Antisemitismus?

Frank Flegel

Antisemitismus?

Der obige Artikel steht im Internet und ist verlinkt mit Internet-Seiten unterschiedlicher Gruppen der autonomen Antifa. Das soll Anlass sein, den Antisemitismusvorwurf, wie er gegen die Kritiker der israelischen Staatsführung erhoben wird, genauer zu untersuchen

Der Hitlerfaschismus hat sich den Antisemitismus im großen Maßstab dienstbar gemacht. Der Antisemitismus hat in Deutschland eine lange Tradition. Und: Antisemitismus ist eine spezielle Form des Rassismus. Bis hierher besteht sicherlich allgemeiner Konsens.

Nun beginnt das Problem, und das ist der Faschismusbegriff. Auch wenn der Hitlerfaschismus den Antisemitismus als ein wichtiges ideologisches Element nutzte, ist Faschismus nicht gleich Antisemitismus. Ein darauf orientierter Faschismusbegriff bleibt an der Oberfläche stecken, ja was noch schlimmer ist: er bewegt sich in Kategorien des völkischen Denkens. Damit bleibt man in Konstruktionen von „Tätervolk“ und „Opfervolk“ gefangen und verstellt den Blick auf die ökonomischen und politischen, die klassenmäßigen und systembedingten Ursachen des Faschismus. Die Definition Dimitroffs würde da einen wesentlichen Schritt weiter helfen. Aber leider gibt es nicht wenige, die – ähnlich wie es mit Lenins Imperialismustheorie geschieht – diese „überwinden“, „weiterentwickeln“, „erneuern“ oder sonst was wollen, jedenfalls  wollen sie sie keinesfalls als theoretische Grundlage der Welterkenntnis anerkennen.

In der in letzter Zeit massenhaft kursierenden Aussage: „Es steht Deutschen nicht an, den Staat Israel zu kritisieren“ ist die gesamte Schieflage dieses Denkens enthalten. Erstens: der Begriff „Deutsche“ ist rein völkisch, hat weder mit Klassenauseinandersetzungen noch mit der historischen Situation des Kapitalismus in seiner imperialistische Phase etwas zu tun. Zweitens: Man solle „den Staat Israel“ nicht kritisieren. Das ist nun sehr geschickt eingefädelt, denn jetzt müsste es in logischer Fortführung des Begriffes „Deutsche“ in diesem zweiten Satzteil ja „Juden“ oder wenigstens „israelische Bevölkerung“ heißen. Aber siehe da, nun kommt ein politischer Begriff daher: der „Staat Israel“. Na sowas!

Wir „Deutschen“ sollen also weder die Politik der israelischen Bourgeoisie, noch Israels Funktion im Nahen Osten als Speerspitze des US-Imperialismus kritisieren. Unter diesem völkischen Denken, das dem ebenso völkischen Faschismusbegriff entspringt (Faschismus = Rassismus), verschwinden alle Klassengegensätze, es gibt keine ökonomischen Interessenlagen mehr, keine imperialistischen Widersprüche – und Rollen und Funktionen einzelner Staaten im Weltgefüge des Imperialismus können nicht mehr erkannt werden. Sogar die Unterschiede zwischen den Begriffen „Volk“ und „Staat“ verschwinden!

Wer sich aber an den gerade zitierten Satz nicht hält und dennoch die israelische Regierungspolitik kritisiert, wird mit dem Vorwurf des „Antisemitismus“ belegt. Was bedeutet das? Nicht die Frage nach Ausbeutung und Unterdrückung, nach geostrategischen Interessen der herrschenden Klassen der imperialistischen Zentren, nicht die aktuelle Rolle eines Staatsgefüges, seine Funktion in den gegenwärtigen imperialistischen Auseinandersetzungen, damit nicht ein klarer Antiimperialismus und Internationalismus, sondern eine  – wieder – rein völkische Kategorie (Israel als Zufluchtsort der verfolgten Juden – und eben nicht als Klassengesellschaft und imperialistische Speerspitze) bestimmt das Denken und das Handeln.

Hier stehen sich zwei Orientierungen unversöhnlich gegenüber: Völkisches Denken wider Klassendenken. Zu entscheiden ist, welche Orientierung die Realität konkret und korrekt abbildet: ist Israel der gefährdete Zufluchtsort eines klassenlosen Volkes, welches aus der kollektiven Unterdrückung flieht – oder ist Israel ein kapitalistischer Staat mit imperialistischen Interessen und einer ganz speziellen Funktion im imperialistischen Machtgefüge?

Die im vorstehenden Artikel vertretenen Positionen liegen sehr nah bei denen der „Antideutschen“[1], die – wie Gremliza in der „Konkret“ – die „vollständige Entwaffnung“ von „Hamas, Dschihad, Al-Aksa-Brigaden und Hisbollah“ wünschen, und, wenn das nicht gelingen sollte, einen „ganz anderen Krieg“ auch gegen andere Staaten, die Israel im Wege stehen, fordern, „Syrien und Iran allen voran“, und der müsste „mit jeder Waffe“ geführt werden, die Israel „zu Gebote steht“. Gremliza weiß, dass Israel über rund 250 Atomsprengköpfe verfügt und fordert hier unverhohlen den atomaren Dritten Weltkrieg. Man sollte sich sehr genau überlegen, ob man sich mit solchen Leuten und deren Kriegshetze gemein machen will.

Um noch weiter zu verdeutlichen, was gemeint ist, zitiere ich abschließend aus einem Artikel von Jürgen Elsässer aus der „jungen Welt“ vom 2. 8. 06.: Es ist notwendig, „Faschismus nicht primär phänomenologisch, sondern ökonomisch zu definieren, also zu der Kennzeichnung zurückzukehren, die die Komintern auf dem 7. Weltkongress unter Federführung von Georgi Dimitroff vorgenommen hat – als die „Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Diese Elemente waren vor 75 Jahren hauptsächlich in Deutschland und sind heute in den USA zu finden; in beiden Fällen war das jeweilige Kapital auf dem freien Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig und musste die Flucht nach vorne, zur militärischen Beherrschung des Weltmarktes, antreten. Eine Machtergreifung der Nazis in Deutschland gab es nie; was stattfand, war eine Machtübertragung, und die wurde vom Großkapital in dem Augenblick beschlossen, in dem auch die bis dahin weltmarktfähigen Elektro- und Chemieindustrien keinen anderen Ausweg mehr sahen als die Eroberung, den Weltkrieg.

Aus der spezifischen Situation des damaligen Deutschland ergab sich die Virulenz des Antisemitismus, der außerdem … für die profitable Zurichtung Osteuropas funktional war. Für die USA heute sieht das anders aus: In ihrem Hauptexpansionsraum, dem Nahen und Mittleren Osten, ist der jüdische Staat treuester Verbündeter, während es Moslems sind, die ihrem totalen Zugriff auf die Öl- und Gasquellen im Wege stehen. Deswegen hat der Antiislamismus den Antisemitismus als wichtigste Hassideologie des Imperialismus abgelöst. (Hervorhebung: F.F.) Von der jüdischen Weltverschwörung reden nur noch rückständige Irre; im Mainstream von Politik und Medien hat sich stattdessen die islamische Weltverschwörung als neue Wahnideologie etabliert. (…)“

Mit dem Antisemitismusvorwurf gegen die Kritiker der israelischen Regierung bedient man zu 100 % den aktuellen Antiislamismus. Man verhält sich dann etwa so, als hätte man vor 70 Jahren das Lebensrecht der germanischen Rassen gegen die „Überfremdung“ verteidigt und damit den damals aktuellen Antisemitismus bedient. Ich hoffe, dass klar geworden ist, wem der aktuelle Antisemitismusvorwurf nützt.

Antifaschismus muss notwendig Antiimperialismus und Antikapitalismus sein, denn moralischer Antifaschismus ohne eine analytische gesellschaftlich-ökonomische Theoriegrundlage führt, wie man sieht, dazu, dass die Bewegung die Orientierung verliert und das Geschäft des Gegners besorgt.

Frank Flegel,
Hannover

[1]Die Zeitschrift „Bahamas“ verteidigt uneingeschränkt Israels „Recht auf Selbstverteidigung“ und die Zeitschrift „Jungle World“ sagt: „Der Krieg muss sein“.