Entwicklungspotenzial und Militarisierung der EU

Tibor Zenker: Entwicklungspotenzial und Militarisierung der EU

(Nachfolgender Text ist ein Abschnitt aus dem jüngst in Österreich erschienen Buch „Stamokap heute – Vom gegenwärtigen Kapitalismus zur sozialistischen Zukunft“ von Tibor Zenker. Wir sind der Meinung, dass weite Teile dieses Buches durchaus komplementär zum inzwischen als Standardwerk angesehenen Buches von Harpal Brar „Der Imperialismus im 21. Jahrhundert“ (Pahl Rugenstein Nachf. Verlag) angesehen werden. Genosse Michael Opperskalski bereitet für die nächste „offen-siv“ eine ausführliche Rezension von Tibor Zenkers Buch vor. Wer es bestellen möchte, wende sich bitte an die Genossen der „Neuen Volksstimme (NVS)“, Lisl Rizy, Postfach 14, A-Wien 1101, Österreich.)

Die Redaktion

 

„Die EU muss die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf ein glaubwürdiges Militärpotenzial, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren. (…) Wir verpflichten uns daher, auf den Ausbau von wirksameren europäischen militärischen Fähigkeiten … hinzuwirken und zu diesem Zweck unsere eigene Fähigkeit zu stärken. Dies erfordert weiterhin nachdrückliche Verteidigungsanstrengungen. (…) Wir erkennen ferner an, dass nachdrücklich Bemühungen zur Stärkung der industriellen und technologischen Verteidigungsbasis erforderlich sind, die nach unseren Vorstellungen wettbewerbsfähig und dynamisch sein soll. (…) Wir werden daher zusammen mit der Industrie auf eine engere und effizientere Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen hinarbeiten. Wir werden uns um weitere Fortschritte bei der Harmonisierung militärischer Erfordernisse und der Rüstungsplanung und -beschaffung bemühen.”[1] Diese Leitlinien haben die EU-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen in Köln 1999 beschlossen.

Einerseits finden sich hier deutliche Bestrebungen, sich von den USA und der von ihr dominierten NATO zu emanzipieren und eine davon unabhängige imperialistische-militärische Machtbasis zu entwickeln – dafür stehen GASP („Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik”) und die Funktion von Ex-NATO-Generalsekretär Javier Solana als „EU-Außenminister”. Andererseits ergibt sich daraus die strukturelle Definition eines EU-weiten MIK – wie wir ihn schon in Abschnitt 3.5. angesprochen haben – dafür steht die Schaffung der EADS und der „Westeuropäischen Rüstungsgruppe” (WEAG).

Diese WEAG ist eine Nahtstelle zwischen Politik, Militär und Industrie, wo die Tätigkeiten der für die Beschaffung von militärischem Gerät zuständigen Ministerien (Finanzen und „Verteidigung”) und der Rüstungsindustrie koordiniert werden. Daneben besteht mit der OCCAR noch eine Organisation der Rüstungskoordination, die Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien 1996 aus der Taufe gehoben haben und über die z.B. die Beschaffung von 180 Stück des Militärtransportflugzeuges Airbus A400M (Kosten: 20 Mrd. €) im Mai 2003 abgewickelt wurde – damit sollen die Mängel in diesem Bereich abgedeckt werden, die die EU-Staaten bisher auf gemietete Transportflugzeuge der russischen Armee anwies. Zurück zum EU-MIK: auch Forschungs- und Entwicklungsgelder werden in diesem Bereich gebündelt. Und gerade der „Eurofighter”, den – wie wir schon festgehalten haben – die österreichische Regierung nicht zufällig als neuen Abfangjäger des Bundesheeres ausgewählt hat, gilt als Paradebeispiel für die politisch induzierte Verschmelzung von Industrie, Militär und Wissenschaft. In diesem Zusammenhang wird z.B. auch ein bis 2008 vollständig einsatzfähiges, eigenständiges europäisches Satellitennavigationssystem („Galileo”) als Alternative zum US-amerikanischen GPS (Global Positioning System) angestrebt, das ebenfalls im Rahmen der EADS entwickelt werden soll. Für die erste Entwicklungsphase sind 1,1 Milliarden Euro budgetiert (jeweils 50% EU und ESA), die rund 500 Millionen der EU werden hauptsächlich von Deutschland getragen (ca. 21%), Österreich trägt 2,5% bei (12,5 Millionen Euro). Am Galileo-Projekt beteiligen sich, um ebenfalls nicht auf das GPS der USA angewiesen zu sein, darüber hinaus auch China (mit 200 Millionen Euro) und Indien (mit 300 Millionen Euro).

Den USA ist dies alles freilich ein Dorn im Auge, das US-Militär und G. W. Bush unternahmen erhebliche Interventionsversuche, um die absolute Kontrolle und das Monopol der USA in diesem Bereich zu erhalten. Wie ernst es der EU (v.a. Deutschland und Frankreich) mit ihrer rüstungsindustriellen Souveränität ist, beweist auch das restliche Sortiment – oder besser: das Arsenal – der EADS. Es reicht vom „Eurofighter”, über den Militärtransporter „Airbus A400M”, den Marschflugkörper „MAW Tau-rus”, den Kampfhubschrauber „Tiger”, den Transporthubschrauber „NH90″, das Raketensystem „Polyphem”, die atomaren Raketen „M51″ und „ASMP”, das Radarsystem „Sostar” bis zum Spionagesatelliten „Star-Lupe”. All diese Konzeptionen sind als europäische Gegenstücke zur US-Rüstungsindustrie zu betrachten, die dem Ausbau der EU zu einem eigenständigen und militärisch schlagkräftigen imperialistischen Machtzentrum mit hochtechnisierten Streitkräften unabhängig von den USA dienen.

In einem DASA-Dokument heißt es: „Künftige Streitkräfte benötigen globale Mobilität, schnelle Machtprojektionen bzw. -präsenz, Luft- und Informationsüberlegenheit …. eine integrierte Systemarchitektur …, die die Plattformen intelligent vernetzt, das Potenzial zur präzisen, verlustminimalen Kampfführung auf Distanz.“[2] Liebknecht erklärt, daher „der unheimliche Eifer der Rüstungsindustrie auf dem Gebiet der technischen Fortentwicklung. Neben den quantitativen Entwicklung in der Rüstung steht ihre qualitative Entwicklung, und jede neue Erfindung, die von einer großen Rüstungsfirma gemacht wird, bedeutet nicht nur für das Inland eine Aussicht auf neue Bestellungen, sondern auch einen Druck auf das Ausland in Bezug auf die Fortentwicklung der Technik und der Rüstungen — und daher die Schraube ohne Ende —, in Bezug auf die Entwicklung der Rüstungstechnik und in Bezug auf Neurüstungen.”[3]

Am EU-Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 wurde die Aufstellung einer ca. 60.000 Mann starken „Eingreiftruppe” beschlossen. (Hier wird nicht einmal versucht, mit einer Betitelung wie z.B. „Verteidigungstruppe” den Charakter dieser imperialistischen Interventionsarmee zu vertuschen.) Österreich beteiligt sich an dieser EU-Armee mit 2.000-2.500 Soldaten (jährliche Kosten für den Staat: über 70 Mill. €). Diese Streitmacht soll sich aus den nationalen Armeen rekrutieren (das größte Kontingent stellt Deutschland mit 20%) und für „friedensschaffende” oder „friedenserhaltende” Maßnahmen eingesetzt werden. Insgesamt dürfte sich abseits der Erweiterungsländer 2004, deren Kontingente noch nicht feststehen, für die Bodentruppen in etwa folgende Zusammensetzung[4] ergeben:

Tabelle 81: Kontingente der EU-IS-Staaten für die Interventionstruppe (Dänemark nicht beteiligt)

Staat nationales Truppenkontingent Anteil an Gesamttruppe
Deutschland 13.500 20,1 %
Großbritannien 12.500 18,6%
Frankreich 12.000 17,9%
Italien 6.000 8,9 %
Spanien 6.000 8,9 %
Niederlande 5.000 7,5 %
Griechenland 3.500 5,2 %
Finnland 2.000 3%
Osterreich 2.000 3%
Schweden 1.500 2,2 %
Belgien 1.000 1,5 %
Irland 1.000 1,5 %
Portugal 1.000 1,5%
Luxemburg 100 0,15%
Gesamt 67.100 100%

Quelle: AG Friedensforschung an der Universität Kassel

Die Unterstützung durch Luft- und Seestreitkräfte ist ebenfalls vorgesehen (nachmals 30.000 SoldatInnen, über 500 Flugzeuge, rund 100 Schiffe), dazu kommen 5.000 zivile Mitarbeiterinnen, d.h. Polizistinnen und Juristinnen (v.a. Richterinnen), die in „befriedeten” Gebieten sodann für (EU-)Recht und Ordnung sorgen sollen. Diese Eingreiftruppe soll binnen 60 Tagen einsatzbereit sein und ein Jahr vor Ort bleiben können. Ihr Aktionsradius soll 4.000 km (um Brüssel) umfassen. Daraus lässt sich auf die beabsichtigten Interventionsgebiete schließen: klar ist, dass diese Vorgabe ganz Europa impliziert, im Osten würde der militärische Arm der EU somit bis in den Nahen und den Mittleren Osten sowie nach Zentralasien reichen, im Südosten bis auf die arabische Halbinsel. Richtung Süden würde das potenzielle Einsatzgebiet bis südlich der Sahara gehen. Von einer direkten Bedrohung des EU-Raumes kann hier nicht mehr gesprochen werden, vielmehr ist dies die Manifestation einer imperialistischen Außenpolitik, durch die politische und ökonomische Einflusssphären militärisch eröffnet und gesichert werden sollen. Im Vergleich zum NATO-Pendant NRF („NATO Response Force”) sind die Möglichkeiten der EU-Truppe zwar immer noch beschränkt, aber die Richtung „stimmt” sozusagen schon einmal. Nachdem übrigens der ursprüngliche Zeitplan zur Etablierung der EU-Interventionstruppe offenbar nicht haltbar war, ist nun seit November 2004 als Zwischenschritt (aber auch längerfristig als Ergänzung) die Aufstellung von dreizehn „battle-groups” (ja, das sind unverblümt „Schlachtgruppen”…) geplant. Dies sollen Einheiten mit jeweils rund 1.500 Soldatinnen aus zwei bis vier Staaten sein, die binnen 14 Tagen einsatzfähig sind. Auch der österreichische ÖVP-Kriegsminister ist begeistert: „Die Vorbereitungen seien bereits angelaufen, sagte Platter. Österreich plane die Entsendung von 200 Mann aus einem Infanterie-Element, einer ABC-Abwehr-Einheit und von Pionieren. Vorgesehen sei die Beteiligung an einem Truppenverband mit Deutschland und Tschechien.”[5]

Wir haben es zweifellos mit dem Ansinnen der EU, hinkünftig als Weltmacht aufzutreten, zu tun. Solana brachte die Intentionen unverblümt auf den Punkt: „Die Union des 21. Jahrhunderts wird über eine einzige Währung verfügen. Sie sollte auch eine wirksame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreiben. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben diese Notwendigkeit bestätigt. (…) Die Europäische Union ist bereits ein ‚Global Player’ auf der Weltbühne. Europa spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der wichtigsten handelspolitischen Maßnahmen, finanziellen Trends und währungspolitischen Entscheidungen. Es ist nun wirklich an der Zeit, dass Europa als globale Macht eine aktivere und einflussreichere Rolle spielt. (…) Europa muss fähig und willens sein, seine gemeinsamen Interessen zu bestimmen. Europa muss entschlossen sein, diese Interessen weltweit geltend zu machen.“[6]

Rekapitulieren wir chronologisch die Schritte, die für die fortlaufende Militarisierung der EU stehen, und betrachten wir die bisher vorhandenen strukturellen und institutionellen Grundlagen für die Herausbildung eines EU-Kriegsministeriums. Die GASP wurde ja bereits mit dem Vertrag von Maastricht beschlossen, mit dem Vertrag von Amsterdam, in dem sich die EU erstmals die Möglichkeit der weltweiten Kriegsführung eröffnet („Petersberg-Aufgaben”, die 1992 von der WEU definiert wurden), wurde der Weg der Militarisierung der EU fortgesetzt. Damit steht auch der „Kriegsermächtigungsartikel” 23f der österreichischen Verfassung in Zusammenhang, der es Österreichs Regierung (konkret Bundeskanzleramt und Außenministerium) ermöglicht, die Teilnahme an Kriegen der EU – global und ohne UNO-Mandat – ohne parlamentarische Zustimmung zu beschließen. Der bereits erwähnte Kölner Gipfel im Juni 1999 – also während noch immer Jugoslawien bombardiert wurde und die USA der EU ihre Abhängigkeit und Unselbstständigkeit vor Augen führten – stellt den Durchbruch dar: Integration der WEU in die EU, Wahl Solanas zum „Generalsekretär des Rates der Außenminister“, Schaffung der EU-Rüstungsindustrie (EADS), Bekenntnis zu globalen militärischen Interventionen sowie Beginn des Aufbaus des „EU-Verteidigungsministeriums. Die strukturellen Manifestationen der Militarisierung der EU sind im Konkreten seit 1999 regelmäßige Tagungen des Rates für „Allgemeine Angelegenheiten”, gegebenenfalls einschließlich der Verteidigungsminister, seit 2001 die Schaffung eines politischen und sicherheitspolitischen Ausschusses (eines ständigen Gremiums in Brüssel, das aus Vertretern mit politisch-militärischem Fachwissen besteht) sowie eines Militärausschusses (bestehend aus militärischen Vertretern, die gegenüber dem politischen und sicherheitspolitischen Ausschuss Empfehlungen aussprechen) und eines EU-Militärstabes einschließlich eines Lagezentrums (bereits seit 1999).

Was die Schaffung einer EU-Armee betrifft, so wurde über die diesbezüglich vermutlich hinkünftig zentrale Rolle der „Eingreiftruppe” weiter oben schon gesprochen, daneben sind jedoch noch andere, ältere Kooperationen als Basis einer gemeinsamen Streitmacht zu erwähnen. Zu nennen ist primär das deutsch-französische „Eurocorps”, das mit seiner Gründung 1992 den Grundstein für einen EU-eigenen militärischen Körper legte. Daneben sei auf die der WEU unterstehenden multinationalen Truppenverbände „Eurofor” und „Euromarfor” hingewiesen, die von Frankreich, Italien und Portugal ins Leben gerufen wurden. Mit Ende März 2003 trat die EU in Mazedonien erstmals offiziell als einheitliche Militärmacht auf: „Die EU hat am Montag [31.3.2003; Anm.] die Führung der Friedensmission in Mazedonien offiziell von der Nato übernommen. Es handelt sich dabei um den ersten militärischen Einsatz der Europäischen Union in ihrer Geschichte. Vorläufig sind 300 Soldaten im Einsatz. Oberbefehlshaber ist der deutsche Admiral Rainer Feist. Am Truppenkontingent beteiligen sich 27 Länder; Österreich entsendet zehn Soldaten. Die Kosten des Einsatzes betragen sechs Millionen Euro. Der Mazedonien-Einsatz ist der Beginn der seit Jahren geplanten gemeinsamen EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, an dessen Ende eine Schnelle Eingreiftruppe von 60.000 Mann stehen soll.”[7] Neben der Mission im Mazedonien („Concordia”, römische Göttin der Eintracht) kann die EU mittlerweile auch auf den Einsatz im Kongo („Artemis”, griechische Göttin der Jagd!) zurückblicken, der ebenfalls als „Probelauf der EU-Eingreiftruppe betrachtet werden kann. Diese ganze Entwicklung der Militarisierung geht freilich munter weiter, so war ein wesentlicher Punkt des EU-Konvents zur Zukunft der Union, das vom früheren französischen Präsidenten Valery Giscard d’Estaing geleitet wurde und wo die Diskussion, ob Gott in eine Verfassung gehört oder nicht, in Wirklichkeit ein mehr als irrelevanter Nebenschauplatz ist, die Installierung einer gemeinsamen EU-Rüstungsbeschaffungsagentur, um EU-Kriegsgerät hinkünftig zentral anzuschaffen. Die österreichischen Vertreter im Konvent, Caspar Einem (SPÖ), Hannes Farnleitner (ÖVP), Reinhard Bosch (FPÖ) und Johannes Voggenhuber (Grüne) hatten – auch auf explizite Anfrage der Friedenswerkstatt Linz – durchwegs keine Einwände…

Wir sehen, die Militarisierung der EU, ihr Ausbau zu einem selbstständigen imperialistischen Machtzentrum mit einem von der NATO unabhängigen Militärapparat, schreitet voran – wenngleich auch diese Entwicklung nicht ohne gelegentliche Widersprüche, ohne interne Rivalitäten innerhalb des imperialistischen Bündnisses EU, vor sich geht: „Die Besetzung eines einflussreichen Postens im künftigen Militärstab der Europäischen Union mit einem deutschen General hat zu einer ernsthaften Verstimmung in den deutsch-französischen Beziehungen geführt. Wie der Deutschlandfunk berichtete, wählten die Generalstabschefs der EU-Staaten … General Rainer Schuwirth zum Direktor des EU-Militärstabes. Diese Position ist für den Aufbau und die Führung der künftigen EU-Armee wichtig. Laut Deutschlandfunk hatte der französische Staatspräsident Jacques Chirac ohne Erfolg versucht, Bundeskanzler Schröder zu einem Verzicht auf eine deutsche Bewerbung zu bewegen.“[8] Das Kernstück des imperialistischen EU-Projekts ist aber freilich gerade das deutsch-französische Bündnis, so war es vor allem der Gegensatz eben zwischen Deutschland und Frankreich einerseits und Spanien und Polen andererseits, der im Dezember 2003 den Verfassungsgipfel zunächst noch zum Scheitern brachte. Die Antwort der imperialistischen Führungskräfte der EU war sodann wieder die Bildung einer „Kern-EU“, womit „demokratischer” Ballast abgeworfen werden soll und die Handlungs- und Durchgreifungsspielräume Deutschlands und Frankreichs erweitert werden sollen. Jene Staaten, die hier nicht mitziehen, würden -so zumindest der Plan v.a. Deutschlands – sodann die EU-Peripherie bilden, deren Abhängigkeit vom ökonomisch bestimmenden Kerneuropa sich freilich erstrecht verstärken würde.

Wesentlicher für die weltpolitischen Perspektiven ist aber, dass transatlantische Spannungen mit den USA natürlich programmiert sind (das ist ja auch Sinn und Zweck der Sache): „Am Anfang dieser Entwicklung, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts begann, stand die Absicht ,der Europäer’ in der Nato zu einem gleichwertigen Partner Washingtons zu werden (…) Die dazu notwendigen Vereinbarungen zwischen Nato und WEU billigte der Nato-Gipfel in Washington. Die ,Combined Joint Task Forces’ wurden Realität, Nato-Hauptquartiere übten die Abgabe von Teilen ihrer Stäbe und Führungsmittel an die WEU. Umso größer war das Befremden, als die Staats- und Regierungschefs der EU in Köln beschlossen, sich nicht allein auf Mittel der Nato zu stützen, sondern zusätzlich außerhalb des Bündnisses militärische Kapazitäten zu schaffen.[9] Klar ist, dass trotz wiederholter Bekenntnisse der westeuropäischen NATO-Staaten zur transatlantischen Partnerschaft mit den USA die langsame Emanzipation der EU in Washington zu Irritationen fuhren muss, so „schätzt Washington die den Aufbau der Europa-Armee begleitenden Kommentare westeuropäischer Politiker als Versuch ein, die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA künftighin zu relativieren und damit gewisse Ansätze einer Multipolarität auszubauen. Der ehemalige stellvertretende US-Außenminister Talbot befürchtete, dass das EU-Geschöpf, erst innerhalb der Nato zu existieren beginnt und dann zum Konkurrenten der Nato’ werde. Vorwurfsvoll war vom ,Aufbau einer Mini-NATO’ die Rede. (…) Außenminister Powell bejaht die Umrüstungsmaßnahmen der EU …, so lange dies zur Stärkung der Nato beiträgt, nicht zu deren Schwächung’. In gleicher Weise äußerte sich Verteidigungsminister Rumsfeld. Deutlicher wurde Bush-Berater Scowcroft: ,Dass die Euro-Armee noch während des Kosovo-Krieges aus der Taufe gehoben wurde, habe ich als Schlag ins Gesicht der USA empfunden.’ Und er fügte hinzu: .Sollten die Europäer darauf setzen, dass Antiamerikanismus der heimliche Motor für eine engere Zusammenarbeit der Gemeinschaft ist, wird das neue Kontingent zum Zankapfel der Allianz werden.’ (…) Damit sind für Washington substanzielle Fragen ihres .Sanktuariums’ NATO angesprochen. Die USA sind entschlossen, die NATO als ihre Ordnungsmacht in Europa, als ihr Herrschaftsinstrument in Eurasien und als ihr globales Interventionsbündnis von niemanden antasten zu lassen.”[10]

Wir sehen, es ist offenkundig, dass die USA kein Interesse an einer eigenständigen EU-Armee und an einer ihrem Einfluss entzogenen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU haben. Das ist vollkommen klar, wird hier für die USA doch unmittelbar sichtbar, dass im nun deutlicher werdenden imperialistischen Konkurrenzkampf ihre eigenen Interessen nicht mehr zwingend mit jenen der europäischen Staaten, v.a. Deutschlands, zusammenfallen – im Gegenteil: in der Auseinandersetzung gerade mit den schier allmächtigen USA muss die EU sogar zwingend ihre Integrationsmaßnahmen verstärken und eigene Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen, ökonomischen und auch militärischen Ziele entwickeln. „Wirtschaftlich sind die EU und die USA Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Der Euro wurde schließlich auch als Gegengewicht zum Dollar eingeführt. (…) Werte und Interessen der EU und USA sind nicht identisch — wobei Großbritannien seine Rolle wahrscheinlich mehr als amerikanischer Repräsentant in Europa sieht, um dadurch bevorzugt an der US-Hegemonie partizipieren zu können. Doch die so oft beschworene und behauptete Identität amerikanischer und kontinentaleuropäischer Sicherheitspolitik ist ein politischer Selbstbetrug. Die NATO ist nicht Staatsräson der Deutschen oder anderer Europäer. Staatsräson der EU-Mitgliedsländer muss eine eigenständige EU-Sicherheits- und Außenpolitik sein. (…). Adernfalls riskiert die EU, von der US-dominierten NATO weit über sicherheitspolitische Fragen hinaus ferngesteuert und in Konflikte als Akteur wider die eigenen Interessen hineingezogen zu werden.“[11]

Nur logisch, dass die USA um ihre Vormachtstellung als imperialistische Führungsmacht und als autoritärer „Weltpolizist” besorgt sind. Bislang steckt die Entwicklung eines einheitlichen imperialistischen Machtzentrums im Rahmen der EU noch in den Kinderschuhen, es kann weder politisch noch militärisch die Rede von einem umfassend handlungsfähigen und homogenen Apparat sein, der autonom und unabhängig von den USA und der durch sie dominierten NATO agieren könnte – das beweisen z.B. die Ereignisse auf dem Balkan rund um den Zerfall Jugoslawiens oder auch die Unfähigkeit, im Palästinakonflikt eine seriöse, eigenständige Rolle zu spielen, sowie nicht zuletzt die Differenzen vor dem Irakkrieg 2003 zwischen Großbritannien und Spanien einerseits und Deutschland und Frankreich andererseits. Aber es ist klar, wohin die Reise geht – die Bekenntnisse der führenden EU-PolitikerInnen sind eindeutig, die bereits gesetzten Schritte sind unmissverständlich, die eigenen Interessen der (vor allem kontinental-)europäischen Monopole können nicht ignoriert werden und die Angst der USA um ihre Position – wie sie in ihren eigene strategischen Konzepten geäußert wird – ist nicht auf Paranoia zurückzuführen. Und tatsächlich manifestieren sich die beginnenden Auseinandersetzungen zwischen USA und EU bereits seit einiger Zeit. Es geht zwar noch um kleinere „Meinungsverschiedenheiten” (z.B. wegen der US-Stahlzölle oder zwischen Spanien und Kanada wegen Fischereirechten), die zwischenimperialistische Auseinandersetzung der beiden großen kapitalistischen Machtzentren und ihrer jeweiligen Monopolen wird hinkünftig jedoch zwangsläufig an Intensität gewinnen. Zwar „sind die zwischenimperialistischen Widersprüche zeitweilig hinter gemeinsamen Interessen gegenüber dem Weltsozialismus und den nationalen Befreiungsbewegungen zurückgetreten. Nach dem Zusammenbruch und der Zerschlagung des Sozialismus in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern in Europa treten sie immer deutlicher hervor. Als Beispiele dafür genügt es das Bestreben der EU zu nennen, neben der von den USA dominierten NATO eine eigene EU-Armee mit schnellen Eingreiftruppen aufzubauen, die auf der WTO-Konferenz zutage getretenen Differenzen zwischen den USA und den EU-Ländern, den Kampf um das kaspische Öl und um die Führungsrolle auf dem Balkan, aber auch solche scheinbar zweitrangigen Auseinandersetzungen wie das Gerangel um die Besetzung des Chefsessels beim IWF.”[12] Zuletzt verlagerte sich die Auseinandersetzung in den UNO-Sicherheitsrat, wo aus Sicht der USA eine Resolution, die ihnen einen Freibrief für die Aggression gegen den Irak erteilt hätte, aufgrund des deutschen und v.a. französischen Widerstandes nicht durchgesetzt werden konnte.

Wie stehen hernach MarxistInnen zur EU? Faktum ist: die EU ist konzeptionell ein imperialistisches Bündnis europäischer Staaten zum Zweck der Optimierung der Handlungsspielräume und der gesicherten Kapitalakkumulation der großen transnationalen Konzerne, zur zweckmäßigen Bündelung politischer, ökonomischer und militärischer Macht in der zwischenimperialistischen Auseinandersetzung mit den außereuropäischen Großmächten, v.a. mit den USA und Japan, zur kollektiven imperialistischen Unterdrückung und Ausbeutung der abhängigen Länder der Peripherie und der Semiperipherie sowie zur Niederhaltung jeglicher progressiver, emanzipatorischer Bewegungen und Bestrebungen der Mehrheit der Menschen innerhalb und außerhalb der EU. In diesem letzten Sinne war und ist die EU (bzw. die EG) auch immer eine wesentliche Bastion des Großkapitals im Kampf gegen den Sozialismus und die Aufklärung und Organisierung der ArbeiterInnenklasse. Daher sind zwei Erkenntnisse zur „EU-Frage” für MarxistInnen von immenser Bedeutung: erstens wäre es töricht, darauf zu setzen, dass eine erstarkte EU ein wirksames friedenspolitisches und stabilisierendes Gegengewicht zur imperialistischen Hauptmacht USA sein könnte – dagegen sprechen der Charakter der EU als imperialistisches Bündnis und das Wesen des Imperialismus überhaupt. Der EU-Imperialismus ist ebenso wenig friedliebend und friedensfähig wie der US-Imperialismus – das zeigen nicht zuletzt der mitgetragene und durchgeführte völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 sowie die kontinuierlich gesetzten Schritte der Militarisierung der EU, die diese militärisch schneller handlungsfähig machen sollen. Zweitens muss klar sein, dass die EU niemals den Ansprüchen eines integrativen und progressiven Einigungsprozesses gerecht werden kann, sie wird niemals für sozialistische Ziele und Zwecke instrumentalisiert werden können. Genauso wie es nicht möglich ist, dem bürgerlichen Staat sozialistische Aufgaben anzuvertrauen, d.h. ihn stetig mit sozialistischen Inhalten zu füllen, bis er in den Sozialismus hineinwächst, ist es unmöglich, ähnliches im Rahmen eines Bündnisses bürgerlicher Staaten zu machen. Die EU ist in diesem Sinne weder re- noch transformierbar. Für MarxistInnen muss daher außer Frage stehen, dass die EU keinerlei sozialistische Perspektive bieten kann. Das war vor der Abstimmung über Österreichs Beitritt klar und seit 1995 haben sich jene ausschlaggebenden Gründe, deretwegen es damals richtig war, sich klar und deutlich gegen den EU-Beitritt auszusprechen, nicht reduziert, aufgeweicht oder als Fehleinschätzungen erwiesen, sondern im Gegenteil zweifellos verstärkt und verschärft. Sozialabbau, Privatisierungen, Marktliberalisierungen, Deregulierung, Flexibilisierung der Arbeit, aber eben auch nicht zuletzt die Militarisierung, wie wir sie in diesem Abschnitt nachvollzogen haben, und die schleichende Neutralitätsaushöhlung sind auf das Engste und unweigerlich mit den Bedürfnissen des in der EU konzentrierten und organisierten europäischen Monopolkapitals verknüpft. Das bedeutet, dass es für Marxistinnen auch keinen Grund geben kann, Positionen „pragmatisch” anzupassen, da heute der menschenfeindliche, undemokratische und kriegerische Charakter der EU deutlicher denn je zutage tritt.

Insofern ist es wesentlich, politische Positionierung konsequent weiterzuentwickeln und marxistischen Grundlagen treu zu bleiben. Daher kann es in jedem Fall nach wie vor nur das Ziel einer Nicht-Teilnahme Österreichs an der Union des europäischen Großkapitals geben. Das kann nicht heißen, dass das Gegenkonzept kleinstaatliche Abschottung oder gar nationalistische Regression sein kann. Ebenso wie klar sein muss, dass ein EU-Austritt Österreichs sicher nicht von heute auf morgen durchführbar ist, kann ein derartiger Schritt darüber hinaus auch nur eine Etappe einer längerfristigen Bewegung darstellen, die die Perspektive für eine soziale, demokratische und friedliche Zukunft Europas eröffnet, wie sie diese EU sicher nicht ermöglicht. Und natürlich kann Österreich nicht der einzige EU-Staat sein, der sich der Union der Konzerne widersetzt und sich von ihr abwendet. Es wird – ohne hier zu sehr dem Kapitel 5 vorzugreifen – unerlässlich sein, dass in mehreren und zwischen mehreren Ländern Bündnisse entstehen, die sich v.a. aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zusammensetzen und die Macht des Großkapitals und seiner Organisationsformen in Frage stellen, herausfordern, Widerstand leisten und sie schließlich zurückdrängen. Es wird hierbei ebenfalls notwendig sein, dass diese kritischen Bewegungen innerhalb der EU auch die Kooperation mit den ausgebeuteten Ländern in europäischen Randgebieten, Afrika, Asien und Lateinamerika suchen und mit diesen solidarisch sind. Das Potenzial für eine Bewegung gegen die Union der Konzerne ist gegeben, das zeigen einerseits die riesigen Demonstrationen und Protestaktionen bei den Gipfeltreffen der EU-Staaten, andererseits werden von breiten Bevölkerungsschichten neoliberale Zielsetzungen, Dogmen und Projekte wie die Maastricht-Kriterien oder die Einführung des Euro (so z.B. im September 2003 in Schweden) vermehrt kritisch hinterfragt und sogar abgelehnt. Die Aufgabe von Marxistinnen muss es sein, die Menschen im nationalen wie im internationalen Rahmen für die hintergründigen Interessen des EU-Imperialismus und des Monopolkapitals zu sensibilisieren, aufzuklären und für eine Bewusstseinsbildung zu wirken, die es erlaubt, tatsächlich ein große Anzahl von Menschen in einem klar antikapitalistischen Bündnis gegen die „neoliberale” Politik und sodann gegen die EU selbst zu mobilisieren. In einem solchen Bündnis müssen die marxistischen Kräfte an vorderster Front zu finden sein, sie müssen klare Klassenpositionen beziehen und sozialistische Perspektiven einbringen sowie gleichzeitig jedem chauvinistischen und nationalistischen Missbrauch berechtigter EU-Kritik durch rechte Organisationen erst gar keinen Raum zur Betätigung überlassen. Denn zu guter letzt kann ein klarer Gegenstandpunkt zum kapitalistischen Klassenprojekt der EU der Klassenstandpunkt des proletarischen, sozialistischen Internationalismus sein. Die globale Vernetzung und das zielbewusste Zusammenwirken der Arbeiterinnen aller Länder innerhalb und außerhalb Europas, internationale Solidarität und transnationale Kooperation der Gewerkschaften sind unerlässliche Bedingungen für jeden Erfolg der Arbeiterinnenklasse, im tagtäglichen Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen genauso wie im Kampf gegen die EU und den Imperialismus überhaupt sowie um das längerfristige Ziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Der Klassenkampf des Proletariats muss international und solidarisch geführt werden. Nur das kann eine Erfolg versprechende Basis in der Auseinandersetzung mit dem Großkapital und seinen Organisationsformen, wie auch die EU oder die EZB neben WTO, IWF und NATO welche darstellen, sein.

Fassen wir zusammen: es wird zunächst also wichtig sein, für die Schaffung EU-kritischer Bündnisstrukturen einzutreten, denen eine klare antimilitaristische und sodann antikapitalistische Ausrichtung gegeben werden muss. Die Perspektive muss der Austritt Österreichs aus der EU sein. Da die EU als imperialistische Organisationsform des europäischen Monopolkapitals zu verstehen ist, muss sie in ihrer Gesamtheit als System überwunden, d.h. zerschlagen werden. Als einziges Gegenkonzept und Gegenmacht zu den supranationalen Organisationsformen des Großkapitals ist der proletarische Internationalismus zu verstehen, daher sind der Widerstand und die Kämpfe gegen die Macht des Monopolkapitals und den Imperialismus weltweit und solidarisch zu unterstützen. „Die wichtigste der Tendenzen gegen den Imperialismus”, schreibt Karl Liebknecht, „ist die vom Proletariat getragene der Solidarisierung aller Völker, des Klassenkampfes, den die Arbeiterklasse innerhalb der einzelnen Länder und in der Internationale führt gegen diejenigen Kreise, deren Geschäft der Imperialismus ist.[13]

Tibor Zenker, Österreich

Anmerkungen:

  1. Europäischer Rat in Köln: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 4.6.1999 (Press Release Nr. 150/99)
  2. DaimlerChrysler Aerospace: Dokumente der Luft- und Raumfahrtindustrie 3/2000. Zitiert nach: Guernica 4/2002, S. 4
  3. Liebknecht, Karl: Der Teufelstrust der internationalen Rüstungsindustrie. In: Liebknecht — Reden und Aufsätze in zwei Bänden, Frankfurt am Main 1971, Bd. 1,S. 314
  4. Frankfurter Rundschau, 22.11.2000
  5. Neue Zürcher Zeitung, 23. November 2004
  6. Presseerklärung des Generalsekretariats des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel, 18.10.1999
  7. Der Standard, 1.4.2003
  8. Süddeutsche Zeitung, 15.11.2000
  9. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.2000
  10. Grasnick, Georg: USA und EU im Clinch. In: Pax Report 3/2002
  11. Scheer, Hermann: Schall unter amerikanischem Rauch. In: Freitag 23/99, 4.6.1999
  12. Gerns, Willi: Lenins Imperialismustheorie und heutiger Kapitalismus. In: Marxistische Blätter 3/2000
  13. Liebknecht, Karl: Zum Problem des Imperialismus. In: Liebknecht – Reden und Aufsätze in zwei Bänden, Frankfurt am Main 1971, Bd.1, S. 271