Das Alltagsbewußtsein

“Das Alltagsbewußtsein”
“Sein und Bewußtsein, Ideologie und Psyche”
“Der psychische Reflex des Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen”
Von Frank Flegel
Templin und Hannover, Juni bis Dezember 1995,
In: OFFENSIV-SONDERHEFT Nummer 11/97 (3. Auflage)

Vorwort

Das Erkenntnisinteresse, welches uns hier leitet, ist vom Bestreben nach Veränderung der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse und deshalb vom Marxismus geprägt. Genauer: davon, daß eine Veränderung hin zu einer solidarischen, d.h. sozialistischen Gesellschaft mit garantierten Entwicklungschancen für alle Menschen schlecht von kleinen Machtapparaten, sondern grundsätzlich durch Mitarbeit und Teilhabe tendentiell aller unterdrückter Menschen an den wichtigen gesellschaftlichen Prozessen möglich ist. So steht die Frage also: was hindert die Ausgebeuteten, Unterdrückten, Entwurzelten, alle die, die unter dem Kapitalismus leiden, daran, die Ursachen dieser Leiden zu erkennen und auf Grundlage dieser Erkenntnis den Weg zur Änderung des Wesens dieser Ausbeuterordnung einzuschlagen? Oder mit einem Zitat von Wilhelm Reich ausgedrückt:

“Wenn Arbeiter, die infolge Lohndrucks hungern, streiken, so ergibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer wirtschaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hungernden, der stielt. Zur Erklärung des Diebstahls aus Hunger oder des Streiks aus der Ausbeutung bedarf es keiner weiteren psychologischen Erklärung. In diesem Falle entsprechen Ideologie und Handeln dem wirtschaftlichen Druck. Ökonomische Lage und Ideologie decken sich. Die bürgerliche Psychologie pflegt in diesem Falle psychologisch erklären zu wollen, aus welchen angeblich irrationalen Motiven gestohlen oder gestreikt wird, was immer zu reaktionären Erklärungen führt. Für die dialektisch-materialistische Psychologie steht die Frage gerade umgekehrt: nicht, daß der Hungernde stielt oder daß der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stielt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt.”

Der Weg vom Käfig des eigenen kleinen, geschundenen Ego zu gesellschaftlichem, wissenschaftlich-analytischem Denken und Handeln ist lang und steinig, wird durch viele Fallstricke und Hürden behindert und bedarf eines guten Maßes an Auseinandersetzung mit der Welt, den anderen Menschen und sich selbst.

Die Schwierigkeiten und Behinderungen bei diesem Prozeß sollen hauptsächliches Thema dieses Heftes sein. Am Ende, um nicht einfach nur bei der Analyse des Problems stehen zu bleiben, sollen noch einige Gedanken geäußert werden dazu, was diese Analyse für die marxistische Linke bedeuten könnte – und was ich gern im Sinne des zukünftigen Handelns von MarxistInnen und KommunistInnen mit allen interessierten Genossinnen und Genossen innerhalb und außerhalb der PDS diskutieren würde.

Einleitung

Um von vornherein Unklarheiten zu vermeiden: Dies ist eine Arbeit, die sich nur am Rande mit wissenschaftstheoretischen, erkenntnistheoretischen oder innerwissenschaftlichen Problemen beschäftigt. Ziel dieser Arbeit ist es vielmehr, eine nicht der bürgerlichen Ideologie auf den Leim gehende Popularisierung sozialpsychologischer Denkweisen innerhalb der Linken zu dienen. Da dies allerdings schon viele Scharlatane vorgaben zu tun und dann bei Esoterik, Sexkommune, Kinderporno – oder Therapiegruppen, Töpferkursen und Selbsterfahrung gelandet sind, den Materialismus vergessen haben und die Welt aus der menschlichen Psyche erklären wollten, sind hier doch einige (sparsame) Bemerkungen zum theoretischen Ort dieser Ausführungen notwendig.

Erste (nicht vorhandene) Voraussetzung: die empirische Sozialforschung. Natürlich ist empirische Sozialforschung vorhanden, – Statistiken, Erhebungen, Umfrageergebnisse liegen zu allen möglichen und unmöglichen Themen vor. Zu den hier diskutierten Phänomenen und den sich dahinter verbergenden Strukturen jedoch ist die Menge soliden empirischen Materials recht gering und, was viel schädlicher ist, fast durchweg von den Fragen der bürgerlichen Soziologie, Werbepsychologie und ähnlichen Hilfswissenschaften des Kapitalismus geprägt, also in Zielstellung und Erkenntnisinteresse für uns mehr als fragwürdig. Deshalb beschränken wir uns hier allein auf Überlegungen, die sich aus der Begriffslogik ableiten.

Zweite (vorhandene) Voraussetzung: die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Warum Marx? Keine andere Gesellschaftstheorie verdient überhaupt den Namen “Theorie”, – im Gegenteil: was heutzutage sonst noch versucht, die Gesellschaft und die Welt zu erklären (Volkswirtschaftslehre, bürgerliche Ökonomie in allen Spielarten, bürgerliche Soziologie, Positivismus, Taylorismus; Black-Box-Theorien; Reiz-Reaktions-Schemata in gesellschaftlicher Diskussion, biologistische Weltbilder, Marktideologien, individualisierende Emanzipationsideologien wie Esoterik etc.pp.) gehören als bürgerliche Apologetik beschimpft .

Dritte (vorhandene) Voraussetzung: die Psychoanalyse seit Freud. Warum Psychoanalyse? Hier wird’s etwas schwieriger, denn die theorien sind wenig eindeutig: Die biologistisch fundierte Verhaltenstheorie, die meint, auch etwas über die menschliche Psyche aussagen zu können, hält menschliches Verhalten für direkt er- bzw. verlernbar, funktioniert nach dem Wenn-Dann-Schema, d.h. kommt als Lerntheorie daher, kennt kaum Widersprüche, sondern allein ‘gesellschaftlich anerkanntes’ und ‘gesellschaftlich nicht anerkanntes’ Verhalten. Damit geht sie im wesentlichen nicht dialektisch vor und klammert in weiten Bereichen die Frage WARUM aus. Die Psychoanalyse ist dialektisch per se in ihrem Persönlichkeitsschema Ich – Es – Über-Ich, wobei das Es die Triebe und Bedürfnisse (grob gesagt: die “Natur”), das Über-Ich die Regeln, Normen, Gebote und Verbote (grob gesagt: die “Gesellschaft”) und das Ich die Synthese aus beiden (grob gesagt: das “Individuum”) darstellt.

Erkenntnistheoretisch hat es die Psychoanalyse nicht leicht – ihre Erkenntnisse sind ebensowenig wie die der Marxschen Kapitalanalyse unmittelbar empirisch verifizierbar oder falsifizierbar. Trotzdem aber ist das Denken in der Kategorie des ‘Begriffes’, der das allgemeine Wesen bestimmter konkreter Erscheinungen ausdrückt, unverzichtbar.

Der bisherige Umgang mit der Psychoanalyse, der sich durchaus auch schon in Gesellschaftskritik versuchte (Fromm, Marcuse, Richter, usw.), hatte immer einen Hang zum Idealismus. Davor wird sich zu hüten sein. Auch werden sogenannte ‘Workshops’, kreatives Töpfern oder die in Therapien erzielte ‘Einheit mit sich selbst’ keine revolutionären Energien freisetzen, – im wesentlichen füllen sie die Portemonnaies der Teamer und Therapeuten.

Nun genug der Vorrede, auch wenn alles sehr kurz und bruchstückhaft bleibt (und bleiben muß, wenn dies hier kein ‘Schinken’ von 500 Seiten werden soll) – es sei hier nochmals betont: es handelt sich um vereinfachende Darstellungen, um das Aufzeigen von Grundstrukturen. An diesem Thema sind noch viele und grundlegende Forschungen nötig. Doch nun zur Sache!

TEIL 1: Direkt aus der Ökonomie entspringende Entstehungsbedingungen des Alltagsbewußtseins

1. Kapitel: Der Fetischcharakter der kapitalistischen Produktionsweise und seine Folgen.

Der Warenfetisch

Die Warenform wird von der kapitalistischen Produktionsweise zur alles umfassenden Form gesellschaftlicher Produktion gemacht. Kein gesellschaftliches Gebrauchsgut, das nicht als Ware auf die Welt käme, keine ökonomische Produktion, die nicht den Bedingungen der Warenproduktion und Warenzirkulation unterläge, kein menschliches Verhältnis, das ohne Waren- also Austauschcharakter existierte.

Nun arbeiten Menschen immer gesellschaftlich – beispielsweise auch als individueller Goldschmied oder Graphiker. Der Warencharakter verschleiert diese Gesellschaftlichkeit der Arbeit jedoch und errichtet einen gegenteiligen Schein: – als arbeite der einzelne Warenproduzent individuell und ohne gesellschaftliche Anbindung in seiner Werkstatt. Ein Schein, der nicht der Realität entbehrt: er arbeitet tatsächlich individuell und ohne Kontakt zur gesellschaftlichen Produktion. Erst auf dem Markt zeigt sich, ob er tatsächlich gesellschaftliche Arbeit verrichtet hat oder nicht – daran, nämlich, ob er sein Produkt zum Wert, darüber, darunter oder gar nicht verkaufen kann.

Also: die Individuen setzen sich nicht zusammen, um gemeinsam zu beraten, wer was tut, damit alle mit dem Notwendigen versorgt sind, sondern jeder stellt etwas her, das er hofft, verkaufen zu können, tritt dann auf dem Markt den eventuellen Käufern gegenüber und erfährt erst hier, ob seine Arbeit tatsächlich nützlich, seine Ware also verkaufbar isrt oder nicht.

Und dort – auf dem Markt – verhalten sich die Güter nicht wie Gebrauchsgegenstände für Menschen, sondern wie Waren zueinander: sie setzten sich zueinander in Beziehung (oder eben nicht), je nach kaufkräftiger Nachfrage. Also: nicht die Menschen als Menschen treten in ein gesellschaftliches Verhältnis (von Produktion und Verteilung), sondern die Waren, also die Dinge – und die Menschen nur als ihr Anhängsel, als Waren- bzw. Geldbesitzer, als Charaktermasken ihrer ökonomischen Rolle.

Den Dingen, den Waren, scheint innezuwohnen, was nur den Menschen ureigen ist: Gesellschaftlichkeit. Den Menchen als Menschen geht durch die Warenproduktion genau diese Gesellschaftlichkeit aber verloren, sie erscheinen (vor allem sich selbt) als individuell und vereinzelt.

Also kurz: Warenfetisch heißt, die Dinge (Waren) verhalten sich in gesellschaftlichem Verhältnis, die Menschen treten sich nur verdinglicht über die Beziehungen ihrer Arbeitsprodukte (=Waren) gegenüber.

Der Geldfetisch

Die Ware hat Gebrauchswert und Tauschwert. Ihr Gebrauchswert besteht in ihrer Nützlichkeit für den Menschen, d.h. als Gebrauchswert ist sie ein sinnliches Ding mit konkreten, für den Menschen nützlichen Eigenschaften. Ihr Tauschwert oder Wert bestimmt sich durch die menschliche Arbeit, die zu ihrer Produktion im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendig war. Ihr Tauschwert zeigt sich fast immer nur im Verhältnis zum Geld, zu der einen besonderen Ware, in der alle Waren der Welt ihren Wert ausdrücken.

Das genau birgt einige vertrackte Zusammenhänge in sich.

Zunächst: wer Geld hat, ist reich (und damit auch anerkannt), egal, ob er das Geld erschwindelt, in der Lotterie gewonnen, durch Ausbeutung anderer erworben oder selbst erarbeitet hat. Wer Geld hat, ist reich und anerkannt, egal, ob er der Gesellschaft etwas dafür gegeben hat oder nicht.

So macht Geld alles verkäuflich, nicht nur die eigentlichen Waren: Gewissen, Ehre, Moral, Politiker, Soldaten, Verhalten, Meinung, Habitus, Leben, Tod, Frauen, Kinder.

Denn: Im Resultat erlischt der Prozeß; oder: Geld stinkt nicht. Geld ist das strahlende Kristall des gesellschaftlichen Reichtums, dem alle nachhecheln, um ihn in ihren persönlichen Besitz zu bringen. Geld ist der Fetisch schlechthin, das mystische Ding. Geld ist Reichtum, Geld ist Macht, Geld ist Ansehen, Geld ist Glück. Wer Geld hat, hat es zu etwas gebracht und kann andere nach seiner Pfeiffe tanzen lassen. Und das nicht nur im Betrieb, sondern auch in fast jeder anderen gesellschaftlichen Situation.

Das führt zu unglaublichen Bewußtseinsverbiegungen: Hauptsache, der Job ist gut bezahlt, der gesellschaftliche Nutzeffekt ist egal; ja noch schlimmer: derjenige, der mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel “verdient” (will sagen: Geld erwirbt), ist ein patenter Kerl und gut angesehen, wenn nicht bewundert. Daneben wird derjenige, der für eventuell relativ wenig Lohn gesellschaftlich Notwendiges tut und dabei viel Zeit drangibt, eher belächelt und für ein bißchen dumm gehalten.

Die Bestimmungen des Warenfetisch finden sich alle wieder, jedoch verstärkt und verblendet durch das glänzende Kristall Geld, dieses Ding, das das Maß aller Dinge und (fast) aller menschlicher Verhaltensweisen ist.

Der Kapitalfetisch, oder:”Geld arbeitet”

Wer kennt diesen Satz nicht?: “Geld arbeitet”. Er ist der Inbegriff des Kapitalfetisch. Denn natürlich arbeitet Geld nicht, Geld läßt arbeiten – und zwar Menschen. Und nicht vordringlich für Gebrauchswerte oder irgend etwas anderes Nützliches – nein, zum Zwecke seiner eigenen Vermehrung läßt Geld Menschen, die keins haben, aber welches zum Überleben brauchen, für sich arbeiten. “Arbeitnehmer” werden sie dann genannt, diejenigen, die acht Stunden am Tag arbeiten, davon aber höchstens 1,5 Stunden für sich, d.h. dafür, ihren Lohn bzw. den Gegenwert ihres Lohnes zu produzieren und mindestens 6,5 Stunden für das Unternehmen und die Steuern. “Arbeitgeber” hingegen heißen die, die die Arbeit anderer Menschen vermittels ihrer Produktionsmittel einsaugen. Nun ja, diese Bezeichnungen sind so verkehrt wie die Anschauungen darüber begrifflos.

Zurück zum Fetisch: Geld arbeitet also, Geld regiert die Welt, Zeit ist Geld und was der Sprichwörter noch mehr sind – man braucht nur genau hinzuhören und weiß, daß etwas nicht stimmt.

Das Wertpapier, die Zinsanlage, das Bauherrenmodell ist aber nicht alles an diesem Fetisch, der ein soziales Herrschaftsverhältnis, nämlich das von Lohnarbeit und Kapital, im spekulativen Finanzkapital auf eine einfache Zinsrechung reduziert, zu “Geld heckendem Geld” (Marx) macht – auf den internationalen Finanzmärkten geht es ja auch tatsächlich so zu, – und so wird ein realer Schein produziert, denn die transferierten Werte müssen ja woanders produziert worden sein oder noch produziert werden. Aber dies Zinskapital ist nicht der ganze Fetisch:

Das schlimmste und grausamste Resultat ist m.E., daß die Maschine (also das Arbeitswerkzeug) nur noch in Ausnahmefällen als Helfer der Menschen in Erscheinung tritt, vielmehr um so öfter als sein Herr, Kommandant, ja sogar Feind, – nur dazu da, den Arbeitstakt zu bestimmen und Mehrarbeit einzusaugen. So entsteht die Herrschaft des Technikers über den Meister und des Meisters über den Arbeiter, vor allem aber die Herrschaft des in Maschinerie verwandelten Kapitals über die arbeitenden Menschen. Im Ganzen also die doppelte Herrschaft:

Produktionsmittelbesitz über Arbeitskraft und Kopf- über Handarbeit.

Die Folgen

dieser drei hier kurz dargestellten Fetischisierungen (Waren-, Geld- und Kapitalfetisch) bestimmter kapitalistischer Verhältnisse für die Menschen sind nicht zu unterschätzen, denn das Durchschauen der Verhältnisse wird verkompliziert:

Der Fetischcharakter der bürgerlichen Produktionsweise ist tatsächlicher Realcharakter, er ist tatsächlich vorhanden und trotzdem Vorspiegelung falscher Tatsachen (z.B.: kann man ohne Arbeit reich werden, obwohl kein Reichtum ohne Arbeit entsteht). Und: durch diese Fetischisierungen erscheinen die Verhältnisse als naturgegeben, – die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Geld dagegen wirkt wie reien Spinnerei – dabei ist es das Geld, was die Menschen spinnert macht, nicht seine

Analyse.

Also: Investitionen müssen rentabel sein (im Sinne von Profiten), die Maschinen müssen laufen, Leistung muß sich lohnen, Konkurrenz belebt das Geschäft, usw. – das alles unterschreibt fast jedes Individuum, das in der kapitalistischen Welt aufgewachsen ist – weil die Dinge (Maschinen, Investitionen etc) den Schein von Gesellschaftlichkeit haben und so eben alles als natürlich daherkommt (sogar bürgerlicher Egoismus und Entsolidarisierung wird noch als aus der Natur des Menschen stammend – “fressen und gefressen werden!” – angesehen); treten einmal Widersprüche auf, erscheinen sie als “Konflikte”, mit denen man leben muß, nicht als Antagonismen, die grundlegend zu überwinden sind.

2. Kapitel: Entfremdung

Der Kapitalismus entfremdet im von ihm bestimmten Produktions- und Zirkulationsprozeß die Handelnden (also Produzenten, Verkäufer und Käufer) von allem, was Arbeit und Produktion für die Menschen eigentlich sind: gemeinsame gesellschaftliche Gattungsäußerung. Stattdessen wird Arbeit ein notwendiges Übel zur Erhaltung des individuellen Lebens, der Inhalt der Arbeit wird zweitrangig, die Bezahlung dagegen das wichtigste.

Der Mensch im Kapitalismus arbeitet, wo er nicht zu Hause ist und ist zu Hause, wo er nicht arbeitet, er lernt, wo er nicht lebt und gesellt sich allein im nicht-gesellschaftlichen Raum – im Privaten. Überhaupt erscheint ihm das Private als das Eigentliche und das Gesellschaftliche eher als das Äußerliche, Störende, von dem er sich abwendet.

Doch der Reihe nach:

Entfremdung der Arbeit

Der kapitalistische Produktionsprozeß entfremdet den Produzenten von seiner eigenen Arbeit, vom eigenen Prozeß der produktiven Tätigkeit. Und zwar zunächst dadurch, daß ihm fremde Zwecke die Produktion bestimmen: nicht der eigentliche Zweck menschlicher Arbeit, also die für Menschen sinnvolle Umgestaltung der Natur, die Produktion von Gebrauchswerten, bestimmt, was geschieht, sondern der der Arbeit an sich vollkommen fremde Zweck des Profits bestimmt Art, Umfang und Struktur der Arbeit. So wird der Produzent zum den sogenannten “Sachzwängen” unterlegenen Befehlsempfänger.

Durch das Regiment des Kapitals wird die Arbeit selbst zerhackt und zerstückelt, Kopf- und Handarbeit getrennt und Kreativität und Initiative von der tatsächlichen Herstellung von Gütern geschieden. Dadurch entsteht auf der einen Seite ein zerstörerischer, die Menschen verödender materieller Produktionsprozeß, der alle menschlichen Potenzen verkümmern und absterben läßt, die Beteiligten mental verelendet und austrocknet – auf der anderen Seite haben wir Entwicklungsabteilungen, Kreativdirektoren, Strategiekonferenzen, Management, die, nicht weniger entfremdet, weil nicht weniger dem Profitprinzip untergeordnet, wie in einer Dunstglocke den geistigen Teil der für das Kapital produktiven Arbeitübernehmen.

Diese Trennung von Kopf- und Handarbeit führt zu einer verhängnisvollen Trennung von Theorie und Praxis in den Köpfen der beteiligten Individuen, zu einer künstlichen Gegenüberstellung beider Pole, die nicht wenig mit der Behinderung gesellschaftlichen Denkens zu tun hat: beide zusammengehörigen Pole menschlicher Arbeit sind hierarchisch geschieden, – die einen (viele Kopfarbeiter) schauen herunter und kompensieren so ihre eigene Abhängigkeit vom Kapital, – die anderen (viele Handarbeiter) fühlen sich von vornherein als Verlierer, es bleibt ihnen nichts, als hinaufzuschauen und Nebenwege für gesellschaftliche Anerkennung zu suchen, denn Müllabfuhr ist als Berufsziel noch immer ein Schimpfwort.

Der Kapitalismus entfremdet die Produzenten aber nicht nur von ihrer Arbeit als menschlicher Gattungstätigkeit, sondern auch von ihrem Arbeitsprodukt. Jede/r wird die Situation kennen, in der er/sie ein Werk fertiggestellt hat und nun darüber eine gewisse Befriedigung, ja vielleicht sogar Stolz empfindet. Ein solches Gefühl ist in der industriellen kapitalistischen Produktion und der dazugehörigen Zirkulation fast gänzlich ausgeschlossen: wer tagtäglich hunderte von Karosseriehauben stanzt, Kilometer von Profilholz hobelt, stundenlang Lebensmittelpreise in die Kasse eintippt usw. usf., dem entgeht der ‘Stolz’ auf das Endprodukt. Außerdem hat der Produzent mit seinem Endprodukt sowieso nichts zu tun – es gehört dem Unternehmer.

Was dem Produzenten bleibt, ist die Flüssigmachung seiner Arbeit, die Betätigung seiner Areitskraft ohne wesentliche Mitbestimmung über die Bedingungen, ohne konkrete Sinnzusammenhänge – Realcharakter der abstrakten Arbeit nennt Alfred Sohn-Retheldiese Quälerei – alles allein für ‘Kohle’, vom Produzenten aus für Lohn, vom Unternehmer aus für Profit.

Trennung von Arbeit und Leben und die materielle Ursache der Frauenunterdrückung heute

Im Kapitalismus ist Arbeit (also Lohnarbeit) im wesentlichen Entäußerung, Entsagung, Unterordnung. Begleitet ist das Ganze häufig mit ausgesprochenem Widerwillen, (man lasse das Klima in der Straßenbahn werktags morgens um 5.30 Uhr auf sich wirken). Lohnarbeit ist wesentlich Nicht-Leben, Nicht-Wohlfühlen; Lohnarbeit ist im psychischen Sinne Nicht-Produktivität, ist eher Destriuktivität, schürt Druck, schlechte Laune, Aggressivität und Kompensationsbedürfnisse dafür.

Das Leben der lohnabhängigen Individuen im Kapitalismus findet demgemäß vor allem in den Bereichen der Nicht-Arbeit statt, zu Hause, beim Hobby, im Urlaub, vor dem Fernseher und bei anderen Zerstreuungen. Damit verschiebt sich das, was als Leben angesehen wird, weg vom bewußten gesellschaftlichen Handeln hin zum vereinzelten oder gruppenisolierten Privatisieren – Freizeitkult mit Squash und Spaßbad, “wir bauen uns ein Nest”, “in mein’ Verein”, beim Stammtisch usw.

Und dabei steht im Hintergrund eine noch viel grausamere Tatsache: das, was die lohnabhängigen Individuen als Leben empfinden, ist nichts anderes als die Reproduktion ihrer Arbeitskraft. (Egal, ob Mallorca mit Neckermann, Snowboardkurs in den Alpen oder Individualtour in die Toskana: die Unterschiede sind allein im Habitus verschiedener Schichten von Lohnabhängigen begründet, die Funktion, Belohnung für die harte Arbeit und Reproduktionszeit der Arbeitskraft zu sein, bleibt bei allen gleich – “Kraft durch Freude” auf moderne Art und als Anlagesphäre des Kapitals.)

Außer diesen eben angesprochenen Hobbies, Aktivitäten usw. dient der Reproduktion der Arbeitskraft, die in der bürgerlichen Gesellschaft in der Mehrzahl männlich ist, meist täglich und meist ganzjährig eine Frau. Die vertragliche Form dieser Angelegenheit heißt “Ehe”, das Ziel der beteiligten Individuen ist meist die Familie. Versehen mit aller Klebrigkeit, zu der die bürgerliche Ideologie nur fähig ist (Familienvorstand, Mutterglück, Häuslichkeit, Stammhalter, usw.usf.), übernehmen Ehe und Familie eine wesentliche Aufgabe für das Kapital, und dies unentgledlich: Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft. Und dabei übernimmt in der Regel die Frau die kostenlose Hege und Pflege, die Versorgung und Betreuung (Haushalt, Kochen, Waschen, Backen, Putzen, Gemütlichkeit und Liebe). Das Maß, wie hier alles vom kapitalistischen Produktionsprozeß abhängt, kann überhaupt nicht überschätzt werden; das Wort “alles” meint hier nicht nur Essen und Schlafen, Fernsehen und Duschen, – auch die Arten der Geselligkeit, Gemütlichkeit und der Liebe sind nicht unabhängig vom sogenannten ‘Arbeitsleben’. Hierzu als Beispiel ein persönliches Erlebnis: “Wenn die Bumserei nicht wäre, wüßte man(n) ja gar nicht mehr, wozu man(n) noch arbeiten geht, nicht wahr, Mäuschen?”, sagte der frustrierte Ehemann, Lagerarbeiter, zu seiner frustrierten Ehefrau, Hausfrau, 1 Kind, die sich ihm immer öfter verweigerte.

Meines Erachtens liegt die Ursache für die strukturelle Unterdrückung und Benachteiligung des weiblichen Geschlechts in unserer Zeit (also im Kapitalismus) exakt an dieser Stelle: an der Zuweisung der unentgeltlichen Reproduktionsarbeit der kapitalistischen Gesellschaft an die Frauen. Da diese Rolle noch immer in weiten Teilen der Gesellschaft als Ziel weiblichen Handelns akzeptiert wird, entsteht so eine doppelte Funktionalisierung der Frauen,

1.) für das Kapital; und – vermittelt über die Reproduktionsarbeit –

2.) für den Mann.

Ist es schon schlimm genug, daß Arbeit im Kapitalismus für die Lohnabhängigen (in der Mehrzahl Männer) zur reinen Geldquelle verkommt und darüber hinaus höchstens noch zur sog. “Karriere” dient, ist es noch viel schlimmer, daß vor allem Frauen (denen in überwältigender Mehrheit der Haushalt obliegt) sich von diesen doch immerhin noch über die eigene Familie hinausgehenden Zusammenhängen in großer Zahl fernhalten (lassen) und im Haushalt dann nur noch für “ihre Lieben” da sind (bzw. da sein sollen). Eine größere Amputation menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten ist kaum vorstellbar.

Aber nicht nur Erwachsene werden von den Entfremdungsprozessen erfaßt und dadurch in ihrem Denken und Fühlen deformiert: Kinder und Jugendliche sind im Kapitalismus nicht besser dran!

Entfremdung des Lernens von Gesellschaft und Leben

Ach ja, die Schule! Machen wir es kurz: sie hat heute weder eine reale Verbindung mit der Gesellschaft (Arbeit, Produktion, Distribution etc) – und mit dem normalen Leben von Familien und Kindern verbindet sie ebensowenig. Die Schule heute ist ein Elfenbeinturm – allein dazu taugend, das Ertragen der Entfremdung, deren Kern das Ertragen des Handelns für fremde Zwecke ist, zu erlernen, zu trainieren und zu festigen.

Und man komme mir jetzt nicht mit allen möglichen Reformansätzen: so lange die Schule von der Produktion getrennt ist (und das muß sie sein im Kapitalismus, denn die Kontrolle der Produktion gehört hier den Unternehmen und nicht der Gesellschaft), so lange sind alle Reformversuche Flickschusterei und Kosmetik.

Das übliche Zensurensystem tut dann den Rest: die Ziele von Leistung unter Druck, Lohn, Strafe, Konkurrenz und Erfolg bzw. Rauswurf (natürlich als selbstverschuldet) zu organisieren und als Sachzwang in den Köpfen der beteiligten Individuen zu verewigen.

So weit, so schlecht mal wieder.

Wozu führt das alles?

Abschottung der Familie von der Gesellschaft

Die Menschen empfinden das Private als das Eigentliche, suchen dort Erfüllung, Anerkennung, Emanzipation usw. – wie oft und wie heftig das “Private” dabei überlastet wird und wie oft und wie heftig dabei das Gegenteil der Hoffnungen, nämlich die Hölle auf Erden, herauskommt, soll hier nicht näher ausgeführt werden.

Thema ist das gesellschaftliche Denken und seine Behinderung. Deshalb hier nur so viel: Es entsteht ein Denken, welches ‘privat’ gegen ‘öffentlich’ wendet, welches einen Einzel- bzw. familiären Gruppenegoismus gegen das Allgemeinwohl setzt und gesellschaftliches Engagement oft genug diskreditiert oder behindert und verbietet. (Daß die eben zitierte ‘Hölle auf Erden’ auch gesellschaftliche Konsequenzen hat, daß diejenigen, die nur Zank und Streit erleben, die mit ihren Eltern, ihren Kindern, ihrer Sexualität usw. nicht zurechtkommen, in sich gefangen und damit behindert sind und daß sie eher dazu tendieren, sich unsozial, egoistisch, zerstörerisch zu verhalten, liegt auf der Hand.)

Die Folgen

Folge der ganzen Misere ist die Zerstörung der Menschen als produktive Wesen, die dadurch ihrer Selbstachtung verlustig gehen; diese mangelnde Selbstachtung läßt auch die Achtung vor dem Menschengeschlecht überhaupt verkümmern, das Selbstwertgefühl kann sich nicht entwickeln, die Person vertrocknet, – die Menschen werden atomisiert, apolitisiert und zu Privat-Egoisten verbogen.

3. Kapitel: Die Mystifizierungen der Oberfläche des Kapitals

Das Kapital

Kurz vorweg der Begriff des Kapitals, wie Marx ihn im Kapital, Band I, 4. Kapitel ff. entwickelt, im Telegrammstil :

Der Kapitalkreislauf sieht wie folgt aus:

Pm

G – W … Produktion … W’ – G’

Ak

Dabei sind

G = Geld, W = Ware, Pm = Produktionsmittel, Ak = Arbeitskraft, W’ die durch die Produktion entstandenen neuen Waren, G’ die durch den Verkauf der neuen Waren entstandene größere Geldsumme.

Mit dem Geld (G) werden Waren (W) gekauft oder gemietet, Waren einer sehr speziellen Natur, nämlich Produktionsmittel (Pm) und Arbeitskraft (Ak). So sind alle Bedingungen für den Produktionsprozeß beisammen und andere, neue Waren können hergestellt werden. Die Werte der Produktionsmittel gehen (als Rohmaterial ganz und sofort, als Werkzeug oder Maschine über einen bestimmten Zeitraum stückweise) in das neue Produkt über. Die Arbeitskraft hat die Eigenschaft, in ihrem Gebrauch Arbeit flüssig zu machen und so Wert zu schaffen.

Die Arbeitskraft wird zu ihrem Wert bezahlt, dieser entspricht den notwendigen Lebenmitteln plus den notwendigen darüber hinausgehenden Konsumgütern plus der notwendigen Bildung plus den Kosten für die Kinderaufzucht. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft ist die Arbeit selbst. Diese schafft Wert. Es ist eine Binsenweisheit, daß heutzutage (und schon lange Zeit in der Menschengeschichte) jede/r, die/der produktiv materiell arbeitet, mehr Güter herstellen kann, als sie/er selbst (plus Familie) verbraucht.

Was heißt das? In ca. 1,5 Stunden ist heute der Gegenwert der Arbeitskraft pro Tag in der industriellen Produktion geschaffen, während der restlichen ca. 6,5 Stunden gibt der sogenannte Arbeitnehmer seine Arbeit anderen Leuten, heute zunächst den Unternehmern, über die Steuern umverteilt zum Teil auch dem bürgerlichen Staat. In diesem Mehrprodukt (also der Menge von Gütern, die jeder produktiv Tätige über seinen eigenen Bedarf hinaus produziern kann) liegt die eigentliche Quelle gesellschaftlichen Reichtums. Und im Kapitalismus die Quelle des Profits.

So weit zum “Kapital” von Karl Marx und damit zur Ökonomie des Kapitalismus in Kurzdarstellung. Das Dargestellte war eine Skizze des Wesens der Sache. Um was hier aber gehen soll, ist seine glänzende äußere Erscheinung.

Die Zirkulationsspäre

Die das Alltagsbewußtsein prägende Oberfläche des Kapitals finden wir nicht in der Produktionssphäre, sondern in der Zirkulation, dort, wo Ware und Geld getauscht werden, wo u.a. das Kreditwesen sich umtreibt und wo alle Menschen gleich erscheinen, jedenfalls ohne qualititiven Unterschied, wo nämlich alle Menschen nur als Waren- oder Geldbesitzer vorkommen und nach Äquivalenten tauschen.

Ja, man kann sagen, daß die Zirkulationsspäre die eigentliche Öffentlichkeit des Kapitals ist – der Produktionsprozeß findet ja privat statt, dort hinter dem Fabriktor, ohne die Scheinwerfer der Medien – hier also, in der Zirkulationsspäre, sind Medien, Berichte, Wertschätzung, Erscheinung und Habitus, Glücksversprechen, Werbung und Konsum angesiedelt. Man kann sogar noch weiter gehen: da Lohnarbeit eben nur ein ‘Job’ ist für Geld, findet eine gesellschaftliche Verdrängung der Produktion statt bei gleichzeitiger Blendung der Menschen durch die Zirkulation. Die Menschen leben sozusagen in und für die Zirkulation. Für die Zirkulation gehen sie arbeiten. Der Feierabend ist ihr Leben. Kaum jemand fühlt sich dabei noch als produktives Individuum.

Die Zirkulation ist der Entstehungsort solcher Ideologien wie der von der ‘nivellierten Mittelstandsgesellschaft’, der ‘Informations-’ oder auch der ‘Konsumgesellschaft’, hier wird der ‘konsumfreudige Citoyen’ geboren.

Daß die eine Gruppe von Menschen durch den Besitz von (oder die wertmäßige Verfügungsgewalt über) Produktionsmittel in der Lage ist, sich das Mehrprodukt des (wesentlich größeren) Teils anzueignen, verschwindet in der Zirkulationsspäre unter dem Schein der Gleichheit aller Käufer = Geldbesitzer: egal, ob Kapitalist oder Lohnarbeiter, Beamter oder Bauer, Angestellter oder Künstler, Kleingewerbetreibender oder Politiker, beim Bäcker, wenn sie Brot kaufen, unterscheiden sie sich durch nichts.

Nur was den repräsentativen Konsum angeht, gibt es einige Unterschiede, die aber als quantitative erscheinen (was sich einer leisten kann nämlich), die aber nie einen qualitativen Widerspruch zwischen den Menschen deutlich werden lassen, wie er unmittelbar vor uns liegt, wenn wir den Produktionsprozeß betrachten. Die grundlegenden Klassenunterschiede innerhalb der Gesellschaft erscheinen auf der Ebene der Zirkulation wie das Problem der nächsthöheren Wagenklasse, der Wohngegend und der Wohnungseinrichtung, des nächsten Urlaubszieles, des Besuches bestimmter Restaurants u.ä. mehr.

Die Zirkulationssphäre ist die große Kompensationsmaschine des Kapitalismus: sie hält über den Konsum, die darin enthaltenen individuellen ‘Entfaltungs’-Möglichkeiten und Habitus-Allüren Ventile bereit, um die in der Produktionsspäre erlittenen psychischen Verletzungen zu kompensieren, – natürlich (und leider!) nur als Scheinbefriedigungen – jedoch mit riesengroßem Erfolg. Man schalte das Fernsehen ein, man gehe am ‘langen Donnerstag’ mal ‘shopping’, man schaue einfach nur um sich, man schaue sich selbst an – und staune!

Warenform und Denkform, Individualisierung

Die Allgegenwärtigkeit des Geldes, damit des Tausches, des Äquivalents von Geben und Nehmen, führt zu einem demgemäßen Abbild im Denken, wobei sich zwei wesentliche Probleme ergeben:

1. Das Denken in ‘Rentabilitäten’, also in Tauschrelationen.

 Was gebe ich, was nehme ich – bin ich mit der Relation von Leistung und Gewinn zufrieden – diese Denkform (die für das Marktgeschehen richtig, ja unentbehrlich ist) durchzieht in der bürgerlichen Gesellschaft alles: Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften, Liebesbeziehungen, das Verhältnis der Menschen zum Lernen, zur gesellschaftlichen Arbeit, zur Freizeit…

2. Die Quantifizierung des Denkens.

Da alles zu einem ‘Mehr’ oder ‘Weniger’ an Wert oder Gewinn aufgelöst wird, gerät konkretes und qualitatives Denken immer mehr in den Hintergrund und unkonkretes, oberflächliches Denken breitet sich immer mehr aus.

3. Der grundsätzliche Charakter des ‘Kaufes’

Als einzelner Transaktion fördert er den Schein des Individualismus und führt als Konsequenz der Warenform zum Denken in Individualisierungen, ja fast zu einem Kult des Individualismus, obwohl und vor allem: weil die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich exakt das Gegenteil betreibt: Vermassung, Verblödung, Gleichschaltung. Das bürgerliche Individuum kann sich in der Zirkulationssphäre als etwas besonderes dünken, die Wahl zwischen der neongelben und der neongrünen Radlerhose für’s Mountain-Biking erscheint als ‘individuelle’ Freiheit und damit als ‘individuelle’ Wahl.

Der Schein von ‘Freiheit’ und ‘Gleichheit’

Ansonsten erscheinen die Individuen innerhalb der kapitalistischen Zirkulationssphäre sich selbst als Gleiche und Freie (vor allem Zweiteres!), als individuell, mit ‘freiem’ Willen begabt und ‘jeder seines Glückes Schmied’. So ist es denn auch kein Wunder, daß diejenigen, die nicht die direkte Erfahrung kapitalbeherrschter Lohnarbeit machen, also bestimmte Bereiche der Zwischenschichten (Angestellte und Beamte, kleine Selbständige u.ä.) die größten Flausen über die gesellschaftlichen Zustände im Kopf haben: sie haben kein Korrektiv des Scheins der Oberfläche durch die Teilnahme am Produktionsprozeß.

Es bedarf eigentlich kaum der Erwähnung, daß diese rein formale Gleichheit der Menschen als Geldbesitzer auf dem Markt, diese rein formale Freiheit der Menschen, die keine andere als die Freiheit haben, unter den angebotenen Waren auf dem Markt zu wählen, sich in der formalen Demokratie des bürgerlichen Parlamentarismus wiederfindet – wo jede/r die gleiche Stimme hat, über die sie/er frei verfügen kann – so lange es keine gesellschaftliche Alternative gibt, so lange alles also rein formal bleibt. “Wir rechnen nach und nennen es Betrug, daß es gar keine Wahl gibt bei den Wahlen”, sang vor mehr als 20 Jahren schon Degenhardt.

Wird die Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft von den Menschen ernst genommen in ihrem wortwörtlichen Anspruch und damit transformiert zu Anforderungen an inhaltliche Demokratie, die die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion betreffen, ist recht schnell Schluß mit der Spielwiese des Parlamentarismus. Dann zeigt sich, daß die bürgerlichen Werte von Freiheit und Gleichheit eben nur formaler Natur waren und sind und im Krisenfalle sofort ersetzt werden durch die dann ganz inhaltliche Diktatur des Kapitals (Mussolini, Franco, Hitler, Pinochet, Militärdiktaturen in verschiedenen Ländern Süd- und Mittelamerikas, in Portugal, Griechenland, der Türkei usw. seien hier nur als einige wenige Beispiele genannt.)

Die Folgen

Diejenigen, die die Erfahrung der Lohnarbeit in den kapitalistischen Betrieben und Büros machen, werden durch den schönen Schein der Oberfläche in ihren Erfahrungen immer wieder relativiert. Wer genauer hinsieht, wird diese Widersprüchlichkeit des Alltagsbewußtseins von Arbeitern und Angestellten immer wieder feststellen. Weite Teile der nicht direkt mit der materiellen Produktion befaßten Bevölkerung, also Hausfrauen, Kinder, Jugendliche, im Sozialsektor Tätige, Freiberufler usw., werden vom Schein der Oberfläche verführt zu individualisiertem, in z. T. recht abstrakten Freiheitsansprüchen sich ergehendem Denken. Neben dem Fetischcharakter der Ware, des Geldes, des Kapitals und der unglaublich tiefgreifenden Entfremdungsstruktur ist eben die Mystifizierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch die Oberfläche der Zirkulation ein sehr einflußreicher Faktor für die Verwirrung, Verkehrung, Vernebelung der menschlichen Vernunft.

Wer gegen die eben genannten Faktoren die Wahrheit über den Kapitalismus erkennen will, muß nicht nur die Marxsche Theorie darüber kennenlernen und studieren, – das wäre ja immerhin noch so einfach wie z.B. die Grundbegriffe des Rechnens zu erlernen – er muß auch sehr viele seiner bisherigen Anschauungen, Vorurteile, Urteile und bisher in seinem Lebenskreis als wahr geltenden Einschätzungen über die Welt und die Menschen hinter sich lassen. Und hier genau liegt das Problem: Warum sollte sich jemand dieser psychischen Anstrengung ohne Not oder wenigstens heftigen gesellschaftlichen Anstoß unterziehen?

4. Kapitel: Klassenlage und Bewußtseinsform

Die Stellung des einzelnen im gesellschaftlichen Ganzen und damit vor allem in und zur Ökonomie – oder ganz einfach gesagt: sein Beruf – lassen die Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins selbstverständlich nicht unbeeinflußt.

Doch zunächst sind hier einige Worte zum Begriff “Klasse” zu sagen, denn in weiten Kreisen der Linken gilt er ja als altmodisch bzw. überholt. Wir gehen hier davon aus, daß die Marxsche Kapitalanalyse so lange stimmt, wie es Kapitalismus gibt. Aus der Strukturformel des Kapitals

Pm

G – W …..Produktion….. W’ – G’

Ak

ergeben sich ganz klar zwei von der Kapitalbewegung voneinander geschiedene Gruppen von Menschen: diejenigen, die als Geldbesitzer ihr Geld zu Kapital machen, also die Produktionsmittel-Besitzer auf der einen Seite (Besitzer von G, W, Pm) und diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen auf der anderen Seite (Besitzer von Ak). Dies ist die grundlegende Klassenspaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese existiert unabhängig vom Bewußtsein oder Nicht-Bewußtsein der beteiligten Individuen über die Verhältnisse.

Trotzdem ist die Realität immer konkret und die Wahrheit über sie ist nicht allein mit der Strukturformel des Kapitals zu erfassen.

Neben den Kapitaleignern und denjenigen, die ihre Arbeitskraft direkt an’s Kapital verkaufen tummeln sich Zwischenschichten, also Kleingewerbetreibende, Händler und Handwerker, Agenten des bürgerlichen Staates wie Beamte bei Justiz, Polizei, Ausbildung, Verwaltung, und da gibt es die Agenten des Kapitals, also Betriebsführer, Abteilungsleiter, Techniker und deren kreative Zulieferer.

Und die jeweilige Lage gibt jeweils bestimmtem Denken (Weltoffenheit, Nationalismus, Konkurrenz, Solidarität, Individualismus, Gemeinschaftlichkeit und so weiter) den Vorzug.

Aber auch bei den Menschen, die klassischerweise zum ‘Industrieproletariat’ gehören, finden sich viele Bewußtseinsunterschiede – von Großbetrieb zu Großbetrieb verschieden, fast immer von der Sozialpartnerschafts-Ideologie der Gewerkschaften bestimmt und oft in Konkurrenzausprägungen befangen gegen ‘Ausländer’ bzw. Belegschaften anderer Betriebe.

Wir haben also trotz der grundlegenden Klassenspaltung der Gesellschaft vielfältige Überlagerungen derselben vor uns: der selbständige Gemüseladen erzeugt ein anderes Denken als der Posten eines Verkaufsmanagers, die Beamtenschicht versteht sich anders als die halbtags dazuverdienende Hausfrau – ganz zu schweigen von Arbeitslosen, in untergeordnete Arbeitsmärkte Abgedrängten, Aushilfsbeschäftigten oder Hausbediensteten.

Auch die herrschende Klasse ist in sich strukturiert, also nicht homogen – hier hat allerdings die ökonomisch mächtigste, wenn auch kleinste Fraktion die Meinungsführerschaft: das Finanzkapital. Vermittel über die Arbeitgeberverbände tritt uns eine konsequente Interessenvertretung der Bourgeoisie entgegen, die inneren Konflikte und Widersprüche sollten uns aber nicht entgehen (siehe Metall im Laufe dieses Jahres 1995; siehe auch aktuell und sicherlich noch bis in 1996 hinein: Einzelhandel, also Ladenschlußgesetz).

5. Kapitel: Der Einfluß des jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Klimas

Nicht wenig – u.a. auch für den Anstoß, sich gesellschaftliche Verhältnisse näher zu betrachten – macht das Klima der jeweiligen 15 – 25 Jahre aus, die prägend für die Entwicklung eines Menschen sind.

Da gab es in diesem Jahrhundert Generationen, die finsterstes Elend (Not und Krieg) erlebt haben, wieder andere, die (in verschiedenen sozio-ökonomischen Situationen) voller Zuversicht den Aufbau vor sich sahen, die Veränderungen bewirken konnten bzw. an ihnen Teil hatten und die Zukunft als gestaltbaren Raum begriffen, – und da gab es z.B. in jüngster Vergangenheit welche, die in den Zeiten der Arbeitslosigkeit alles Gesellschaftliche aus ihrem Denken verbannten und Zukunft dementsprechend nur noch als persönlichen Erfolg denken konnten.

Es ist eben kein Zufall, daß die Akzeptanz des Sozialismus in der Bevölkerung der DDR in verschiedenen Etappen sehr verschieden war und daß die ‘Mauerstürmer’ eher die jüngeren Menschen waren, – ebensowenig, wie die Revolte in der BRD 1968 oder die immer unpolitischer werdenden und zusätzlich Anpassungsdruck erzeugenden Jugendmoden der späten 80-er und frühen 90-er Jahre.

Die ökonomische Lage produziert ein ihr adäquates Klima in der Gesellschaft, eine Veränderung der Wertvorstellungen der Menschen, und daraus entstehen Moden, Subkulturen, Haltungen, Dekungsarten, die sich z.T. sehr von denen einer vorherigen Generation unterscheiden können. Das behindert den Erfahrungsaustausch z.T. erheblich: während der Vater sich gegen die Übergriffe des Kapitals mit den Gewerkschaften wehrte, mit ihren Aufmärschen, roten Nelken und ‘Brüder, zur Sonne, zur Freiheit’, so redet der Sohn evtl. von den Ghettos, dem echten Rap, den Underground-Comics usw. und beide verstehen kaum, was der andere will. Und dabei ist es im Kern das Gleiche! Oder was ist, wenn die Mutter dafür kämpfte, daß Frauen den gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen und so Menschenwürde für Frauen durchsetzen wollte, die Tochter aber eher esoterisch sich selbst und die Zusammenhänge der Welt sucht? Es wehren sich beide im innersten Grunde gegen denselben Dreck, gegen Funktionalisierung und Entfremdung in der bürgerlichen Gesellschaft, aber dermaßen vom Zeitgeist überlagert (und dadurch z. T. auch verblendet), daß sie sich nicht mehr verstehen. Schade immer um die Erfahrungen, die dadurch verschüttet werden. Dazu tritt aktuell noch, daß der Entsolidarisierung, die durch Arbeitslosigkeit und Krise entstanden ist, weder die Gewerkschaften noch die ‘Links’parteien oder andere politische Zusammenhänge etwas entgegen zu setzen haben.

Eine genaue Einschätzung von Kultur, Mode, Habitus, Jugendbewegung etc. ist für eine sozialistische Partei unabdingbar, um eventuelle zukünftige Entwicklungen abschätzen zu können, um die aktuelle Lage genauer analysieren zu können, ja um überhaupt Propaganda machen zu können.

Aber sind wir auch zur Offensive fähig? Können wir selbst das Klima beeinflussen oder umkehren? Wie funktionieren solche Prozesse?

Ob und wie Gewerkschaften, Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten in der Lage sein können, innerhalb des Kapitalismus korrigierend auf das gesellschaftliche Klima einzuwirken, müßte genauer geprüft werden, als es hier möglich ist. Die bedingungslose Anpassung an den Mainstream, wie ihn die SPD und die Grünen zeigen, hilft auf keinen Fall weiter. Andererseits ist die Karikatur des einsamen Rufers in der Wüste, den keiner hört, natürlich auch nicht die erstrebenswerte Rolle für uns Linke.

So müssen wir zunächst reagieren und analysieren. Und – mehr und besser als zur Zeit – auch agieren.

Teil 2: Indirekt aus der kapitalistischen Ökonomie entspringende Entstehungsbedingungen des Alltagsbewußtseins (= psychische Faktoren)

1. Kapitel

Ableitung der gängigen Verhaltens- und Erziehungsziele aus der kapitalistischen Ökonomie und den sich daraus ergebenden “herrschenden Gedanken” dieser Gesellschaft

Das Kapital setzt die Lohnarbeit als seinen Gegenpart und bestimmt gleichzeitig zu weiten Teilen die Bedingungen des (Privat-)Lebens der Lohnabhängigen und ihrer Familien. Je nach Produktivkraft-Entwicklung, Technologieeinsatz und Verwertungsbedingung des Kapitals sind bestimmte Qualifikationen der Träger von Arbeitskraft notwendig. Vor allem aber fordert das Kapital bestimmte psychische Dispositionen bei den von ihnen Ausgebeuteten und bei deren Familienmitgliedern, also in Produktion und Reproduktion.

Noch vor 20 Jahren waren dies vorwiegend: Unterordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin, Arbeitsamkeit, Gehorsam, Verläßlichkeit, usw.

Diese Werte sind auch heute noch unverzichtbar, denn der Gang zur Arbeit, die entfremdete Tätigkeit für Geld, die hierarchische Struktur der meisten Arbeitsplätze setzt für das diesen Bedingungen unterliegende Individuum noch immer solche oder ähnliche Qualitäten voraus.

Allerdings sind dies eher traditionelle Werte, unter der Oberfläche der ‘Moderne’ nicht mehr so sichtbar. Sie werden überlagert von den neuen Sozialcharakter-Merkmalen wie Dynamik, Flexibilität, Teamfähigkeit, Leistungswille, Kreativität, Einsatzbereitschaft – alles von den Lohnarbeitern natürlich nicht zweckmäßig für sie und ihresgleichen ausgerichtet, sondern zum Wohle des Unternehmens und daher unter den Bedingungen der Logik des Kapitals.

Diese Anpassung des psychischen Seins der Menschen an die Erfordernisse des “Arbeitsmarktes”, also an die Forderungen, die das Kapital an die Qualität der Ware Arbeitskraft stellt, fordert vom jeweiligen Individuum ein hohes Maß an psychischer Gelenkigkeit:

– erstens fordert sie die sehr komplizierte Qualität, Niederlagen, Unterordnung, Befehlsempfang, Autoritätsangst (trotz und zusätzlich zur Leistung des Triebverzichts) über Jahrzehnte ertragen zu können;

– diese Anpassung fordert zweitens die psychische Kraft, Triebaufschub bzw. Triebverzicht zu leisten (eben zu arbeiten und zu gehorchen und in dieser Zeit nichts anderes zu tun als das, egal, wie uneinsichtig, unbefriedigend, demütigend, angstmachend diese Arbeit ist);

– und sie erfordert drittens die Energie, in Verhältnissen der Konkurrenz, unter Zeitdruck und in Bewährungssituationen mit Angst und Streß fertig zu werden und trotz dieser die Psyche extrem anspannenden Emotionen volle Leistung zu bringen. Bei steigender Arbeitslosigkeit erhöht sich der Druck auf die Individuen selbstverständlich um ein Vielfaches.

Wer diese psychischen ‘Qualitäten’ nicht gelernt hat, wird es im Kapitalismus nicht nur kaum zu etwas bringen, er wird mit einiger Wahrscheinlichkeit hart um die soziale Existenz kämpfen müssen – und dabei entweder seine Lektionen doch noch lernen oder untergehen.

Um solch eine eben skizzierte ‘ideale’ Qualifikation als Ware Arbeitskraft zu erreichen, braucht das Individuum eine jahrelange Zurichtung, die ihm möglichst alles gattungsmäßig Solidarische austreibt, einen belastungsfähigen Egoisten mit sogenannter ‘sozialer Intelligenz’ aus ihm macht mit den eben angeführten ‘Qualitäten’.

Diese Zurichtung geschieht in der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen in der Familie, der Kindertagesstätte, der Schule, der Berufsausbildung und evtl. noch abschließend in den ersten Berufsjahren. Es müssen Träger der Ware Arbeitskraft, nicht menschliche Individuen produziert werden, die das bürgerliche gesellschaftliche Idealbild vom Mensch anerkennen, statt sich darüber lustig zu machen, – die gern gehorchen, ohne zu fragen, wem und für was, – die den persönlichen Erfolg lieben und alles dafür tun, ohne zu fragen, wessen Vorteil, welchen Zweck oder welche Folgen das Ganze zeitigt. Und diese auf die Anforderungen des Kapitals zugerichteten Menschen werden produziert – massenweise – ohne zu merken, daß sie fast nichts anderes mehr sind als marionettenhaft ferngelenkte Sozialcharaktere (siehe Bild-Zeitung, Mode, Musikgeschmack, RTL, Fußball-Bundesliga, Christos Reichstagsverhüllung usw.usf…)

Natürlich entsteht bei diesem Prozeß auch Ausschuß, Leute, bei denen die Sozialisation nicht die rechte Einpassung in die moderne Gesellschaft, sprich den richtigen Erwerb der Qualifikationen eines für das Kapital kompatiblen Ausbeutungsobjektes bewirken konnte – dafür stehen Sozial’fürsorge’, Obdachlosenasyl, Knast und Psychiatrie zur Verfügung.

Wie diese psychische Zurichtung vor sich geht, welche innerpsychischen Strukturen entstehen, welche Folgen dieser Prozeß über den für das Kapital notwendigen Zweck hinaus hat, vor allem aber, welche verschiedenen Sozialcharaktere wir beobachten können, wird weiter unten etwas genauer ausgeführt.

Die bürgerliche Gesellschaft disqualifiziert sich selbst als eine auch nur im geringsten menschenwürdige Gesellschaft – nicht nur in Kriegen, Krisen, Inflationen usw., sondern auch und permanent in “friedlichen” Zeiten durch das psychische Elend, das sie produziert: Suchtkrankheiten (Rauschgift, Fress- und Magersucht, Arbeitssucht und vor allem Alkohol, Tabletten und Nikotin), Aggression und Gewalt (allgemein gesellschaftlich, in der Familie, gegen Frauen und Kinder) individuelle psychische Schäden (Zwangs- und Sexualneurosen, Ängste, Depressionen, Schizophrenien usw.)

Aber auch unterhalb dieser sehr dramatischen Fälle von psychischen Katastrophen sind einige sehr massenwirksame psychische ‘Deformationen’ (für den Kapitalismus sicherlich: funktionable Qualitäten) zu beobachten. Die drei wichtigsten, weil massenhaft auftretenden psychischen Dispositionen der Menschen im Kapitalismus sollen nun in den nächsten drei Kapiteln dargestellt werden.

2. Kapitel: Der autoritäre Charakter

Die Theorie vom “autoritären Charakter” basiert auf der Psychoanalyse, die von Freud begründet und von mehreren anderen weiterentwickelt wurde. Um die folgenden Ausführungen zu verstehen, sind zunächst drei Begriffe einzuführen, die Freud als “psychische Instanzen” bezeichnet hat: Das “Ich”, das “Es” und das “Über-Ich”.

Das “Es”: Triebe und Grund-Bedürfnisse. Hierzu ist sicherlich Essen, Trinken, Schlafen usw., genauso Liebe und Sexualität, aber auch Neugier, Kreativität und Produktivität zu rechnen. Sicherlich nicht sind hier jedoch die aktuell erworbenen ‘Bedürfnisse’ wie das nach einer Zigarette, nach einem Heck-Spoiler am Auto, dem Urlaub auf Gran Canaria, der ‘richtigen’ Mode oder nach anderen ‘Kultur’leistungen zu nennen.

Das “Über-Ich”: Normen und Werte, Verbote und Gebote. Hierher gehören die Regeln des Umgangs mit anderen Menschen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, Moralvorstellungen, Wertungen und die Gewissensbildung.

Das”Ich”: Die die eben genannten beiden psychischen Instanzen und die vorgefundene Realität miteinander vermittelnde psychische Kraft, die handelnde Person. Das Ich befriedigt die Ansprüche aus dem “Es”, so weit es ohne größere Kollision mit den Vorstellungen des “Über-Ich” geht und in der Realität möglich ist. Das “Ich” vermittelt Widersprüche zwischen “Es” und “Über-Ich”, wägt die verschiedenen äußeren und inneren Ansprüche ab und handelt dementsprechend, stellt Wünsche und Bedürfnisse zurück, wenn es sein muß, verhilft ihnen an anderer Stelle zum Durchbruch, usw. usf.

Es ist unschwer zu erkennen, daß das “Über-Ich” und das “Es” ein Widerspruchspaar bilden, in dem – vereinfacht gesagt – menschliche Naturund gesellschaftlicher Anspruch kollidieren, Bewegungsformen ihrer gegensätzlichen Bestimmungen erzeugen und gleichzeitig ihre Widersprüche verschieben, verlagern und/oder auf höherer Ebene reproduzieren (in Liebesbeziehungen, Familie, im Arbeitsleben usw.)

Grundlage der Herausbildung eines “autoritären Charakters” ist die Art der Bildung des “Über-Ich”: Findet die Bildung des “Über-Ich” überwiegend mit heftigem Druck, harter Strafe, also scharfer Repression statt, entwickeln sich beim Kind also während seiner Erziehung große Ängste, so führt diese Situation zu einem großen Gewicht des “Über-Ich” in der Person. Daraus entstehen – lax gesagt – Menschen, die die Pflicht ‘genießen’, die für Norm und Sitte leben. Die Ursache ist klar: Das “Ich”, also die Person selbst, die Instanz, die zwischen Lust, Gewissen und Realität vermittelt, lebt in ständiger großer Angst vor der Strafe, die für eventuellen Normübertretungen droht.

Diese Angst müssen wir hier näher betrachten:

Zunächst, also im Zuge der Herausbildung des “Über-Ich”, meist in relativ früher Kindheit beginnend, ist die Angst direkt auf die strafende Erziehungsperson bezogen, also vollkommen real.

Bei länger anhaltender und harter Repression installiert sich der äußere Druck als Gewissen – mit steigender Angst wird das Gewissen mächtig und übermächtig. Das Gefühl des ‘schlechten Gewissens’ ist die dumpfe Ahnung, daß Strafe lauert, Unheil kommt bei Übertretung der Norm. Die Angst vor der äußeren Strafe ist nun schon zur Angst vor dem “Über-Ich”, also zur inneren Angst geworden.

Das “Ich” spürt nun also bei bestimmten Regungen des “Es”, also bei bestimmten Bedürfnissen oder Wünschen ein schlechtes Gewissen, dumpfe Angst vor Strafe – ein Zustand, der das “Ich” jeweils in unangenehme, schwer auszuhaltende Stimmungen versetzt. Inzwischen wirkt nämlich schon das Bewußt-Werden bestimmter Wünsche angstauslösend. Die Angst vor Strafe hat sich verlagert zur Angst vor dem Wunsch bzw. Bedürfnis. Um dieser (permanenten) Angst zu entgehen, lehnt sich das “Ich” an das “Über-Ich” an und ‘verdrängt’ über kurz oder lang den angstmachenden Teil des “Es”.

Verdrängung heißt: Das “Ich” ‘vergißt’ diesen Teil des menschlichen Seins nach dem bekannten Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Und: diese ‘bösen’ Triebe und Bedürfnisse, häufig Teile des Bewegungsbedürfnisses, der Neugier und Kreativität, der Sexualität usw. ‘vergißt’ die betreffende Person tatsächlich, d.h. sie verschwinden aus dem Bewußtsein, und indem sie verschwinden, wird die so unerträgliche Angst vor dem ‘Bösen’ in der eigenen Person gegenstandslos.

Allerdings haben Verdrängungen ein Problem: das, was uns in die Wiege gelegt wurde, ist nicht einfach ausradierbar – d.h.: das “Ich” betreibt gewissermaßen einen Selbstbetrug, es ‘vergißt’ etwas, was trotzdem da bleibt, denn die ‘bösen’ Bedürfnisse und Triebe werden – bildlich gesprochen – zwar hinter Stahltüren eingebunkert, rumoren dahinter jedoch weiter herum und poltern andauernd gegen die Türen, weshalb diese von außen mit großer Energie zugehalten werden müssen.

Als Ventil für diese Verdrängungsproblematik bietet sich die Projektion an. Hieraus entwickelt sich

die aktiv autoritäre Seite des ‘autoritären Charakters’:

Wenn sich Gruppen von Menschen oder auch bestimmte Einzelpersonen finden, auf die die eigenen verdrängten “Es”-Anteile projiziert werden können (d.h. diese Gruppen oder Einzelpersonen müssen einige Eigenschaften haben, die sie dazu prädestinieren, verdrängtes ‘Böses’ angehängt zu bekommen), nimmt unser geknechtetes, autoritär geprägtes Individuum die Möglichkeit gern wahr, mit dem Finger auf sie zu zeigen. Also: irgendwelche Außenseiter, Randgruppen o.ä. werden unbewußt vom ‘autoritären Charakter’ benutzt, indem ihnen zunächst das eigene ‘Böse’ unterstellt wird (‘Zigeuner’ klauen, ‘Juden’ raffen, ‘Neger’ sind besonders potent – und alle zusammen stinken; – also häufig: Dreck, Chaos, Unmoral, Faulheit, Diebstahl usw. – was mitnichten der Realität entspricht), um sie dann für diese ihnen angedichteten Eigenschaften zu hassen – und damit in den anderen das totzuschlagen, was man selbst unbewußt los sein möchte. So kann vom autoritär geprägten, unter Verdrängungen leidenden Menschen also das Anpöbeln von Minderheiten, das “Aufklatschen” von Ausländern, das Anzünden von Asylbewerberheimen oder die Vergasung von Juden durchaus als innere ‘Reinigung’ empfunden werden.

Welche politische und soziale Gefahr hier lauert, liegt auf der Hand: Minderheiten können zum Buhmann und Sündenbock gemacht werden – eine von den Herrschenden gern gewählte Taktik, um vom selbst produzierten Elend abzulenken. So ist leider für die Unterdrückten und vom Kapitalismus Ausgebeuteten der Weg der einfachen Lösung (z.B.: ‘die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg’) wesentlich leichter, ja psychisch geradezu entlastend, weil einen Abladeplatz für das eigene ‘Böse’ darstellend, während der Weg der realen Erkenntnis, also die Analyse des Kapitalismus und die damit verbundenen Folgen, also Auflehnung gegen die Herrschaft und gegen Autoritäten, die Erkenntnis eigenen falschen Handelns usw. eher anstrengend und u.U. sehr belastend ist.

Hier liegt ein großes Problem und eine der Ursachen, warum Entrechtete, Entwurzelte und Ausgebeutete nicht sofort und massenhaft die Ursachen des Elends erkennen, sondern lieber Lösungen bevorzugen, die ihrer psychischen Struktur besser entsprechen als der Satz: an allem ist zu zweifeln (Marx).

Hiermit aber noch nicht genug; der ‘autoritäre Charakter’ bildet nicht nur eine aggressive, zerstörerische Seite der Persönlichkeit, nein, er ist gleichzeitig auch lenkbar wie ein Lamm und somit noch ganz anders instrumentalisierbar:

die passiv autoritäre Seite des ‘autoritären Charakters’

Wir hatten gesehen, daß sich das “Ich” an das “Über-Ich” anlehnt, um der Strafe für gesellschaftliche Verbotsübertretungen zu entgehen. Das “Ich” will, um es einfacher auszudrücken, immer alles ‘richtig’ machen, wobei ‘richtig’ nicht im Sinne der besten Verhaltensweise für die Bewältigung einer bestimmten Situation gemeint ist, sondern im Sinne des Gehorsams gegenüber den gesellschaftlichen Regeln. Das schwache “Ich” ist beständig auf der Suche nach dem garantiert richtigen gesellschaftlichen Verhalten und lebt in beständiger tendenzieller Angst, diese eventuell nur aus Unwissenheit zu übertreten, eben etwas nicht ‘richtig’ zu machen.

Wenn sich nun eine Autorität anbietet, also eine Person, die von Habitus, Ausstrahlung und sozialer Anerkennung her von den Menschen als übermächtig empfunden werden kann, entwickelt sich ein gefährlicher Kreislauf:

Das schwache “Ich” des ‘autoritären Charakters’ projiziert Teile seiner eigenen “Über-Ich”-Inhalte auf diese (Autoritäts)-Person, so daß diese auf einen Sockel gestellt wird und damit als übermäßig klug, annähernd unfehlbar, als Genie, Inkarnation der Moral usw. usf. erscheint, wobei das, was dieser Autoritätsperson nachgesagt wird, mitnichten etwas mit ihrem realen Können oder ihrem realen Charakter zu tun haben muß.

Ist diese Person erstmal auf den Sockel gestellt, hat das schwache “Ich” des ‘autoritären Charakters’ einen Glücksfall vor der Nase: eine allgemein anerkannte Personifizierung des eigenen “Über-Ich”! Was nun geschieht ist so simpel wie wirkungsvoll: der Gehorsam gegenüber dieser Autorität gibt dem “Ich” die Gewißheit, ‘richtig’ zu handeln, da die Befehle der Autoritätsperson psychisch gesehen aus dem eigenen “Über-Ich” kommen. Nicht mehr Informieren, Abwägen, Urteilen, Zweifeln sind nun der Weg zum Handeln, sondern Gehorsam gegenüber der Autorität mit garantierter moralischer Richtigkeit der Handlung.

Nun zeigt sich die ganze Gefahr des autoritären Charakters: Buckeln, Speichellecken, Gehorsam nach oben, – Treten, Verachten, Ausgrenzen, Verfolgen nach unten. – beides angelegt in der gleichen Charakterstruktur, in den gleichen Menschen als Massenphänomen – und von der Politik des Imperialismus bestens instrumentalisierbar.

Und man denke vor lauter ‘Modernität’ des heutigen Lebens nicht, daß dies Charakterbild am Aussterben wäre oder eine Qualität der älteren Mitbürger sei! Der ‘autoritäre Charakter’ als Massenphänomen ist noch nicht einmal in irgend einer Weise rückläufig: Jüngste Untersuchungen zeigten, daß über 50 % der Deutschen eindeutig autoritäre Orientierungen zeigen. Und der heutige Rummel um die Pop-Stars bei den jüngeren Menschen unterscheidet sich psychisch kaum von den Skandalgeschichten der Regenbogenpresse um Könige und Fürsten, wie sie eher für die Älteren angeboten werden.

Es bleibt festzuhalten: Die autoritäre Charakterstruktur ist für ein Erwerbsleben als abhängig Beschäftigte/r im Kapitalismus unerläßlich, – als grundlegende Zurichtung auf die Unterwerfung unter fremde Zwecke. Die reine Befehls- und Gehorsamsorientierung allerdings ist nicht immer funktional, denn im Zeitalter von Teamgeist, flachen Hierarchien, Gruppenarbeit, Leistungsbereitschaft, Flexibilität usw. ist auch Eigenverantwortlichkeit und Kreativität (natürlich nur zum Nutzen der Firma) – aber eben nicht nur Gehorsam gegenüber dem Meister oder Vorgesetzten – gefragt. So braucht der ‘autoritäre Charakter’ noch einige zusätzliche Prägungen, damit er den Anforderungen des kapitalistischen Arbeitsmarktes gerecht wird.

Und da die materiellen Verhältnisse im Regelfalle die geistige Produktion nach ihren Erfordernissen bestimmen, da Moral, Sitte, Alltagsanschauungen eben kaum ein Eigenleben führen, brauchen wir auch nicht lange nach diesen ‘modernen’ Korrekturen für den ‘autoritären Charakter’ zu suchen.

3. Kapitel: Der Narzismus

Narzis war der Selbstbezogene, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte.

Menschen, die sich immer und andauernd spreizen wie ein Pfau und ein nicht zu übersehendes Gewese um sich machen, gibt es viele; – ich nehme an, jeder wird einige kennen. Der Kern dieses oft nervtötenden Verhaltens liegt im Ahnen oder Spüren der betroffenen Person, den Anforderungen (die durch Erziehung zur eigenen Norm wurden) nicht zu genügen, eigentlich (in den eigenen Augen) eine Null zu sein. Das oft unsägliche Geltungsbedürfnis und die extreme Angst davor, nicht wahrgenommen zu werden, sind dem Versuch geschuldet, sich und der Umwelt ständig das Gegenteil der eigenen Angst vor der Bedeutungslosigkeit zu beweisen.

Die zugrundeliegende Charakterstruktur, die die Person für Anerkennung fast alles tun läßt, entsteht aus einer übertriebenen Leistungs- und Erfolgsanforderung in Kindheit und Jugend. Und daß diese wiederum aus dem kapitalistischen ‘Arbeitsmarkt’ mit seiner typischen Massenarbeitslosigkeit entspringen, muß sicher nicht weiter ausgeführt werden. Wichtig ist hier nur, bei der Diskussion solcher Erziehungsfragen die gesellschaftliche Bedingtheit moralischer Setzungen nicht aus den Augen zu verlieren: Nicht die Eltern, die das Kind zum Abitur oder zum beruflichen Aufstieg anhalten, oft mit dem berüchtigten Satz: “Du sollst es einmal besser haben”, sind die Ursache des Problems, es ist die kapitalistische Produktionsweise, die mit Arbeitslosigkeit und beruflicher Hierarchisierung soziale Auslese betreibt und so die Menschen im Klima der Konkurrenz voller individueller Angst (sowohl vor dem Versagen als auch vor den Folgen des Versagens) zu immer höherer individueller Leistung antreibt. Die oben erwähnten Eltern sind also die Übermittler, nicht die Setzer dieser Leistungs- und Arbeitsmoral.

Aber jetzt genauer zu den innerpsychischen Prozessen:

Ist ein wesentlicher “Über-Ich”-Anteil der Erfolg, liegt also der Zwang zum Erfolg als zwingende Verhaltensmaxime über annähernd allen anderen Anforderungen, die an das Kind / den Jugendlichen gestellt werden, lernt ein junger Mensch so also, daß nur und ausschließlich Erfolg zu Bestätigung, Wärme und Liebe führt, so wird ihm der Inhalt seines Tuns sehr bald kaum noch etwas zählen, wichtig wird sehr schnell allein die Anerkennung seiner Handlungen als erfolgreich.

Dies ist eine Situation tiefster Entfremdung des Menschen von sich selbst. Eigene inhaltliche Interessen, Wünsche und Bedürfnisse sind nichts, sinnvolles gesellschaftliches Tun, Gemeinschaftlichkeit, Solidarität ebensowenig, alles ist überlagert von der alles Menschliche zerstörenden Gier nach Erfolg. Und dieser Erfolg ist immer ein individualistisches Ding, immer ein aus dem Ethos der Konkurrenz stammendes Gefühl: Erfolg ist nur etwas wert als Erfolg vor anderen, als ein Bewunderung und Neid erweckender Sieg – oft auch noch: über andere. Das heißt, daß der Fremdbestimmung Tür und Tor geöffnet sind, denn wer bestimmt etwas als ‘erfolgreich’? Im allgemeinen: sowohl der ‘Arbeitgeber’, also das personifizierte Kapital, als auch die Öffentlichkeit, also die herrschende Ideologie, wie zusätzlich andere Autoritäten (Lehrer, Kritiker, Professoren usw.usf.)

Wird einem Kind oder Jugendlichen also ein solcher Leistungs- und Erfolgsdruck auferlegt- hat der junge Mensch aber nicht das Glück, all den Anforderungen, so wie er ist, entsprechen zu können, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Scheitern oder Glänzen. Da Scheitern keine Variante ist, die freudig angenommen wird, findet der Versuch statt, alles, was dem Idealbild des Erfolgreichen widerspricht, zu eliminieren.

So legt sich die betroffene Person eine Fassade zu, die bei intensiver Pflege zu einer Art ‘Ideal-Ich’ heranwächst, also nicht mehr eine vorübergehende Rolle, eine Verstellung, ein Schauspiel ist, sondern sich als ‘Charakter’, als eine ‘Schein’-Person verfestigt, die sich den gesellschaftlichen Erfolgsansprüchen gewachsen zeigt. Psychisch gesehen ist das eine durchaus tragischen Entwicklung, denn die Person ist nur noch ihre eigene Hülle; im wahrsten Sinne des Wortes: sie ist ihre Hülle! Sie ist aus sich selbst heraus nichts mehr, alles, was es von Natur und verschiedenen Erfahrungen her gab, was sich aber nicht als erfolgreich bzw. als erfolgheischend bewährte, wurde ja über Bord geworfen… Eine solche Person ruht nicht in sich, hat kein klares und ruhiges Selbstbewuftsein, sondern jagt – permanent umtriebig – Erfolgserlebnissen hinterher. Weil nämlich in eben beschriebener Art substanzlos, lebt eine solche Person ausschließlich von äußerer Anerkennung – die Fassade, das ‘Ideal-Ich’, muß seine Richtigkeit durch Erfolg ständig beweisen und muß durch Anerkennung und Bewunderung von außen genährt werden. Der Beifall ist dem narzistischen Charakter sozusagen das Lebenselixier, die Substanz, aus der die Fassade genährt wird. Ohne Bewunderung fällt dieses künstliche Gebäude des ‘Ideal-Ich’ wie ein Kartenhaus zusammen, war der Grund für seine Bildung doch Anerkennung und Erfolg.

Kollektives Handeln, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit fallen dem narzistischen Charakter schwer, es ist nämlich wenig persönliche Anerkennung darin zu erwarten, daß man sich einig mit anderen, mit ihnen gleich macht: der Narzist lebt ja von seinem individuellen Erfolg vor anderen (im doppelten Sinne: er muß ‘besser’ sein als andere und er muß dies Besser-Sein anderen zeigen). Dieser Individualismus steht sich sehr oft selbst im Wege.

Gesellschaftlich lebt der narzistische Charakter immer in der Gefahr, für fremde Interessen instrumentalisiert zu werden, bietet man ihm nur genügend ‘Streicheleinheiten’ dafür, das Gefühl anerkannt, wichtig, ja unentbehrlich zu sein usw.

Leider steht der Narzismus der Ausbildung gesellschaftlichen Bewußtseins, welches über das Alltagsbewußtsein hinausgeht, im Wege, schließt dieser Akt doch das tiefere gedankliche Eindringen in gesellschaftliche Strukturen voraus, und dazu ist individuell das Bewußsein von ungenügender Kenntnis über die Zusammenhänge Voraussetzung – ein Mangel, den sich selbst zuzugeben narzistischen Personen schwer wird.

4. Kapitel: Die Geschlechterrollen

Über Männer- und Frauenrollen existieren eine Menge Mythen und oberflächliche Vorstellungen.

Eine der verbreitetsten (und nicht nur deshalb gefährlichsten) ist der Biologismus: die Rollen seien angeboren, die Frau sei schwächer und schmücke sich gern, der Mann kühner und er sei der aktivere Teil; dies sei die natürliche Ordnung.

Andere vertreten die Meinung, die Männer allesamt hätten Dreck am Stecken, seien potentielle Vergewaltiger, noch biologistischer: besäßen ein potentiell gefährliches Organ und seien überhaupt die Herrschenden in dieser Gesellschaft, machten die Kriege usw., das alles von sogenannter feministischer ‘Theorie’, ohne dabei an Ökonomie oder Klassengesellschaft zu denken.

Noch andere hingegen vermeldeten vor einigen Jahren, der Mann sei dressiert; und die katholische Kirche brachte es tatsächlich fertig, zweimal in ihrer Geschichte ernsthaft darüber nachzudenken, ob die Frau überhaupt zur Menschheit im eigentlichen Sinne gerechnet werden könne. Man könnte noch Seiten füllen mit ähnlichen Absurditäten, es soll genügen.

Eins ist sicher: ein reizendes Thema, was wir hier vor uns haben. Irgendwem wird man dabei immer auf’s ‘Hühnerauge’ treten. Trotzdem sind einige Erläuterungen notwendig über die Verhältnisse, die uns zu “Frau” oder “Mann” machen, weil die Schwierigkeiten mit diesem Frau- bzw. Mann-Sein vielen Menschen den klaren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse um sie herum verstellen.

Nichts ist praktischer für das Kapital, als den Frauen weite Teile der Reproduktionsarbeit der Gesellschaft unentgeltlich aufzuhalsen und dem Ganzen dann die höheren Weihen von “Mutterglück”, “Familienbande”, “Hausfrauenehre” und über die Familie hinaus von “Dienst am Nächsten” u.a.m. zu geben. Hier ziehen reaktionäre Kirchenfürsten, Unternehmerverbände und ihre rechten und konservativen Politiker (seit einiger Zeit “Mitte” genannt) an einem Strang.

Warum machen die Menschen das mit? Dazu ein Beispiel: “Beim Baden (in der Badewanne, d.Red.) lese ich ungemein gern Zeitung, trinke ein Bier und rauche meine Pfeiffe; aber eins wird regelmäßig naß dabei. Wissen Sie Rat, wie ich mir meinen Genuß erhalten kann?” (Leserzuschrift an ‘Frau Barbara antwortet’ in ‘TV Hören und Sehen’ in den 70er Jahren). Warum muß dieser Mann so viele männliche Qualitäten gleichzeitig zelebrieren, daß eine regelmäßig in’s Wasser fällt?

Warum ist es so, wie es ist, also: was prägt den weiblichen Menschen zur bürgerlichen Frau und was den männlichen Menschen zum bürgerlichen Manne?

Warum haben die Geschlechterrollen ein derartiges Beharrungsvermögen, daß auch der Realsozialismus mit seiner annähernden ökonomischen und sozialen Gleichstellung der Frau die tradierten Vorstellungen nicht grundlegend überwinden konnte?

Zu diesen Rollenverhältnissen gibt uns die Psychoanalyse einiges an die Hand, was im folgenden kurz referiert werden soll.

Die Übernahme der Geschlechterrollen

Kinder entdecken, wenn sie etwa vier bis fünf Jahre alt sind, daß Menschen sexuelle verschiedene Wesen sind und daß damit nicht nur Sexualität, sondern auch eine bestimmte Stellung im Leben verbunden ist. (Natürlich ‘wissen’ sie auch schon vorher, daß es Männer und Frauen gibt, das hat aber noch nicht die Wichtigkeit, die diese Rollen- und Geschlechterfrage im genannten Alter für sie bekommt.) Die Psychoanalyse nennt diese Phase der menschlichen Entwicklung die “genitale Phase”. In der genitalen Phase wird also alles grundsätzliche Gesellschaftliche gelernt, was mit dem jeweiligen Geschlecht des Kindes zusammenhängt, also Rolle, Status, Verhalten, Verantwortlichkeit usw. Wir wollen nun genauer betrachten, wie das funktioniert.

Jede/r wird das Kind kennen, das sich eifersüchtig zwischen die Eltern drängelt, – das Mädchen, das den Vater, – den Jungen, der die Mutter später einmal heiraten will.

Das Kind, nun sexuell erwacht, findet sich in einer Konkurrenzsituation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Der gleichgeschlechtliche Konkurrent soll weg (wird auch manchmal ganz handgreiflich weggeschoben oder weggeboxt), das Kind ist voller Aggressionen und ist unglücklich. Selbstredend geht dieser (in sich widersprüchliche, da zwischen Liebe und Haß ambivalente) Kampf für das Kind verloren. Und nun geschieht das Interessante:

Aus der Abneigung und dem potentiellen Haß gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil wird Anerkennung, ja Identifikation. Der Junge hat nämlich begriffen: nur wenn ich so toll werde wie Papa, nur dann werde ich mal von einer so tollen Frau wie Mama gemocht – und das Mädchen hat begriffen: allein der Weg, die Mutter zu kopieren, bringt mich dahin, einen so tollen Mann wie Papa zu kriegen. Und so wird aus dem gehaßten Konkurrenten das geliebte Vorbild, an dem gelernt wird, was das andersgeschlechtliche Elternteil anerkennt, gut findet, liebt.

Viele Menschen laufen lange Zeit ihres Lebens dem unbewußten Wunsch hinterher, ihrem Vater oder ihrer Mutter zu gefallen, indem sie so oder besser sein wollen, wie im ersten Falle ihre Mutter, im zweiten ihr Vater, – und tun dafür alles mögliche – Mädchen noch immer vorwiegend süß, inzwischen manchmal auch klug und karrieretauglich, Jungs noch immer vorwiegend hart, dabei kreativ und dynamisch, immer aber ein ganzer Kerl. Ohne den (unbewußten) Wunsch vieler Männer, ihrer Mutter noch immer zu zeigen, was für ein Kerl sie sind, wären die Umsätze der deutschen Spoiler- und Tuning-Industrie sowie eine Vielzahl von Verkehrstoten nicht erklärbar – von den Umsätzen der Mode- und Kosmetikindustrie und dem Gefallenswunsch der Frauen ganz zu schweigen.

Folgen

Und nun sage niemand, das sei nichts Politisches, das berge keine Gefahren in sich.

So lange dieses lebenslange männliche Der-Mutter-gefallen-Wollen sich in Blumen zum Muttertag ausdrückt, spielt es keine wesentliche gesellschaftliche Rolle, wenn es aber in Erfolgsstreben allgemein sich ausdrückt, wird es schon komplizierter, weil es Solidarität verhindert. Anders gesagt: Da nicht jeder seiner Mutter den Wunsch nach dem Klassenbesten erfüllen kann, sind der Konkurrenz auch hier Tür und Tor geöffnet. Sowohl bei den Gewinnern als auch besonders bei den Verlierern entstehen neue Gefahren: das lebenslange Streben nach Anerkennung durch die Mutter, das Streben nach dem erfolgreichen ‘ganzen Kerl’ usw., (in diesem Zusammenhang sei jeder/m einmal die Lektüre einer Motorrad-Zeitung und das Betrachten der dort abgedruckten Reklame angeraten), damit nicht unwesentlich das Streben nach angesehenen Konsumgütern. Daß für solcherart geprägte Männer der ‘Realsozialismus’ beispielsweise in der DDR weniger ‘Möglichkeiten’ der ‘Entfaltung’ bot als der Kapitalismus westdeutscher Prägung, liegt auf der Hand.

Und so lange das lebenslange weibliche Dem-Vater-gefallen-Wollen in Geschenken zum Geburtstag sich erschöpft, spielt auch dies keine große gesellschaftliche Rolle. Wenn aber Bravheit, Unterwürfigkeit, Diensteifrigkeit der Frau die Resultate sind und der Wunsch, im Haushalt in der Versorgungsfunktion aufzugehen, das Lebensziel wurde, – ja dann sieht es schlecht aus mit Eigenständigkeit, Selbstbewußtsein, gewerkschaftlicher Organisierung und politischer Klarheit von Frauen, denn dann reicht der Horizont nur bis zum Rand der eigenen Familie. Und wenn die Prägung die Frau eher zum Modepüppchen machte, ist das Resultat aus gesellschaftlicher Sicht nicht minder niederschmetternd.

Wie der erste Teil dieses Heftes gezeigt hatte, ist gerade das Selbstverständnis des Menschen als Konsument anstatt seines Bewußtseins als Produzent der Gesellschaft eine der gesellschaftlich fatalsten Folgen der Herrschaft des Kapitals, die leider genau hier, bei dem Streben nach dem ‘ganzen’ Mann bzw. der ‘tollen’ Frau, einen beispiellosen psychischen Nährboden findet.

Zusätzlich zu diesen die Übernahme der Geschlechterrollen betreffenden Überlegungen, die eigentlich schon genug Schauriges beinhalten, muß im weiteren noch auf die gesellschaftlich-sozialpsychologische Ursache der durchaus nicht seltenen und ein relevantes gesellschaftliches Problem darstellenden männlichen Geringschätzung bzw. Minderachtung der Frau eingegangen werden, denn erstens sind die Ergebnisse dieses Mißverhältnisses fast immer Unglück, aber auch viel zu oft Qual und Gewalt, zweitens fangen und fesseln alle verschiedenen Formen des ‘Geschlechterkampfes’die Menschen in vorbewußten und individualisierten Denkungsarten und verhindern damit gesellschaftliche Klarheit.

Die problematische Art der männlichen Rollensozialisation

Im Gegensatz zur weiblichen Rollenübernahme, die über die ‘normale’ Identifikation mit der Mutter (während der genitalen Phase) funktioniert und während und nach der Pubertät mit ihrer Abgrenzung gegenüber den Eltern zur eigenen Identität führt, stellen sich bei diesem Prozeß für die männlichen Individuen zwei zusätzliche Probleme dar:

Erstens: wir haben wegen des höheren Erwerbstätigenstandes der Männer und wegen der traditionellen Arbeitsteilung in der Familie (bzw. zwischen den Geschlechtern), die auch bei Arbeitslosen anzutreffen ist, eine Art “vaterlose” Kindheit, d.h. der Vater ist häufig abwesend, kümmert sich weniger um die Kinder, vor allem nicht, wenn sie klein sind. Das führt zu der Situation, daß der Junge, der in der genitalen Phase eine männliche Identifikationsrolle sucht, der nachzueifern den Erfolg bei so tollen Frauen wie seine Mutter in Aussicht stellt (wie oben dargelegt), dies männliche Vorbild nicht ausreichend im Vater findet. Also muß der Junge woanders suchen. Und was findet er heutzutage? Reklame, TV, Kino, US-Serien, Pop-Stars usw. usf. Und dort werden in der Regel Helden dargestellt, Männer, die immer souverän sind, alles im Griff haben (vor allem die Frauen). Übernimmt der Junge diese Rollenvorstellungen für sich, was schon fast unausweichlich ist bei der heutigen Systematik von Familie (und wer nicht glaubt, daß die Vier- bis Sechsjährigen dies tun, schaue sich die kleinen ‘Machos’ in den Kindertagesstätten einmal an), läuft er einem Ideal hinterher, was schlichweg nicht zu erreichen ist, ihm also das Gefühl gibt, eigentlich kein ‘ganzer’ Kerl zu sein, schlechter zu sein, als es das Ideal vorgibt, ihm also große Probleme mit dem (männlichen) Selbstwertgefühl vermittelt.

Zweitens: Dieser eben geschilderte Junge mit diesem gesellschaftlich bedingten extrem hohen Männlichkeits-Ideal unterliegt der Erziehung durch Frauen: zu Hause in der Familie durch die Mutter (Vater kümmert sich weniger, siehe oben), in der Kindertagesstätte durch die Kindergärtnerin/Erzieherin (über 90% des Personals sind weiblichen Geschlechts), in der Grundschule durch die Lehrerin (Prozentzahl nicht bekannt, die überwiegende Mehrzahl des Personals ist auch dort weiblich).

Was geschieht psychisch in diesem Jungen mit dem hohen Männlichkeits-Ideal in einer solchen gesellschaftlichen Situation?

Da Erziehung nicht nur Bestärkung und Förderung, sondern genauso Versagung, Reglementierung und auch Strafe heißt, kommt unserem ‘kleinen Helden’ die ihn erziehende Weiblichkeit also als Bedrohung seiner Männlichkeit an. Denn sind seine Vorbilder nicht alle den Frauen überlegen, ja wickeln sie um den Finger? Und er selbst ist hoffnungslos unterlegen! Diese Überlegenheit der Frauen wird für den Jungen in der genitalen Phase wegen der unnatürlichen Männerrolle zum unlösbaren Problem, was Angst, latente Aggression und die dauerhafte Verankerung des Wunsches nach Erniedrigung (oder wenigstens ‘Verniedlichung’) der Frau hervorbringt.

So jeweils ihren geschlechtsspezifischen unbewußten Idealen nachlaufend, vollkommen unterschiedlich geprägt, haben es Männer und Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht leicht miteinander.

Das Geschlechter-“Problem” überlagert sehr häufig das bewußte Freilegen der Hintergründe dieser und anderer sozialer Mißbildungen dieser heutigen kapitalistischen Gesellschaftsform. Die Menschen reiben sich im Kleinen auf, leben unglücklich, gefangen, verkrampft – organisieren für sich Fluchtmöglichkeiten, kleine Freiheiten usw. und vergessen dabei das Große, nämlich den ursächlichen gesellschaftlichen Zusammenhang.

Kurze Schlußbemerkung zum 2. Teil:

In diesem zweiten Teil wurden in drei Kapiteln die drei am massenhaftesten vorhandenen bürgerlichen Charakterdeformationen – aus Gründen der Übersichtlichkeit jede für sich – dargestellt.

Die Realität ist natürlich komplizierter: Die verschiedenen Probleme überlagern sich, verstärken sich, beeinflussen sich gegenseitig, bewirken dadurch Verschiebungen, Verdrehungen Abschwächungen bzw. Zuspitzungen.

Ein vom Männlichkeitswahn geprägter, unterwürfig-autoritär organisierter erfolgs-narzistischer Mann, eine an dienenden Vorbildern weiblich geprägte Frau mit aggressiv-autoritärem Charakter und extremer narzistischer Gefallenssucht – diese beiden Konstruktionen zeigen, welche recht schwierigen Situationen für die Menschen entstehen können. Und daran wird nachvollziehbar, wie gefangen sie in ihren psychischen Strukturen sein können, die ja nichts weiter sind als ein (hin und wieder verdrehtes) Abbild der Gesellschaftsform, in der sie leben; wie gering der Spielraum für freies, nicht sich in vorgegebenen Bahnen bewegendes Denken unter Umständen sein und bleiben kann.

Was das bisher Dargestellte für uns als Linke, als Marxisten oder als Kommunisten bedeutet, was wir tun müssen und was wir nicht tun sollten, dazu weiter unten einige Thesen…

3. Teil: Direkte Einflußnahme der herrschenden Klasse auf das Alltagsbewußtsein: die Medien

Im folgenden sollen nur – und noch kürzer als in den vorherigen Teilen – Grundstrukturen und einige wenige Beispiele dargestellt werden. Ausführliche Medienanalysen gibt es genug. Hier geht es allein um die Beziehung zum Alltagsbewußtsein im Zusammenhang mit den beiden vorherigen Komplexen, den direkt und den indirekt der kapitalistischen Ökonomie entspringenden Komponenten.

1. Kapitel: Die Printmedien

Vor allem als ausführlicheres Informationsmedium scheint fast jede Art des bedruckten Papiers recht gut geeignet zu sein, längere und kürzere Texte, Reproduktion von Fotos, Graphiken usw. machen intensive inhaltliche Darlegungen möglich. Zu diesem Vorteil muß als weiterer, wesentlicher Pluspunkt der Printmedien gerechnet werden, daß das Rezeptionstempo beim Leser liegt und nicht, wie bei Radio und Fernsehen, von den Machern der Programme bzw. Filme vorgegeben wird. Durch diese Freiheit im Tempo und die jederzeitige Möglichkeit, im Text nochmals zurückzugehen, Teile zu wiederholen, ist ein wesentlich besseres und größeres Verstehen der dargelegten Sachverhalte möglich. Ein landsläufig häufig als Nachteil empfundener Fakt ist allerdings die nicht sehr große optische Reizwirkung von Texten, weshalb ja kaum eine Zeitung heutzutage ohne Bilder arbeitet. Ebenso halten viele das Lesen an sich – und erst recht bei etwas komplizierteren Inhalten – für eine anstrengende Sache. Jedenfalls ist mit den Printmedien der Mensch weniger leicht zu erreichen als z.B. mit dem Fernsehen, welches ja eher den Menschen anspringt und fesselt als daß es ihm eine merkliche intellektuelle Anstrengung abverlangt. Festzuhalten bleibt, daß für die meisten Menschen das gedruckte Wort ein hohes Ansehen hinsichtlich Wahrheitsgehalt und Realität hat (“Wir glauben jeden Unsinn, weil er in der Zeitung steht!”, Robert Long).

Die bürgerliche Gesellschaft hat es selbstverständlich geschafft, dieses Medium fast gänzlich auf den Hund zu bringen: Bild-Zeitung, Wochenpost, Frau im Spiegel, Bella, Stern, Neue Revue, Super-Illu usw. usf. geben davon reichlich Zeugnis. Die bürgerlichen Tageszeitungen sind leider oft auch nicht viel besser und – (vollkommen logisch bei der Art Pressefreiheit, wie sie der Kapitalismus in seiner ‘liberalen’ Herrschaftsform, der bürgerlichen Demokratie, formuliert: jeder kann seine Meinung frei in Wort und Bild zum Ausdruck bringen, vorausgesetzt, er hat die Mittel dazu) – sie haben alle einen eindeutigen Klassenstandpunkt, den der Bourgeoisie, wonach unser System die beste aller Welten ist. Kritik wird also immer nur im Detail, an einzelnen Punkten, niemals jedoch grundsätzlich formuliert.

Die Periodika unter den Printmedien heute (Zeitungen und Zeitschriften) zerfallen ganz grob gesagt in drei große Abteilungen:

– die Informationsmedien, auf die das oben zum Klassenstandpunkt gesagte zutrifft, die also in ganz bestimmtem Interesse informieren;

– die Unterhaltungsblätter, die fast gar nichts mehr mit der Realität heute zu tun haben, sondern über Adelshäuser, Moden, Lifestile usw. berichten;

– und die Fachzeitungen, die in ihrer Fachidiotie allerdings eher zur Verengung des gesellschaftlichen Blickwinkels denn zu seiner Erweiterung beitragen (z.B. Motorisierungs- oder Computerzeitschriften).

Allen kann bescheinigt werden, daß sie auf ihre spezielle Art (durch Manipulation, Verdrehung und einseitige Darstellung die ersten), durch Ablenken von allem wesentlichen dieser Welt und vor allem auch von den eigenen Sorgen und Nöten der Menschen die zweiten und durch isoliertes Fachwissen ohne gesellschaftlichen Zusammenhang die dritten) an der Bildung des Alltagsbewußtseins als eines unpolitischen, gesellschaftliche Zusammenhänge als metaphysisch und eigentlich undurchschaubar begreifenden Denkens mitwirken; – im Interesse des Kapitals. Für wie gefährlich die Bourgeoisie wirkliche Aufklärung hält, zeigt sich immer wieder an den Versuchen, linke, nicht dem herrschenden Klassenstandpunkt dienende Presse zu behindern oder zu vernichten.

Welche Zeitschrift hat die meisten Leserinnen und Leser? ‘ADAC-Motorwelt’ mit 17,72 Millionen Leserinnen und Lesern. Hier zeigt sich ja erstens, daß das Lesen wesentlich anstrengender ist als das Glotze-Gucken (Da haben die Marktführer ja 34 Millionen, also doppelt so viel, siehe unten); – und zweitens, was den Deutschen die größte Lust am Lesen macht: die Liebe zum Auto bzw. Motorrad.

Auf den Plätzen zwei und drei folgt die ‘Bild’. Zunächst die am Sonntag, dann die tägliche (11,28 bzw. 11,17 Millionen Leser).

Platz vier nimmt das Life-Stil-Magazin ‘Stern’ ein (8,6 Millionen), wo jede/r überprüfen kann, ob er/sie noch das Richtige denkt und ob er/sie auch ansonsten (Kleidung, Wohnung, Konsumgüter, Reisen, Habitus usw.) ‘in’ ist.

Auf Platz fünf rangiert das nationale Nachrichtenmagazin, der ‘Spiegel’. (6,4 Millionen).

Zu den Zeitschriften liegt eine Spezialuntersuchung vor, das Leseverhalten der Senioren (ab 65 Jahre). Erster: ‘Bunte Illustrierte’ mit 2,43 Millionen; zweiter: ‘Das Beste’ mit 2,34 Millionen; dritter: ‘Funk Uhr’ mit 2,31 Millionen; vierter: ‘Neue Post’ mit 2,03 Millionen und fünfter: ‘Frau im Spiegel’ mit 1,85 Millionen Leserinnen und Lesern.

So ist es. Kein weiterer Kommentar.

2. Kapitel: Das Radio

Das Radio als Medium des gesprochenen Wortes und des Klangs, also der Musik, erfuhr seine flächendeckende Verbreitung mit dem ‘Volksempfänger’ der Nazis. Das Radio hat anders als die Zeitung die Möglichkeit, Menschen während ihrer alltäglichen Tätigkeiten zu erreichen: der Mensch muß sich nicht extra Zeit nehmen, sich hinsetzen und lesen, er kann während der Hausarbeit, des Kochens, des Frühstücks, während der Arbeit im Betrieb oder der Werkstatt und während des Autofahrens berieselt werden. Damit ist der Konsum von Radio wesentlich weniger anstrengend als das Zeitung-Lesen und ‘nebenbei’ zu erledigen. Dies ‘Nebenbei’ hat an sich die Gefahr, über gehörte Informationen, Meinungen und Wertungen nicht weiter nachzudenken, da man mit seinem Tun woanders ist und so unreflektiert die Dinge aus der Radioredaktion übernimmt.

Und das Radio produziert eine wichtige Mystifikation: es läßt den Radio hörenden Menschen scheinbar der Einsamkeit entgehen. Aus der Tatsache, daß da jetzt im Moment jemand im Studio sitzt und Sendung macht, spricht, scherzt und so weiter (deshalb werden auch fast alle dieser modernen, ‘lockeren’ Unterhaltungsprogramme life gemacht), entsteht für den Hörer der Schein: da macht jemand Programm für mich, da spricht jemand zu mir, da legt jemand für mich Platten auf. Angesichts der Tatsache, daß in einigen Großstädten der Bundesrepublik Deutschland die Anzahl der Single-Haushalte die 50%-Marke überschritten hat, ist diese Illusion ein wichtiger Fakt und wichtig, um die Menschen beim Radio zu halten bzw. zum immer wieder neuen Einschalten zu bewegen.

Daß die Berieselung durch das Radio durch seinen falschen Schein, nicht allein zu sein, wenn der Kasten läuft, das Bewußtsein der (einsamen) Menschen über ihre Lage erschwert, liegt sicherlich auf der Hand: jede/r kann sich so eine kleine, manchmal sehr ‘gemütliche’, in den meisten Fällen aber leider bewußtlose Flucht aus der Stille, dem emotionalen Allein-Sein, das diese Gesellschaft so massenhaft durch Erfolgszwang, Konkurrenz und soziale Hierarchien produziert, organisieren.

Seit es die privaten Radioanstalten gibt, hat sich ein Wandel in der Programmgestaltung vollzogen, den ich hier mit der Goebbelschen Propagandapolitik vergleichen möchte: Das Originalzitat von Goebbels habe ich leider nicht zur Hand, aber inhaltlich noch im Kopf: als die NSDAP den Rundfunk übernahm, fingen die neuen (faschistischen) Redakteure an, politische Propaganda und viele Wortbeiträge zu bringen – bis Goebbels einschritt mit der Direktive: <Mehr Unterhaltung! Musik! Weg mit den vielen Wortbeiträgen! Leichte Kost! Der Hörer muß sich wohlfühlen und sich amüsieren können. Nur ganz selten Wortbeiträge – dann aber hochkarätig, also ganz wenig von Redakteuren, lieber dann den Führer selbst sprechen lassen!>

Dies Konzept scheint auch heute wieder brauchbar zu sein, (diametral entgegengesetzt dem Bildungsanspruch der Medien, wie er in der Frühzeit der BRD einmal formuliert und ebenso Bestandteil des DDR-Rundfunks war) jedenfalls haben es sich zunächst die Privatsender zu eigen gemacht, inzwischen fahren die öffentlich-rechtlichen längst im gleichen Fahrwasser: easy listening, easy beats, Volldampf-Radio, Wir bringen das Land auf Trab, N-Joy-Radio, Flott-Funk usw., dazu jede Menge Quiz, Ratespiele, überall was zu gewinnen, Hörertelefon über die beklopptesten Fragen (z.B. die Haarmode führender Berliner Politiker/innen), Nachrichten dafür fast nur noch als Schlagzeilen, das ‘politische Magazin’, in früheren Zeiten bei den Öffentlich-Rechtlichen manchmal zwei Stunden lang, kommt inzwischen mit 15 Minuten aus – und die gesendete Musik hat mensch garantiert schon tausendmal gehört. Das ist heutzutage erfolgreiches Radio (eine Sendung mit einigermaßen guten Einschaltquoten, wo sich die Reklame lohnt).

Was am Kapitalismus manchmal bewundernswert ist, das ist die Tatsache, wie wirtschaftlich interessantes, d.h. profitträchtiges Agieren gleichzeitig diese Gesellschaftsform stützt, hier durch die Programmgestaltung des Radios, welche das Entspannungs- und Lockerheitsbedürfnis der Menschen aufnimmt, hohe Reklameeinnahmen durch hohe Einschaltquoten verspricht und gleichzeitig einen wichtigen Anteil an der Bildung des Alltagsbewußtseins hat: alles easy, keine Probleme, immer locker vom Hocker, bloß keine inhaltlichen Fragen.

Dieser Art von Programmen ist das Prädikat ‘Verdummung’ nicht zu ersparen.

In der Bundesrepublik Deutschland hören täglich etwas mehr als 40 Millionen Menschen Radio (was natürlich nicht heißt, daß sie das den ganzen Tag lang tun, sondern evtl. nur zum Frühstück oder während der Fahrt zum Arbeitsplatz), davon ziemlich genau die Hälfte Privatsender, die andere Hälfte die Öffentlich-Rechtlichen, die sich ja aber kaum noch in größerem Maße voneinander unterscheiden.

3. Kapitel: Das Fernsehen

Das Fernsehen ist viel geschmäht worden in den gut 40 Jahren seiner bisherigen Existenz. Und das nicht immer zu Unrecht.

Das Fernsehen hat von allen Medien den größten Zugriff auf den Menschen, d.h. die Kombination von Ton und bewegtem Bild verkündet dem Wahrnehmungsapparat des Menschen: das ist Realität. Und genau das ist Vorteil und Gefahr des Mediums Fernsehen (und Film, also Kino): in der Übermittlung von Vorkommnissen ist die Möglichkeit gegeben, die Realität so konkret und genau wie möglich wiederzugeben und damit an die Zuschauer zu übermitteln – es ist aber auch das Gegenteil möglich, die Vermittlung von Schein-Realitäten, Schein-Welten, offene und unglaublich wirkungsvolle Manipulation. In der Filmkunst verhält es sich mit der Qualität ähnlich wie bei’m Theater: es gibt gute, kritische, reflektierende Verarbeitungen von menschlicher und gesellschaftlicher Realität und es gibt Seifenopern, Heimatfilme, dümmliche Serien, in denen der Gute immer gewinnt und ähnlichen oberflächlichen Unsinn.

Das Medium Fernsehen springt den Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes an, hält ihn fest und fesselt seine Sinne, – dies nicht etwa immer durch inhaltliche Qualität, sondern durch ein ganzes Bündel von Mechanismen: Bildfolgen, Ton, Tempo von beidem, Wechsel von direkter Ansprache des Zuschauers und reiner Voyeursrolle, Vorspiegelung einer direkten Beteiligung am Geschehen, häufige Wiederholungen usw.

Die Bourgeoisie hat sich dieses Medium schon immer nutzbar gemacht, in den ersten Jahrzehnten allerdings vermittelt durch die Aufsicht über die öffentlich-rechtlichen Sender, also über Parteien, gesellschaftliche Interessenvertretungen, Kirchen, Gewerkschaften. Seit der Einführung der Privatsender ist die Einflußnahme der Herrschenden auf das Fernsehen wesentlich einfacher geworden: erstens sind es kapitalistische Unternehmen, die die Sender betreiben und zweitens leben diese Sender von der Werbung, die kapitalistische Unternehmen bei ihnen in Auftrag geben.

Man muß sich diesen (vom humanistischen Standpunkt) unverantwortlichen Umgang mit einem solch wichtigen Medium einmal genau vor Augen führen: Das Fernsehen machen zu wesentlichen Teilen ganz normale, auf Profit orientierte Wirtschaftsunternehmen. Daß dabei Ansprüche wie Bildung, Kultur, Information, Emanzipation des Menschen, Förderung seiner Kritikfähigkeit u.a.m. auf der Strecke bleiben, ist mehr als logisch. Was zählt ist die Einschaltquote. Und das funktioniert (man hat bei den Privatsendern schon die richtigen Werbe- und Tiefenpsychologen angestellt): Es sträuben sich einem die Nackenhaare, wenn man die Ergebnisse der Medien-Analyse 1995, veröffentlicht im ND vom 2. und 16. 6. 95, zur Kenntnis nimmt:

Es wurden bei den TV-Medien Seher/innen pro Tag (was nicht heißt: über den ganzen Tag) gezählt.

RTL mit 34,51 Millionen Sehern/innen täglich – und das mit Seifenopern, Action-, Agenten-, Kriminal-, Abenteuer- und was das Herz noch so begehrt an Filmen, Sport, Talk und dazu eine unglaubliche Unerträglichkeit an Reklame und Spiel-Shows liegt auf Platz eins.

Platz zwei: Sat 1 mit 34,01 Millionen Sehern/innen täglich. Inhalt siehe oben, angereichert zusätzlich durch Soft-Pornos.

Platz drei? Pro 7 mit 21,48 Millionen Sehern/innen täglich. Programm siehe oben, angereichert zusätzlich durch Zeichentrick- und andere niveaulose und autoriär-gewaltvolle Kinderfilme.

Und weiter: Platz vier nimmt das Zweite Programm mit 18,77 Millionen und Platz fünf das Erste Programm mit 15,01 Millionen Sehern/innen ein. Nun ist es ja nicht so, daß diese beiden Programme einem humanen Anspruch an das Medium Fernsehen genügen würden, – sie sind nur nicht ganz so ekelhaft wie die drei vorgenannten Privaten. Sender, die auch mal mehr als nur die alleroberflächlichste Oberfläche einer Nachricht bringen (wie manche Dritten Programme, 3SAT oder hin und wieder Arte), kommen in der im ND veröffentlichten ‘Hitliste’ der Sender gar nicht erst vor…

a) Direkte politische Beeinflussung der Menschen via bürgerliches Fernsehen (Nachrichten, Magazine, Reportagen)

Es gibt in der jüngeren Vergangenheit einige schöne Beispiele, wie die Nachrichtensendungen und Magazine (nicht nur im Fernsehen, sondern auch im Radio – und die Arten der Berichterstattung und der Kommentare in den Zeitungen seien hier genannt) politische, ökonomische und militärische Prozesse im Weltgeschehen im Interesse der bundesdeutschen imperialistischen Politik extrem verdreht dargestellt haben.

Das funktioniert natürlich nicht, indem die Realität dargestellt wird, sondern nur, indem Ausschnitte daraus gebracht werden, Meldungen und Tatsachen verschwiegen werden, dazu unterschwellig Normierungen versucht werden, also Wertungen als ‘mainstream’ verkauft werden, als ‘gesunder Menschenverstand’, ohne auf Konsequenzen, Ursachen usw. in irgend einer Weise einzugehen.

1. Beispiel: Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik.

Die Verbündeten könne man nicht allein lassen, Deutschland müsse nun auch ‘Verantwortung’ übernehmen, das ‘bequeme’ Abseits-Stehen sei nun vorbei, wir können gar nicht mehr anders usw. Dabei hat niemand nach deutschen Truppen gerufen, im Gegenteil, der Außenminister war händeringend unterwegs, um endlich eine Anforderung deutscher militärischer ‘Hilfe’ zu erlangen. Solche kritischen Meldungen hingegen sind nur in der linken Presse zu lesen, fast alle bürgerliche Medien schweigen darüber und bringen permanent nur die Propaganda ihrer Klasse.

2. Beispiel: ‘Die Serben’

Sie vertreiben, deportieren, vergewaltigen, sie sind die Aggressoren, die Eroberer, die wütende Soldateska, sie nehmen UN-Geiseln, brechen die Abkommen usw. usf. Wie und was davon stimmt, kann ich nicht in letzter Gewißheit beurteilen. Eins weiß ich aber mit Sicherheit: auch die anderen, nämlich ‘die Moslems’ und ‘die Kroaten’ führen Krieg, d.h. morden, plündern, vergewaltigen. Davon aber erfahren wir in den bürgerlichen Medien nur selten und nur, wenn es gar nicht anders geht, ein Wort.

‘Unsere’ bundesdeutsche Berichterstattung betreibt im Falle des ehemaligen Jugoslawiens die Ausschaltung jeder Art von Vernunft, es sollen nur blinde Emotionen gegen die ‘bösen’ Serben geschürt werden, die man zur Ordnung rufen muß wie ein unartiges Kind.

Also: statt inhaltlicher Klarheit und genauer Durchdringung der Probleme: – Hetze, Schüren von psychischen Ressentiments, Freigabe ‘der Serben’ als bösartige Untermenschen, ein Mechanismus, der schon oft funktioniert hat und so lange weiter funktionieren wird, wie es den ‘autoritären Charakter’ als Massenerscheinung gibt.

b) Indirekte Beeinflussung der Menschen via bürgerliches Fernsehen durch kulturelle Verflachung des Massengeschmacks

-1.) Die Serien

Es ist erschreckend und gleichzeitig auch nachvollziehbar, warum gerade die Sender mit den flachesten Programmen die meisten Zuschauer haben: man denke nur an die im ersten und zweiten Abschnitt dieses Heftes dargelegten massenhaft auftretenden psychischen Dispositionen. Diese werden von den Privaten in großem Umfang bedient: Helden und ganze Männer bzw. Bösewichter, tolle Frauen, sexy oder Muttertypen, heile Familie, Gut und Böse, Spiel um’s Glück (was fast immer Geld heißt), Karriere und Erfolg, mondäne Welt, Liebelei.

-2.) Die Spielshows

In ihrer konterrevolutionären, d.h. gesellschaftlich verdummenden Funktion sind die diversen Spiel- und Gewinnshows kaum zu überbieten. Egal, ob nun geheiratet wird, irgendwer irgendwas (meistens ziemlich falsch) singt oder jodelt, ob Glücksräder gedreht werden, irgendwas geraten wird oder wie auch immer: Leistung lohnt sich, jeder ist seines Glückes Schmied, das ist die eine Art Botschaft der Sache – und für die, denen so was noch zu kompliziert ist, gibt es die reinen Glücksspiele: Alles ist Schicksal, Gewinn und Verlust, das ist die andere Art der Botschaft. Und zwar massenhaft, nämlich täglich mehrere Stunden, wenn mensch nur will. Die hierdurch produzierte Sichtweise auf die Gesellschaft hält jeden Menschen in seiner eigenen Jagd nach dem Glück isoliert für sich fest.

-3.) Der Sport

Nicht zu übersehen ist die Tendenz der letzten 20 Jahre in der BRD-Bevölkerung: weg vom Mannschafts-, hin zum Individualsport, was genau dem gesellschaftlichen Klima entspricht. Aber darum soll es hier nicht gehen. Es geht hier nur um den Umgang der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Sport. Und dieser ist zunächst einmal deutsch. Wieviel Nationalchauvinismus die Sportreporter im Fernsehen (aber auch in den Zeitungen und im Rundfunk) anläßlich von Weltmeisterschaften, Tennisturnieren oder Formel-1-Rennen unkritisiert über die Sender schicken können, verwundert immer wieder.

Hätte es den Sport (und den Rummel darum) nicht schon gegeben, die Herrschenden der BRD hätten beides erfinden müssen, um angesichts der erst vor ein paar Jahren geschlossenen Krematorien einen Hebel zu finden, um einerseits den im Massenbewußtsein durchaus noch vorhandenen Rassismus zu pflegen und zu konsolidieren, als auch Jugendliche und kritisch Denkende damit zu infiltrieren, und das eben unter der Maske des ‘harmlosen’ Spiels, “es geht doch nur um Fußball”. Doch eine Lektion wird dabei immer gelernt: wir Deutsche können sowieso fast alles am besten, Sport, Technik, Know-How, Demokratie, Menschenrechte – und demnächst noch mehr: Krieg.

c) Rolle der Werbung

Inzwischen gibt es Medien, damit Werbung gemacht werden kann. So verkehren sich die Welten, denn so unterwirft sich das Kapital jeden Bereich der Gesesellschaft mit steigender Vollkommenheit. Die Werbung hat einen nicht geringzuschätzenden psychologischen Einfluß auf das Alltagsbewußtsein:

In der Werbung sind immer alle glücklich, vor allem, weil sie gerade dies Produkt gekauft haben – bist Du als dummer Zuschauer nicht so glücklich, hast Du selber Schuld, kauf Dir doch endlich Dein Glück! Diese beste aller möglichen Welten, der Spätkapitalismus, ist bunt, lebenslustig, wird dauernd besser, ist fortschrittlich.

Die Industrie produziert im Interesse der Kunden, Autohändler werden zu ‘Partnern’ umgetauft, den verschiedenen Waren aus der Massenproduktion werden unglaublich hohe Qualitäten, dazu psychische Dimensionen wie Freiheit, Unabhängigkeit, Sicherheit, Individualität, usw. angedichtet – man möchte meinen, ein Unterfangen, welches aussichtlos sein muß, weil das wahre Interesse des Kapitals, seine Produkte zu verkaufen, unmittelbar auf der Hand liegt (am besten ausgedrückt bei ‘fisherman’s friend’: “Nie fragen, kaufen!”).

Weit gefehlt, Werbung ist ein gewichtiger Faktor bei allen Verkaufsstrategien. Waschmittel beispielsweise werden in Zusammenarbeit mit Soziologen. empirischen Sozialforschern und Werbepsychologen kreiert, womit nicht das Waschmittel selbst gemeint ist – die sind fast alle gleich – sondern Name, Verpackung, Art der Anpreisung.

Überhaupt die Werbepsychologie: an den psychologischen Lehrstühlen der Bundesrepublik Deutschland nimmt dieser Bereich den größten Teil der Lehrkapazität ein!!

Es ist kaum ein Hort größerer Mystifikation und schlimmerer Metaphysik denkbar als der der Werbung – und das auf zwei Hauptgebieten:

1. Der Charakter der Produkte und das Ziel ihrer Produktion werden vernebelt, es werden ihnen psychische Bedeutungen zugeschrieben, die sie nie haben können. Dies geschieht so geschickt, daß kaum ein Mensch davon unbeeinflußt bleibt.

2. Das Verhältnis von Mensch und Arbeit, Gesellschaft und Arbeit und damit auch das Verhältnis von Kapital und Arbeit wird mystifiziert, ja direkt verkehrt: neben der Oberfläche des Kapitals, der Zirkulationssphäre, die ja die Produktion vergessen und den Konsum als das Eigentliche erscheinen läßt, ist die Werbung wesentlich daran beteiligt, den Mythos des Kaufens und Besitzens von Waren, des Sich-Etwas-Leisten-Könnens, zu befördern und als die eigentlich erstrebenswerte gesellschaftliche Handlung darzustellen, die das Leben ‘schön’ macht.

So verlieren die Menschen die letzten Reste der ihnen eigenen Produktivität, so verlieren sie endgültig das Bewußtsein, Produzenten der Gesellschaft und damit eines Teils der sie umgebenden Welt zu sein, und die tatsächlich ja passive Handlung des Konsums wird zur entscheidenden Tätigkeit.

IV. Teil: Schlußfolgerungen

Im ersten Teil hatten wir uns die Fetischisierungen, Verkehrungen, Mystifizierungen, die Verdinglichung und die Entfremdung angesehen, und es war deutlich geworden, daß die entsprechenden Denkformen notwendig aus der bürgerlichen Gesellschaft entspringen (also in ihr selbst kaum zu überwinden sind) und annähernd alle Menschen hier und heute betreffen.

Im zweiten Teil betrachteten wir die grundsätzliche Zurichtung der menschlichen Charaktere für die bürgerliche Gesellschaft, und wir sahen in der Folge dieser Zurichtung (die die bürgerliche Gesellschaft Erziehung und Ausbildung nennt) recht schwerwiegende Probleme für die Individuen und auch für die menschliche Gesellschaft entstehen, nämlich autoritäre Charakterstrukturen mit all ihren Gefahren, Narzismus mit seiner Bestätigungssucht und das Problem der Frauen- und Männerrollen mit all dem Unglück, das sie in ihrer heutigen Ausprägung mit sich bringen.

Im dritten Teil haben wir dann zusätzlich zu all diesem Elend die Dauerbombardierung der Menschen durch die bürgerlichen Medien angesprochen und versucht, die Urasche für den alltäglichen Schwachsinn der Sender zu finden.

Dies alles liegt als Ballast auf den Menschen in dieser Gesellschaft, als Druck, der das kritische Denken und das gesellschaftliche Bewußtsein verbiegt, vernebelt, ja z.T. unmöglich macht.

Dem gegenüber steht die Erfahrung mit der unmittelbaren Realität der kapitalistischen Gesellschaft, das war vor Jahren einmal neben den unmittelbaren Erfahrungen von Unterdrückung und Erniedrigung auch annähernde Vollbeschäftigung, Lohnsteigerungen, Verbesserung der Sozialleistungen usw.; das ist heute neben verschärften Erfahrungen von Unterdrückung und Erniedrigung Massenarbeitslosigkeit, Zerstückelung des sog. ‘sozialen Netzes’, Nullrunden und Lohnverlust, Deregulierung und Unternehmerwillkür usw.

Die Erfahrungen auf der einen Seite und die mystifizierten Denkformen auf der anderen passen nicht zusammen. Die Erkenntnis, daß eine solche Situation nicht von selbst zu Kritik an der Gesellschaft, also zu einer Wende nach links führt, ist ein alter Hut.

Wie ist hier also ein Aufbrechen des “notwendig falschen Bewußtseins” (K. Marx), wie es die bürgerliche Gesellschaft produziert, möglich?

Zu diesem Problem möchte ich am Schluß dieser Arbeit sieben Gedanken aufschreiben, die wir m. E. nach und mittels gründlicher Diskussion in unsere Praxis einfließen lassen sollten.

1. Gedanke:

 Die Menschen sind heute und hier so, wie sie sind. Dafür verdienen sie weder unsere Arroganz noch unsere Mißachtung oder gar irgend eine Form von Haß.

Hier geht es um die große Frage der Verantwortlichkeit der Menschen. Und wir müssen uns m.E. vor zwei Dingen in Acht nehmen: vor der zwar freundlich wirkenden, aber immer im Nichts endenden prinzipienlosen Akzeptanz – aber genauso vor der manchmal zwar verständlichen, aber immer kontraproduktiven Arroganz.

Indem wir akzeptieren, daß es nunmal massenhaft autoritäre Charaktere, Narzisten, ganze Kerle und tolle Mietzen gibt (und daß wir selbst auch nicht von einem anderen Stern sind), – akzeptieren, weil es so ist, heißen wir es noch lange nicht gut, sondern wissen um den gefährlichen und oft zerstörerischen Gehalt dieser Deformationen. Indem wir akzeptieren, daß fast alle Menschen dem falschen Schein der Oberfläche des Kapitals aufsitzen, den Mystifikationen der Zirkulationssphäre und den Fetischisierungen von Ware, Geld und Kapital, heißen wir es nicht gut, sondern kennen deren zerstörerische Wirkung auf das gesellschaftliche Bewußtsein der Menschen.

Wir akzeptieren also nicht bedingungslos, sondern nur unter der Maßgabe, daß wir die Herkunft dieses ganzen psychischen Mülls kennen und die Ursachen seiner Entstehung beseitigen wollen. So – und nur so akzeptieren wir.

Und so sehr männliche Machos, röhrende Chauvis, piepsende Weibchen oder gluckende Hausmütter, randalierende Hooligans usw.usf. wirklich widerlich sein können, vergessen wir nie die Bedingungen des Lebens, die diese Menschen zu solchen Wracks gemacht haben. Wir hassen die Verhältnisse, aber nicht ihre Opfer.

2. Gedanke:

 Ohne wissenschaftliche Klarheit über die Verhältnisse (die ökonomischen, politischen und massenpsychologischen) machen wir zwangsläufig viele Fehler.

Aus dem Haß auf die heute herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse erwächst selbstredend der Wunsch, dieselben zu verändern. Eine solche Veränderung können nur Menschen bewirken. Der große Vorteil (und gleichzeitig eine schwierige Bedingung) des Sozialismus und auch schon der sozialistischen Umgestaltung des Kapitalismus ist, um hier eine Formulierung von Hanfried Müller aufzunehmen, daß es für seine Entwicklung des ‘bewußten Handelns’ der Menschen bedarf. Kapitalismus wächst nach seinen ökonomischen Gesetzen wie ein Urwald annähernd von selbst, die Menschen müssen ihn nicht bewußt wollen oder mittels ihres Bewußtseins durchsetzen – Sozialismus dagegen bedarf der Arbeit und der Pflege durch bewußtes menschliches Handeln, denn er wächst nicht quasi von selbst.

Für uns muß das heißen: wir brauchen für vernünftiges politisches Handeln nicht nur die konkrete Kenntnis über die ökonomischen und politischen Verhältnisse, wir brauchen auch das genaue Wissen über das Alltagsbewußtsein, psychische Strukturen und vorherrschende Denkströmungen, denn politisch Handelnde müssen sowohl sich selbst als auch die anderen so genau wie möglich verstehen.

Unsere Parolen, unsere Aktionen und unsere Schulungen müssen eingehen auf das aktuelle Alltagsbewußtsein. Und dazu müssen wir es kennen. Wir brauchen die genaue Analyse (nicht nur solche allgemeinen Einschätzungen wie hier vorgelegt, sondern am konkreten empirischen Material bewiesenes Wissen der aktuellen Entwicklungen) über Bewußtseinslagen verschiedener Klassen und Klassenfraktionen, Denkformen verschiedener jugendkultureller Ausprägungen, unterschiedlicher sozialer Bewegungen und Interessen, also eine Forschungsarbeit über möglichst die gesamte Ideologie dieser Gesellschaft. Und dies zu erarbeitende Wissen muß Eingang finden in die konkrete Parteipolitik.

3. Gedanke:

 Wissenschaftliche Klarheit über die Verhältnisse tut Not – und zwar massenhaft, d.h. möglichst in allen Köpfen der Ausgebeuteten, Unterdrückten und Deklassierten.

Der Gegner (also die Bourgeoisie, ihre Handlanger und Politiker) arbeiten auf’s Schärfste mit der Massenpsychologie. Von Menschen, die eine andere Welt wollen, muß dies konkret durchschaut werden können, – nicht nur von ihren ‘Führern’, die häufig, siehe Geschichte, fast die gleichen massenpsychologischen Mechanismen einsetzen (mußten) wie ihre Gegner.

Oder anders: ökonomisches, politisches und massen- sowie tiefenpsychologisches Wissen tut massenhaft Not, damit

1. niemand auf die Tricks der Herrschenden hereinfällt, und damit

2. so etwas ähnliches wie Demokratie unter Gewerkschaftern, Sozialisten und Kommunisten ein bißchen möglicher wird – zur Zeit spielen die politischen Führer auf dem psychologischen Klavier und die Basis bzw. die Sympathisanten/innen marschieren nach der jeweils gespielten Melodie – leider weitgehend ohne kritische Vernunft.

Bei Strafe neuer Katastrophen wie der verratenen Revolution 1918/19 in Deutschland oder (ein viel kleineres Beispiel, aber nicht weniger typisch) ähnlich sang- und klangloser Niedergänge wie der der Friedensbewegung von 1980 bis heute in der BRD ist mehr Theorie als handlungsbestimmendes massenhaftes Bewußtsein sowohl in der Linken als auch bei allen anderen Mitgliedern dieser Gesellschaft (überlebens-)notwendig. Reformismus, Nationalismus, Militarismus, in ihren neudeutschen Formen sind ohne Theorie nicht zu erkennen. Deshalb fallen ja auch schon wieder so viele darauf herein.

Also: allein, um für die inzwischen doch voraussehbaren Syntheseverluste des Kapitalismus gerüstet zu sein, um also in solchen für den Kapitalismus krisenhaften Situationen (damit ist nicht irgendeine Wirtschaftskrise gemeint, die waren in der letzten Zeit für den Kapitalismus als System keineswegs krisenhaft) gut, begründet, so richtig wie möglich handeln zu können (was uns ja auch ansonsten nicht schlecht zu Gesichte stände) – allein dafür ist vermehrte Theoriearbeit und breitere Theorieaneignung notwendig. Wie ist das zu erreichen?

4. Gedanke:

Schulungsangebote erreichen niemanden, wenn kein Erkenntnisinteresse vorhanden ist. Dies kann aber eben nicht durch Aufklärung erweckt werden, sondern ist gerade deren Voraussetzung.

Wie ist die Erkenntnis, daß neben ökonomischer und politischer auch psychologische Massenbildung notwendig ist, umsetzen? Hier entsteht ein großes Problem: Aufklärungsarbeit funktioniert nur, wenn jemand Fragen hat. Diese Fragen müssen die Menschen aber selbst entwickeln – man kann niemandem beibringen, nun unbedingt wissen zu wollen, wie die Gesellschaft funktioniert. Erkenntnisinteresse ist also die Voraussetzung aller Erkenntnis, muß aber vorher gewachsen sein. Nur: wie?

Die Situation, die dem berühmten Satz von Marx entspricht: Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift, diese Situation ist nicht durch den Willensakt der Marxisten herstellbar. Diese Situation kann entstehen, wenn Erfahrungen, die die Menschen mit dem Kapitalismus und mit den Marxisten machen, sie zum Willen nach Erkenntnis drängt.

Bisher in der Geschichte der letzten 150 Jahre mußten die Erfahrungen mit dem Kapitalismus recht katastrophaler Art sein, – denn die großen Aufbrüche bzw. Aufbruchsversuche fanden immer nur nach oder gegen Ende schrecklicher Kriege statt: 1871 die Pariser Commune am Ende des Deutsch-Französischen Kriegs, 1917 die Oktoberrevolution in Rußland während des Ersten Weltkriegs, ebenso die Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg dann die doch zahlreichen weiteren Revolutionsversuche in Europa. Und schließlich die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg: Osteuropa, DDR, China, Korea, Vietnam usw.

Langer Rede kurzer Sinn: immer, wenn der Kapitalismus ganz real bewiesen hat, daß er den Menschen nicht nur kein würdiges Leben, sondern gar keins, also kein Überleben garantieren kann, ja noch schlimmer: ihnen eher den Tod gaqrantiert, ging es ihm an den Kragen. Offensichtlich wagten die meisten Menschen den Schritt in etwas ganz Neues bisher nur dann, wenn sie außer ihrem Leben wirklich nichts mehr zu verlieren hatten.

Nun bin ich kein Geschichtspessimist und auch kein Anhänger der sog. “Verelendungstheorie” (in diesem Zusammenhang recht vulgär gemeint als: ‘nur wenn es ihnen richtig dreckig geht, verändern die Menschen etwas’), d.h.: ich hätte es gern anders.

5. Gedanke:

Das anscheinend so feste Gefüge von Arbeit und Leben muß wackeln – und zwar in der Erfahrung und damit im unmittelbaren Bewußtsein der Menschen. Die bürgerliche Gesellschaft muß einen Teil ihrer ‘Synthese’ verlieren. Nur so entsteht obiges Erkenntnisinteresse.

Interesse an Erkenntnissen über diese Gesellschaftsformation und die konkrete Struktur hier und heute entsteht nur, wenn die Menschen die Widersprüche des Kapitalismus direkt spüren. Nun ist dies unbestritten der Fall, vor allem seit dem Untergang der DDR und der ungebremsten Kapital-Offensive gegen alles, was sich die abhängig Beschäftigten in der BRD an Sozialleistungen und anderen Garantien in den 40 Jahren zuvor mühsam erkämpft hatten.

Unbestritten ist auch der Fakt, daß die Anerkennung des Herrschaftsmechanismus der BRD sinkt (Stichworte: Politikmüdigkeit, sinkende Wahlbeteiligung).

Wir müssen also alles tun, damit die Konsequenz der Meinungsbildung im Alltagsbewußtsein auf die aktuelle Lage nicht rechts, national, metaphysisch, also in der Tendenz faschistoid sich ausrichtet. Aber wie?

Wenn der Kapitalismus das aktuelle Leben der Menschen hier und heute zum Teil auch nur marginal, beim Einzelnen isoliert, vor allem nach verschiedenen Gruppen der Gesellschaft selektiert bedroht: er tut es im Ganzen massenhaft, und es gibt genug Widersprüche und Ängste. D.h.: der Boden für Systemkritik in theoretischer und praktischer Weise ist vom Kapitalismus selbst bereitet.

Es steht die Frage: ist es möglich, durch verbesserte Propaganda, durch bessere Aktionen und bessere Organisation Menschen, die unter den Widersprüchen des Systems leiden, aber in nationalen oder anderen (z.B. kleinbürgerlichen oder auch familiären) Mystizismen verfangen sind und deshalb keine Klarheit haben, besser zu erreichen und Vorurteile, Antikommunsimus usw. aufzubrechen oder zunächst wenigstens zu umgehen?

Nun bin ich überzeugt, daß die Art der Ansprache für Menschen nicht unwesentlich ist. Die Kenntnis über objektive und subjektive Bestimmungsgründe menschlichen Verhaltens sind ist wesentlich gewachsen. Die Menschheit verfügt heute über wesentlich mehr Erfahrung und Wissen über den Kapitalismus, als es z.B. 1917/18/19 oder 1945-49) der Fall war. Aus theoretischer Analyse erwachsendes Bewußtsein kann also fundierter, reflektierter, d.h. reicher sein als früher. (…ist es zur Zeit nur leider nicht!)

Deshalb also die Frage: wie ist an den aktuellen Widersprüchen anzusetzen – und daraus abgeleitet – wie sind mittels sozialpsychologischer Einsichten die Menschen von uns besser zu erreichen?

6. Gedanke:

Wie erhalten wir eine Antwort auf die Frage: welche Aktionen sind zu unternehmen, welche Propaganda zu machen, um diesen Prozeß des ‘Synthese’-Verlustes (der wegen Krise und Verwertungszwang ökonomisch bereits kräftig voranschreitet) zu beschleunigen?

Für die Bestimmung unserer Parolen, Forderungen, unserer Propaganda, ebenfalls für die inhaltliche und formale Gestaltung unserer Plakate und Flugblätter sind alle oben genannten Analysen und Überlegungen zu berücksichtigen. Wir müssen nicht nur sagen, was wir wollen – wir müssen es tun unter Berücksichtigung der normalen Formen der Mystifizierung des Bewußtseins in der bürgerlichen Gesellschaft, unter Berücksichtigung der aktuellen Erfahrungen der Menschen bzw. verschiedener Klassen und Schichten von Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft und unter Berücksichtigung des aktuellen gesellschaftlichen Klimas und seines Niederschlags im Alltagsbewußtsein.

Unsere politische Realität ist vollkommen anders – und deshalb absolut unvollkommen: auf der zentralen Ebene bestimmen Werbeagenturen (!!!) die Parolen unserer Partei, vor allem im Wahlkampf, und auf lokaler und regionaler Ebene setzen sich aktive Genossinnen und Genossen hin und schreiben selbst ihre Flugblätter und anderes Öffentlichkeitsmaterial (was tausendmal besser ist als jede Werbeagentur, wo aber trotzdem gründlichere Kenntnisse über psychologische Zusammenhänge hin und wieder fehlen).

Ich halte das bisherige (relativ bewußtseins- und begrifflose) Werkeln für wenig hilfreich, da sogar bei bester Absicht die Anfälligkeit für Fehler einerseits in inhaltlicher, vor allem aber in sprachlicher, formaler, ästhetischer Gestaltung relativ groß ist.

Ich will hier am Schluß dieser Broschüre zwei kurze, aber große Forderungen aufstellen.

Wir brauchen im Hinblick auf das eben angesprochene Problem:

1. eine Verbreiterung der Kenntnisse unserer Genossinnen und Genossen über sozialpsychologische Zusammenhänge

2. die Gründung eines Arbeitsstabes, der schöpfend aus marxistischen ökonomischen und politischen Analysen

– versucht, die sozialpsychologische Forschung in und bei der Partei zu institutionalisieren – und

– unter Berücksichtigung der Sozialpsychologie Vorschläge für eine verbesserte Propaganda (bzw. “Öffentlichkeitsarbeit”) macht.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir über die angeschnittenen Probleme in’s Gespräch kämen.