde Einhalt geboten. Evo hat sein Gehalt als Staatschef auf 1 500.- Euro limitiert, kein Staatsdiener und kein Bolivianer soll mehr verdienen. Ein neues Konzept vom „guten Leben“ wird vorangetrieben, das einem ganzheitlichen Verständnis folgt, aufbauend auf alten indigenen Grundsätzen. Der Korruption im Lande wird sogar über ein eigens geschaffenes Ministerium der Kampf angesagt. Ein betreffendes Gesetz wurde bereits erlassen. Die Alphabetisierung des Landes wird mithilfe kubanischer Lehrer und Lehrprogramme forciert, 375 000 neu alphabetisierte Menschen sind das erste Ergebnis. Kubanische Ärzte operieren augenkranke Menschen, so wurde selbst der Mörder Ches, wie man sich erzählt, durch einen kubanischen Arzt vom Grauen Star befreit.
Obwohl die wirkliche Macht im Lande immer noch in den Händen der Rechten ist, zum Beispiel in den Händen der für 10 Jahre gewählten Präfekten in den Provinzen, wurden kleine soziale Fortschritte erreicht: Für jedes schulpflichtige Kind hat der Staat 200 Bolivianos, die Landeswährung, versprochen und es soll einen „bono dignidad“ geben, eine Art elementarer Sozialhilfe für ein Leben in Würde. Allerdings sind für die Auszahlung des “Fonds der Würde“ die Präfekturen zuständig und die blockieren zumindest im Osten, in den reichen Tieflandprovinzen, diese Maßnahme.
Die Hauptkampflinie präsentiert sich also derzeit in Bolivien in Form eines Ost-West-Konflikts: Der reiche Halbmond (Medialuna ), die Tieflandprovinzen im Osten (Beni, Pando, Santa Cruz, Tarija) mit ihren Öl- und Gasreserven und einer teilindustrialisierten Land- und Forstwirtschaft, einem neoliberalen Bürgertum und mit Großgrundbesitzern, die sich als weiße, Spanisch sprechende Elite des Landes verstehen, versucht den indigenen Vormarsch aus dem westlichen Altiplano, dem Andenhochland zu stoppen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Ihre Hauptgegnerschaft gilt dem Zustandekommen einer neuen, den gesellschaftlichen Wandel verfestigenden Verfassung, eben genau dem indigenen Hauptprojekt. Ihre Kampfmethoden erscheinen dem Außenstehenden teilweise absurd bis skurril. So der mit äußerster Härte ausgetragene Streit um den Regierungssitz. Von Santa Cruz aus gesponsert und medial massenwirksam aufgeputscht, wird die Bewegung zur Verlagerung des Regierungssitzes von la Paz in das anmutende Provinznest Sucre von der Provinz La Paz konterkariert. Sucre, mit UNESCO-Siegel ausgestattet, ist seit der Unabhängigkeitserklärung des Landes im Jahre 1825 nominelle Hauptstadt und Sitz der obersten Justizverwaltung. Dort tagte daher auch bis vor kurzem die Verfassungsgebende Versammlung, die auf Grund der pogromartigen Ausschreitungen gegen besonders engagierte Verfechter der Ideen der Regierungsmehrheit vorübergehend geschlossen und schließlich verlegt werden musste. Inzwischen gibt es mehrere Tote zu beklagen und erst kürzlich wurde in Radio France International / RFI berichtet, dass Morales über die Fortführung seiner Regierung ein Referendum abhalten lassen will. Simple Geschäftsordnungsfragen, wie etwa die einer Zweidrittelmehrheit für die Vertagung der Hauptstadtfrage von der Agenda der Konstituanten, führten zu bitteren bis ungeheuren Anwürfen gegenüber der kompromissbereiten und konstruktiv agierenden Regierung. Aufgewiegelte Bürgersöhne verbrannten Autoreifen vor der Casa de Libertad, dem Sitz der Provinzverwaltung in Sucre und kreuzigten sich neben den Eingangstoren symbolisch an, als Zeichen der ihrer Meinung nach vergewaltigten Freiheit. Vor dem symbolträchtigen Gebäude im properen Kolonialstil „hungerten“ derweilen die Vertreter des Bürgertums auf Luftmatratzen, während die weniger Privilegierten sich wegen der „Para Civica“ (Straßenblockaden, Streiks der Transportarbeiter) tatsächlich um ihr täglich Brot ängstigen mussten und kein Gas mehr zum Kochen hatten, denn die Märkte blieben mangels nachkommender Waren geschlossen. Anstatt die Studenten zur Raison zu rufen, wurden die Unis dicht gemacht und die Studenten von der Universitätsleitung geradezu aufgefordert, sich an dem „Para Civica“ (Bürgerprotest) genannten Aufruhr zu beteiligen. Das Fernsehen zeigte derweilen Stunde um Stunde, Tag für Tag Bilder von bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen in Sucre, obwohl sich anfangs nur eine verschwindend kleine Minderheit daran beteiligte. Die Zeitungen schürten Furcht, aber nicht etwa vor den randalierenden Studis und anderen radikalisierten Elementen, sondern vor den zum Schutze der Konstituanten friedlich aus den Bergen herabsteigenden Campesinos, die als gefährliche „Ponjos Rojos“ („Rote“) diskriminiert wurden.
Währenddessen unterbreitete die Regierung immer neue Kompromissvorschläge für Sucre und die Provinz Chuquisaca, um ihr einen ökonomischen Ausgleich für den inakzeptablen Tausch des Regierungssitzes anzubieten. Aber der Opposition geht es ganz offensichtlich um mehr, nämlich um die Destabilisierung einer mittels rassistischer Argumente abgelehnten Regierung, deren oberster Vertreter mit regelrechtem Hass verfolgt wird.
Bleibt festzuhalten:
– Armee und Polizei sind derzeit immerhin in der Hand der Regierung Morales, die klug genug zu manövrieren und zu integrieren versteht und eine Eskalation vermeidet. Einige Generäle, die mit der Diktatur verbandelt waren, schickte Morales in den Ruhestand. Das Innenministerium leitet ein Ex-General namens Quitano, ein MASist. Der Polizeichef ist ein Ex-Trotzkist. Die Polizei und das Militär halten sich in den gegenwärtigen Kämpfen zurück, wobei zu bedenken ist, dass zumindest die Polizei großen Teils von den rechten Präfekten dirigiert wird. Das bedeutet manchmal auch ein Gewährenlassen und Zusehen bei Ausschreitungen.
– Der Präfekt von Sucre/Chuquisaca ist nominell ein MASist, vertritt aber keine regierungsadäquate Position.
– Der Präfekt von Cochabamba wurde an der übel beleumundeten US „School of the Americas“ (heute „School Of The Southern Hemisphere“) ausgebildet. Er stellt öffentliche Mittel zur Verfügung für die Rekrutierung faschistischer Jugendlicher, wie sie auch in Sucre zum Einsatz kommen.
– Der Präfekt der rohstoffreichen Provinz Tarija ist ebenfalls ein Ultrarechter.
– Die Eigentumsverhältnisse in Bolivien sind diversifiziert. Es gibt kaum Industrie. (Abgesehen von etwas Agroindustrie im Tiefland, Bierbrauereien z.B. in Potosi und La Paz, einer Hutfabrik in Sucre, etwas Textilverarbeitung, Raffinierien und Bergbau)
– Die MAS hat derzeit kein genuin sozialistisches Programm. Sie verwaltet derzeit die Regierungsgeschäfte und arbeitet an einem gesamtgesellschaftlichen Umgestaltungsprozess, an dem die Basisbewegungen maßgeblich beteiligt sind.
– Die Regierung vermag Massen für die Verteidigung der Demokratie zu mobilisieren, so versammelten sich Mitte Juli zwei Millionen Menschen in El Alto/ La Paz gegen die Verlagerung des Regierungssitzes, aber auch die Opposition verfügt über ein nicht unbeträchtliches Mobilisierungspotential.
– Die Mittelschichten (z.B. die taxistas/ Taxifahrer) sind ein schwankender Faktor, sie sind besonders anfällig für die Demagogie der Opposition, die dauernd unterstellt, die Regierung sei unfähig, ruiniere die Wirtschaft und arbeite im Dienste Kubas und Venezuelas und vernachlässige so ihre Aufgaben zu Hause.
– Das Radio ist – nach Aussagen von einheimischen Aktivisten – die einzig halbwegs brauchbare Informationsquelle, die anderen Medien betreiben durchweg eine mehr oder weniger maßlose regierungsfeindliche Hetze.
– Dennoch und trotz allemdem: Lateinamerika bewegt sich, während „Europa sklerotisch erstarrt sei“, so junge Menschen unterwegs in Bolivien. Der Ausgang der Entwicklung in Bolivien ist äußerst bedeutsam nicht nur für Lateinamerika, sondern für die ganze Welt, die eine andere, bessere sein könnte, der Ausgang hängt auch von uns ab und ist noch keinesfalls in einer Richtung entschieden.
Der Bericht fußt auf eigenen Recherchen vor Ort während eines zweimonatigen Bolivienaufenthalts vom Anfang Juli bis Anfang September, sowie Zeitungsstudien und Gesprächen in Argentinien davor und danach. Ergänzt wurden meine eigenen Eindrücke durch Vorträge von Maria Lohmann (Cochabamba/Somosur) und Jaime Jaldin, MAS-Aktivist und Soziologe/Anthropologe im Haus der Demokratie, am 13.11. 07 im Rahmen einer Veranstaltung der RSL.
*Limpal –Ligua International de Mujeres para la Paz y la Libertad/ WILPF – Women’s International League for Peace and Freedom
Irene Eckert; Berlin