Saul Livshiz:[11]
Zu den Auswirkungen des XX. Parteitages der KPdSU
… und gleichzeitig eine Antwort auf den Brief des Genossen Steigerwald in der Zeitung „junge Welt“
In seinem Referat (seiner Geheimrede) auf dem XX. Parteitag wälzte Chruschtschow alle Probleme auf Stalin ab. Die Sowjetunion soll im Ergebnis des Machtantritts von Stalin in eine wirtschaftliche und wissenschaftlich- technische Rückständigkeit verfallen sein, obgleich gerade in diesem Zeitraum sich die Sowjetunion in einem Tempo entwickelte, das die Welt noch nie kannte. Chruschtschow beschuldigte Stalin z. B., dass er das Leben angeblich nicht kannte. Er habe angeblich das Land und die Landwirtschaft nur anhand von Kinofilmen gekannt. Tatsächlich traf sich Stalin zu jeder Frage, die die Regierung erörterte, mit den besten Experten auf dem betreffenden Gebiet, verglich ihre Auffassungen und bemühte sich im Verlauf der Diskussionen, ein reales Bild zu der erörterten Frage zu erhalten.
Der bedeutende sowjetische Fachmann auf dem Erdölsektor, Nikolai Konstantinowitsch Bajbakow, Minister für die Erdölindustrie, dann von 1965 – 1985 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der UdSSR, der sich oft mit Stalin zu Arbeitsgesprächen traf, erinnerte sich an den Schock, den das Referat vom XX. Parteitag 1956 auslöste: „Gut kann ich mich daran erinnern und ich kann bezeugen, dass im Saal keine einzige Person war, die dieses Referat nicht erschütterte, die nicht die grausame Direktheit, der Schrecken der aufgeführten Fakten betäubte… Für viele war das eine Prüfung ihres Glaubens an die kommunistischen Ideale… Die Delegierten verfielen in eine gewisse große Erstarrung… Und dennoch, irgendwas mahnte im Hintergrund zur Vorsicht, besonders irgendwas Unnatürliches, zum Protest Reizendes … Die Fakten schwebten davon und verloren an Bedeutung und Schärfe. Das Gespräch drehte sich in vieler Hinsicht nicht um den Personenkult, sondern einfach um die Persönlichkeit Stalins im Leben und in unserem Sein. Offenkundig war, dass der Referent das menschliche Bild Stalins diskreditierte und schmähte. Der von Chruschtschow dargestellte Stalin passte irgendwie nicht zu diesem lebendigen Bild, an das ich mich klar erinnerte. Stalin sei starrköpfig gewesen und habe keine andere Meinung akzeptiert? Hat er wirklich Menschen in raffiniert herabsetzender Weise verhöhnt? Das war doch in Wirklichkeit nicht so. War Stalin in Militärfragen inkompetent? Leitete er die Operationen an der Front auf einem Globus? Auch das war offenkundig wieder eine grobe Unwahrheit. Der Mensch, der Hunderte und Hunderte von Büchern über Geschichte, die Kriegskunst studiert hatte, der die Pläne und Schemata aller Operationen des Krieges im Gedächtnis behielt? Zu welchem Zweck nimmt man dann nur den Globus, wie passten alle diese Gedanken und persönlichen Bewertungen mit der harten unwiderlegbaren Wahrheit zusammen? Zu welchem Zweck nahm man unsere Missgeschicke und wälzte alles nur auf Stalin, nur auf ihn allein ab? Ging es um eine angeschwärzte Wahrheit und dick aufgetragene Lüge? Der Mensch, der das Land geführt hat, der einen großen starken Staat aufgebaut hat, konnte doch nicht sein bewusst vorsätzlicher Verderber sein ?… Im Sarkasmus von Chruschtschow blickte sein unverhüllter persönlicher Hass durch…“
Chruschtschow führte die Kampagne gegen Stalin unter der Losung der Rückkehr zu den Prinzipien der kollektiven Führung, aber in der Praxis trat er sie selbst mit Füßen, zwang anderen seine Meinung auf, beseitigte das selbständige Denken. Während Stalin das selbständige Denken und den Initiativreichtum für den Aufbau des Sozialismus anregte und ermutigte, bemühte sich Chruschtschow mit allen Mitteln, diese Qualitäten zu beseitigen und umgab sich mit Leuten ohne Initiative, mit Leuten, die ihm hörig waren.
Das Auftreten Chruschtschows fügte dem Lande und seiner internationalen Autorität großen Schaden zu. Es bestätigte die antisowjetische Propaganda und verlieh ihr ein Gewicht, das ihr nicht zustand.
Nichtsdestotrotz zeigte das Referendum vom 17. März 1991, dass mehr als 70 % der sowjetischen Bürger für den Erhalt der Sowjetunion eintraten. Aber ihre Meinung wurde ignoriert und eine Handvoll von Verrätern lösten die Sowjetunion am 21. Dezember 1991 im Belowesher Wald (Beloweshskaja Puschtscha) bei Brest auf.
In der Zeit der Führung Chruschtschows sank der Zuwachs des gesellschaftlichen Gesamtprodukts von 10,6% auf 5,0%.
Es verschlechterten sich die Kennziffern der Industrie, die Auslastung der Grundfonds sank um 9% und in der Landwirtschaft sogar um 21%. Im Jahre 1954 schlug Chruschtschow unerwartet vor, zum Bau von 5-Etagen-Wohnhäusern überzugehen. Diese „Neuerung“ kam das Land teuer zu stehen, da die Kosten je Quadratmetern Wohnraum unter Berücksichtigung der Aufwendungen für die gesamtstädtische Kommunikation um ein Vielfaches höher waren als bei 9-12-Etagen-Häusern. Der Übergang zur Einführung von 5– Etagen-Häusern führte dazu, dass die Baudichte in den Städten stark abnahm und die Transportwege, Wasserleitungen, Telefonleitungen, Kanalisationen und sonstigen Verbindungen unzulässig verlängert wurden.
Ein größerer Fehler bei seinem Antritt wurde von Chruschtschow in der Landwirtschaft begangen. Das durchschnittliche jährliche Wachstumstempo der landwirtschaftlichen Produktion sollte 8 % betragen, aber 1963 ergaben sich Minuskennziffern. Das lag nicht an einem schlechten Erntejahr. Die Ernährungslage im Lande erwies sich als so schlecht, dass Chruschtschow sogar die Einführung eines Lebensmittelkartenssystems vorschlug. Die Regierung begann Getreide im Ausland zu kaufen und wandte dafür 860 Tonnen Gold auf. Im Ergebnis führten die Schwierigkeiten bei Getreide zu einer schwierigen Lage bei Fleisch, Butter, Fett und anderen Produkten. Die Preiserhöhungen für Nahrungsmittel führten zum offenen Aufruhr der Arbeiter in Nowotscherkassk, der auf Weisung von Chruschtschow niedergeschlagen wurde. Chruschtschow sprach viel über die materielle Interessiertheit der Beschäftigten der Landwirtschaft, das aber ohne spürbare Ergebnisse. Auf Grund der Willkür Chruschtschows taumelte man in der Landwirtschaft von einer Seite zur anderen und von Beschluss zu Beschluss. Mal forderte er Mais bis hinein in die nördlichen Regionen anzubauen, dann verbot er die Aussaat von Graspflanzen, dann empfahl er und erklärte er, dass es zweckmäßig ist, die Flächen für Sonnenblumen zu erweitern und forderte die Erhöhung der Produktion von Sonnenblumenkernen usw.
Bei Stalin hatten die Kolchosen und Sowchosen keine eigene schwere Technik. Sie war in den Maschinentraktorenstationen (MTS) konzentriert, die gleich für einige Dutzende von Landwirtschaftsbetrieben das Land bearbeiteten und die Ernte einbrachten. Unter Chruschtschow wurden die MTS beseitigt und ihre Technik den Kolchosen verkauft. Damit begannen Kostensteigerungen und Preiserhöhungen für Agrarprodukte.
Ungelöst blieb das Problem des Aufschwungs des Lebensstandards der Werktätigen. Von 1953 bis 1963 sank das Zuwachstempo der Erhöhung des Lebensstandards auf ein Viertel.
Das Novemberplenum des ZK der KPdSU von 1962 fasste auf Grund des Referats von Chruschtschow einen Beschluss über die Trennung der Parteiorganisationen nach dem Produktionsprinzip. Das führte dazu, dass die Leitung der Zweige der Volkswirtschaft nach Wirtschafsrayons zersplittert wurde, die Einheit der technischen Politik verletzt wurde und sich die wissenschaftlich-technischen Organisationen als losgelöst von der Produktion erwiesen. Alles das widersprach der Leninschen Weisung, dass der Organisationsaufbau der Partei- und Staatsorgane nach dem Territorialprinzip zu erfolgen hat.
Die Entthronung Stalins, seine Erklärung zur Unperson durch Chruschtschow, die Diskreditierung des Namens, der Millionen von Menschen teuer war, beleidigte die Gefühle vieler Sowjetbürger und vieler Menschen auf der ganzen Welt. In Georgien fanden Meetings und Demonstrationen zur Verteidigung Stalins statt. Die Menschen wurden mit dem Einsatz von Waffen und Panzern auseinandergejagt. Am 1. Mai 1956 ging es für Chruschtschow schon nicht mehr ohne antistalinistische Ausfälle ab.
Nach einiger Zeit begann sich Chruschtschow urplötzlich von den Grundsätzen seines Referats loszusagen. Am 17.Januar 1957 erklärte er in der chinesischen Botschaft, dass Stalin untrennbar mit dem hehren Namen eines Kommunisten verbunden ist. Ähnlich wiederholte er sich bei seinem Auftritt in der bulgarischen Botschaft im Februar des gleichen Jahres und auch bei seiner Rede auf der Jubiläumssitzung des Obersten Sowjets der UdSSR zum 40. Jahrestag der Großen Oktoberrevolution in Anwesenheit von Mao Tse tung, Gomulka, Ulbricht, Kadar und anderen Führern der Kommunistischen und Arbeiterparteien. Auf dem Juliplenum des ZK der KPdSU 1957 wurden Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Schepilow aus den Reihen der Zentralen Organe der Partei (ZK, Politbüro und anderen) ausgeschlossen. Der Name Stalins verschwand aus künstlerischen Werken, Theaterstücken, Kinofilmen usw. Seine Werke wurden nicht mehr aufgelegt. Die Sammlung der Stalin-Bände blieb unvollendet. Es ist wahr, dass 1957 der Briefverkehr von Stalin mit dem Präsidenten der USA, Roosevelt, und dem britischen Premierminister Churchill im Zeitraum des Großen Vaterländischen Krieges in zwei Bänden veröffentlicht wurde. Das geschah auf Initiative und mittels der Autorität von Gromyko.
Auf der Beratung der Kommunistischen und Arbeiterparteien in Bukarest im Juni 1960 verunglimpfte Chruschtschow den Genossen Stalin, aber nach einem halben Jahr, im Mai 1961 sprach er bei Auftritten in Jerewan und Tiflis anlässlich des 40. Jahrestages der Errichtung der Sowjetmacht in den transkaukasischen Republiken Georgien; Aserbaidschan und Armenien mit Achtung über die Rolle Stalins bei der Leitung des revolutionären Kampfes in Transkaukasien was ihn aber nicht hinderte, bei dem Empfang im Kreml am 1. Mai 1961 Stalin wild zu attackieren. „Die Führung Stalins war die Herrschaft des Henkerbeils!“, erklärte er.
Der XXII. Parteitag im Oktober 1961 verabschiedete ein neues Parteiprogramm und verkündete feierlich, dass die gegenwärtige Generation der Sowjetmenschen im Kommunismus leben wird, obwohl die Sowjetwirtschaft zu diesem Schritt offensichtlich noch nicht in der Lage war. Der gleiche Parteitag nahm einen Beschluss über die Entfernung von Stalin aus dem Mausoleum an. Der einbalsamierte Leichnam von Stalin wurde eingeäschert und an der Kremlmauer beigesetzt. Niemand sollte mehr über Stalin sprechen. Eine gewisse Dora Abramowna Lasurkina, die 17 Jahre von 1937 bis Mitte der 50er Jahre im Gefängnis saß, erklärte, dass sie sich mit Wladimir Iljitsch Lenin beraten hatte, der lebendig vor ihr stand und ihr gesagt haben soll, „dass es ihm unangenehm sei, in einer Reihe mit Stalin zu stehen, der der Partei nur Übel gebracht hat“. Die Umbettung des Körpers von Stalin wurde begleitet von der Umbenennung von Städten, Straßen und Plätzen, die seien Namen trugen. Von den Postamenten wurden die Stalinstatuen entfernt, seine Reliefs wurden weggeputzt, übertüncht, übermalt. Nur im Heimatort Stalins, in Gori blieben sein Denkmal und ein ihm gewidmetes Museum erhalten.
Alsbald begann Chruschtschow einen Streit mit der Führung der chinesischen KP und erneuerte seine Ausfälle gegen Stalin. Am 19. Juli 1963 erklärte er, „dass man die Verbrechen und schwarzen Taten der Zeit des Personenkults nicht reinwaschen könne, dass das Banner, das einige Leute wieder erheben wollen, vom Blut der Revolutionäre, Kommunisten und ehrlichen Werktätigen der Sowjetunion durchtränkt sei…“
Die Absage an das Erbe Stalins musste das Land in einen Antipoden, in das Gegenteil dessen verwandeln, was es in der Vergangenheit war.
Betriebe und Fabriken, wissenschaftliche Institute, Lehreinrichtungen, die unter Stalin oder in Verwirklichung seiner Pläne geschaffen worden waren, wurden mittellos und konnten nicht mehr existieren. Viele Städte verwandelten sich in Geisterstädte. Einst waren nach den Zerstörungen des Bürgerkrieges arbeitslose Ingenieure gezwungen, Zündhölzer herzustellen und damit zu handeln, jetzt wiederholte sich das in viel schlimmerem Maße. „Millionen von Ingenieuren, hoch qualifizierte Techniker, Kandidaten und Doktoren der Wissenschaft, Geologen, Spezialisten für Raketenbau, Biologen handeln mit Nägeln, rüsten Garagen aus, arbeiten als Wächter“, schreibt Ju. Jemeljanow in seinem Buch.
Das Prinzip der sozialen Gleichheit, das dem stalinschen Sozialismus zugrunde lag, wurde durch das Prinzip der schreienden sozialen Ungleichheit ersetzt, die Zersetzung der Sitten, der Ethik und Moral nahm die unterschiedlichsten Formen an.
Weit verbreitet ist die früher verbotene Pornographie, um sich griff unter dem Vorwand der Überwindung des Totalitarismus die Liberalisierung der Gesetze.
Die Korrumpierung der Rechtschutzorgane führte zum starken Anstieg der Kriminalität.
Im Jahre 1952 schlug Stalin dem Genossen Schepilow vor, an der Erarbeitung eines Lehrbuchs für Politökonomie mitzuwirken. In einem Gespräch, das fast zweiundeinhalb Stunden dauerte, sagte Stalin ihm: „Wir können keine großen wirtschaftlichen Maßnahmen durchführen, wenn die wissenschaftlichen Kader nicht wissenschaftlich arbeiten. Wir brauchen ein gutes Lehrbuch über Politische Ökonomie.“ Die von Schepilow ausgewählte Gruppe von wissenschaftlichen Mitarbeitern ließ sich in Gorki nieder, wo sie unter einem besonderen Regime arbeitete. Entsprechend des Grads der Fertigstellung wurden die Materialien Stalin zur Durchsicht übergeben, der sie aufmerksam und äußerst kritisch bearbeitete. Nach dem Tode Stalins wurde die Gruppe aufgelöst. Schepilow wurde aus der Partei und der Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen und aus Moskau ausgewiesen.
Das ehemalige Mitglied des Präsidiums des ZK der Partei, D. Tschesnokow, den Stalin als einen der perspektivreichen jungen Kader betrachtete, erinnerte sich, wie Stalin ihn ein oder zwei Tage vor seinem Ableben anrief und ihm sagte:
“Sie müssen sich in nächster Zeit mit den Fragen der weiteren Entwicklung der Wirtschafttheorie befassen. … Wenn wir es in der Theorie zum Durcheinander kommen lassen, können wir die ganze Sache zugrunde richten. Wir würden die Wirtschaft durcheinander bringen. Ohne richtige Theorie – das ist unser Tod, der Tod“,
und legte den Hörer auf!
Nach Stalins Tod, wurde Tschesnokow aus dem Präsidium des ZK ausgeschlossen und in die Provinz geschickt.
Saul Livshiz; Übersetzung aus dem Russischen: Hans- Jürgen Falkenhagen