Revisionismus – Eine Vogelscheuche der Dogmatiker?

Fritz Dittmar:
Revisionismus – Eine Vogelscheuche der Dogmatiker?

Am 10. und 11. Dezember 2007 erschien in der „Jungen Welt“ ein Artikel von Genossen Steigerwald. Darin setzt er sich mit den „Anti-Revisionisten“ der Gegenwart auseinander. Insbesondere geht er Kurt Gossweiler hart an und verliert dabei den gelassenen Ton, den er in dem Briefwechsel mit Gossweiler noch gepflegt hat (Offensiv April-Mai-06). Aber auch andere, aus dem Umfeld von T&P, insbesondere Hans Heinz Holz, kriegen ihr Fett weg.

Hans Heinz Holz hat einige Tage später in der JW geantwortet, wissenschaftlich fundiert und im Ton sehr moderat. Ich möchte hier etwas polemischer antworten, gemäß Goethe: „Auf einen Schelmen anderthalbe, auf groben Klotz den groben Keil“

Nach der Niederlage der Pariser Commune hat Marx sie analysiert, die Fehler der „Himmelsstürmer“ aufgezeigt. Als wesentlichen Fehler bezeichnete es Marx, dass die Kommunarden darauf verzichteten, die Französische Staatsbank zu übernehmen. Die Goldreserven der Bank hätten den Revolutionären wesentliche Mittel für ihren Kampf zur Verfügung gestellt.

Soweit besteht seither Einigkeit unter den Marxisten. Nun aber kommt Steigerwald mit einem neuen Vorschlag: Man hätte die Mittel der Bank auch in einem rauschenden Fest des Pariser Proletariats auf den Kopf hauen können: „Wenn der Sozialismus den Massen nichts bringt, wozu braucht man ihn dann?“ Ich vermute, ein Pariser Kommunarde mit diesem Vorschlag wäre, je nach Zuspitzung der Lage, entweder unter Gelächter nach Hause geschickt oder als Verräter oder Agent an die Wand gestellt worden. Erst kommt des Sieg, gefeiert wird dann!

Mitten im Kampf mit einem an Kräften und Erfahrung überlegenen Todfeind ist die Konzentration aller Kräfte auf den Kampf unausweichlich, wenn man nicht untergehen will. Für die Commune leuchtet das wohl jedem ein. Tatsächlich macht S. seinen Vorschlag auch für eine etwas weniger zugespitzte Situation: Er rechtfertigt damit Chruschtschows Änderung der Wirtschaftsprinzipien von Lenin und Stalin, die Verschiebung des Schwertpunkts der Investitionen von der Abteilung I (Investitionsgüter) in die Abteilung II (Konsumgüter). Diese Schwerpunktsetzung folgte aus Lenins Devise für die Zeit der friedlichen Koexistenz „Die Produktivität der fortgeschrittensten Länder überholen oder untergehen.“ Das geht nun aber nur auf eine Weise: Die Investitionsgüter auf den höchst möglichen Stand bringen, und damit die Voraussetzungen schaffen, sowohl zum Überleben, wie auch dann zur wirklich verbesserten Versorgung der Bevölkerung. Heute baut man LKW (und Panzer!) und dann irgendwann vielleicht auch PKWs oder noch besser U-Bahnen.

Das heißt nicht, dass der sozialistische Staat die Bevölkerung über Jahrzehnte hungern lässt, so wie es dem entstehenden Proletariat während der kapitalistischen ursprünglichen Akkumulation gegangen ist. Der Sowjetunion unter Stalin ist es durchaus gelungen, die ursprüngliche Akkumulation zu leisten und gleichzeitig den materiellen und kulturellen Lebensstandard gewaltig zu erhöhen. Aber der Schwerpunkt stand nie in Frage. Kehrt man ihn nämlich um, leitet man Zurückbleiben und Stagnation ein. Wer im Kampf um die höchste Produktivität zurück bleibt, geht unter. Das gilt für die innerimperialistische Konkurrenz und erst recht für die friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus.

Für diese Wende musste erst Chruschtschow an der Spitze der KPdSU stehen. Er sicherte diese Verschiebung durch eine Reihe von Schritten ab:

Zunächst seine „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag: Hier hat er Stalin als Paranoiker und Blutsäufer dargestellt. Die Opfer, die das Volk beim Aufbau und während des Krieges gebracht hat, erschienen so als eigentlich unnötig und den Fehlern Stalins geschuldet, und der Sieg wurde dargestellt als angeblich allein dem Volk trotz Stalins Führung zu verdanken. (Als hätte sich das Volk irgendwann zu der Schlacht von Stalingrad entschlossen und Stalin hätte sich drein geschickt!) Wenn die Opfer des Volks aber an Stalins Fehlern gelegen hatten, dann konnte sich das Volk unter C. auf gemütlichere Zeiten einstellen.

Zu den gemütlicheren Zeiten gehörte dann das Versprechen, in kurzer Zeit den Lebensstandard der USA zu überholen und in 20 Jahren im Kommunismus zu leben. Hier bestreitet nicht einmal S., dass es sich um haltlose Prahlerei und fehlenden Realismus handelte.

(Hier möchte ich S. fragen: Hältst Du C. tatsächlich für dermaßen vertrottelt?

Es konnte jeder sehen, dass hier ein Kartenhaus aufgebaut wurde, das nach seinem notwendigen Zusammenbruch im Volk Enttäuschung, Frustration und Zynismus bewirken musste. Wenn C. aber nicht ganz so dumm war, was war er dann? Statt dessen wird C. von S. „entlastet“: Wenn die Führer der SU nach Stalin ihren Aufgaben nicht gewachsen waren, sollen dafür diejenigen verantwortlich sein, die sie ungenügend vorbereitet haben. Ich denke dagegen: Spätestens Gorbatschow hat seine wirkliche Aufgabe klug und mit beachtlichem demagogischem Talent gelöst.)

Und schließlich musste C. dem Volk ausreden, dass ihm weiterhin mit dem Imperialismus ein Todfeind gegenüber stand. Natürlich hat er nicht verkündet, der Imperialismus habe sich vom Löwen zum Lamm gewandelt. Er hat durchaus weiter Worte wie Imperialismus und Klassenkampf gebraucht. Genügt das aber, um damit, so wie S. es tut, C. vom Vorwurf des Revisionismus frei zu sprechen? Auch der Urvater des Revisionismus, E. Bernstein, hat keineswegs das „marxistische“ Vokabular abgelegt, er hat „lediglich“ versucht, den Marxismus um seine wesentlichen Inhalte zu kastrieren. Und der wesentliche Inhalt für die Leninsche Politik der friedlichen Koexistenz war der Antagonismus, die Todfeindschaft zwischen Imperialismus und Sozialismus.

S. unterstützt den Fehler/Verrat von C. in der Wirtschaftspolitik. S:“ Nicht diese Orientierung war das Problem.“  Für S. ist C. ausdrücklich kein Revisionist, ebenso wie eine Reihe weiterer sowjetischer Führer. Abstrakt bestätigt er zwar die Existenz von Revisionisten, aber er nennt keinen einzigen. Stattdessen entschuldigt er den Revisionismus in der Führung pauschal als „fehlgeleiteten Versuch, dem Dogmatismus … zu entkommen“. Klar doch: Zum Revisionisten wird man, weil man so schwer am Dogmatismus leiden musste! Hier fällt sein Vorwurf des „Haltet den Dieb!“ auf ihn selbst zurück.

Nimmt man die gesamte Argumentation von S., so war die Niederlage des Realsozialismus unvermeidlich. Als materielle Grundlage des Revisionismus gilt ihm, „dass sich die materielle Lage für die Massen der Werktätigen dort (im Westen) nach 1945 relativ rasch verbesserte“. Das war nun nach dem Weltkrieg unvermeidlich: Während die SU die Hauptlast der Kämpfe und Opfer tragen musste, war die imperialistische Hauptmacht weitgehend von Verlusten verschont und ökonomisch und politisch gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen. Mit dem Atombomben-Monopol setzte sie die SU dem Druck einer Rollback-Politik und Kriegsdrohung aus. Es leuchtet ein, was die dringendsten Aufgaben der SU in dieser Lage sein musste: Erstens die Kriegsschäden reparieren, zweitens den Rüstungsvorsprung der USA aufholen (Bei S. heißt das „Fixierung der SU auf den Militär-Industrie-Komplex“.) Gleichzeitig konnten die Imperialisten ihre Arbeiter in den Zentren mit Zugeständnissen beschwichtigen und an ihr System binden. Auf der anderen Seite war es für die SU neben den beiden Hauptaufgaben nicht möglich, auch noch die Bevölkerung massenhaft mit neuen Konsumgütern „made in socialism“ zu versorgen. Für S. ergibt sich daraus, dass der Revisionismus unter den Werktätigen siegen musste: Unter diesen Bedingungen bleibt „die massenhafte Vermittlung sozialistischer Werte ein bloßer Wunschtraum.“ Wenn das stimmt, dann konnte es wirklich nur noch darum gehen, unter möglichst humanen Bedingungen zu kapitulieren. Aber in meinem verbohrten Idealismus möchte ich doch darauf hinweisen:

– Im Bürgerkrieg, bei den Fünf-Jahres-Plänen und im Weltkrieg haben die Arbeiterklasse und das Volk der SU alle nötigen Opfer für den Sieg gebracht.

– Dasselbe gilt für den Wiederaufbau nach dem Krieg.

– Noch nach der Niederlage des Realsozialismus sind die Cubaner Fidel Castro durch Jahre des Hungers gefolgt, statt sich mit der Perspektive als Bordell der USA zufrieden zu geben.

Das Herz des Proletariats ist größer, als S. glaubt. Wenn die Linie stimmt, kann man es zu fast unglaublichem Heldentum und Opferbereitschaft gewinnen. (Allerdings nicht, wenn man ihm wie C. die Hucke voll lügt!)

S. wirft eine berechtigte Frage auf. Er formuliert: Wenn Stalin so großartig war, wie die Anti-Revisionisten behaupten, wie konnten Revisionisten dann in führende Positionen gelangen und den Parteitag überrumpeln? Nun nimmt meiner Meinung nach dieser Umstand nichts weg von den Verdiensten, die Stalin um die SU und die Arbeiterbewegung erworben hat. Dennoch ist hier tatsächlich ein Problem, das für erfolgreiche neue Anläufe geklärt werden muss.

Allerdings sehe ich nicht, was bei der Klärung dieser Frage ein Genosse leisten soll, der den Revisionismus verharmlost.

Fritz Dittmar, Hamburg