Heiner Karuscheit: Losurdo, Gossweiler und das System der Arbeit in der Sowjetunion

Heiner Karuscheit:
Losurdo, Gossweiler und das System
der Arbeit in der Sowjetunion

Zu Offensiv 10/2001; „Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der Geschichte” von Kurt Gossweiler

Die junge welt hat vom 15.-23.03.2000 eine Studie des italienischen Kommunisten Domenico Losurdo über den Untergang des Sozialismus abgedruckt (“Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass”), die auch als Flugschrift 01 der Marxistischen Blätter erhältlich ist (Neue Impulse Verlag, Hoffnungstr.18, 45127 Essen). Hierzu hat der Historiker Kurt Gossweiler “Kritische Anmerkungen” geschrieben, die sich in Ausgabe 24 der Zeitschrift Streitbarer Materialismus finden (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung, Tulbeckstr.4, 80339 München; Nachdruck in offensiv 10/2001: Frank Flegel, Berckhusenstr.13, 30625 Hannover).

An zentraler Stelle steht bei Losurdo die Kritik, daß im Sozialismus ein idealistisches Verhältnis zur Arbeit vorherrschte, welches “das Ende nicht nur des Staates, sondern auch der Arbeitsteilung, in Wirklichkeit der Arbeit selbst voraus(setzte), und letzten Endes das Verschwinden jeglicher Form von Macht und Pflicht.” Dieses utopische Verständnis ist seines Erachtens auf Marx und Engels zurückzuführen und hatte letztlich das Scheitern des ersten Anlaufs zum Sozialismus zur Konsequenz.

Gossweiler weist den Vorwurf an Marx und Engels zurück, geht jedoch ebenso wenig wie Losurdo auf die konkreten Arbeitsverhältnisse im Sozialismus, speziell in der Sowjetunion, ein, sondern lastet den Niedergang Chrustschow an, der seiner Auffassung nach ein “prinzipienloser Machtmensch” war, ein “bedenkenloses Demagogentum” praktizierte und für die Durchsetzung eines “revisionistischen Kurses” sorgte. Als Beleg nennt er u.a. dessen Positionswechsel in der Agrarfrage. Hatte Chruschtschow 1951 für die Zusammenlegung der sowjetischen Kolchosdörfer zu Agrostädten und die schnellstmögliche Umformung der Kolchosbauern zu staatlichen Landarbeitern plädiert, so ließ er 1958 die staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) auflösen und ihre Maschinerie an die Kolchosen übereignen.

Dieser Positionswechsel scheint den Vorwurf der Prinzipienlosigkeit zu bestätigen. Wenn man sich jedoch näher damit beschäftigt, wird eine andere Bewertung nahegelegt. Dann zeigt sich auch, dass Chrustschows Politik und die von Losurdo monierte Haltung zur Arbeit mehr miteinander zu tun haben als gedacht.

Die schwierige Agrarfrage

In der sowjetischen Debatte Anfang der 50er Jahre ging es um den weiteren Weg zum Kommunismus und dabei insbesondere um die Weiterentwicklung der Agrarverhältnisse. Zwar hatte die in den 30er Jahren vollzogene Kollektivierung der Landwirtschaft dem Staat die Verfügungsgewalt über das agrarische Mehrprodukt verschafft und die Industrialisierung ermöglicht. Aber der Kolchos war keine staatliche Produktionseinheit, sondern eine selbständige Genossenschaft, deren Produkt vom Staat im nachhinein angeeignet, d.h. angekauft werden mußte, und deren Produktivität stagnierte. Auch wenn dasselbe Mengenprodukt an Getreide mittlerweile von weniger Bauern erzeugt wurde, waren die Pro-Hektar-Erträge im Vergleich zur Zarenzeit so gut wie nicht gestiegen. Angesichts dieser Situation gab es eine Reihe von Vorschlägen, wie der Kolchos auf dem Weg zum Kommunismus umzugestalten sei, darunter auch von Chruschtschow, dessen Programm von Regierung und Parteiführung jedoch zurückgewiesen wurde.

Kaum an der Spitze der Regierung, machte derselbe Chrustschow mit der MTS-Auflösung offenbar das Gegenteil von dem, was er wenige Jahre zuvor propagiert hatte, so dass der Vorwurf des Opportunismus nahe liegt. Dabei wird jedoch in der Regel übersehen, daß die Kolchosen die Ausrüstung der Maschinen-Traktor-Stationen nicht kostenlos erhielten, sondern sie zu Preisen kaufen mußten, die weit über den alten Verrechnungspreisen lagen. Sie waren so hoch angesetzt, daß nur ein Teil von ihnen dazu in der Lage war. Die anderen lösten sich auf, das heisst, Land und Maschinerie wurden von Sowchosen (Staatsfarmen) übernommen, und die Genossenschaftsmitglieder wurden staatlich bezahlte Landarbeiter – so wie von Chrustschow 1951 propagiert. Binnen kurzem war mehr als ein Viertel der Kolchosen verschwunden, und es schien nur eine Frage der Zeit, bis der Rest ebenfalls seine Selbständigkeit aufgeben würde.

Parallel dazu ließ Chrustschow ein gewaltiges Neulandprogramm starten. Von der Partei mobilisiert, siedelten Hunderttausende junger Leute nach Kasachstan, Sibirien und in andere Gebiete der UdSSR um, wo sie als “Erbauer des Kommunismus” riesenhafte staatliche Getreidefarmen errichteten. Ihre Anstrengungen waren zunächst auch von Erfolg gekrönt, denn der jungfräuliche Boden warf in den ersten Jahren gute Ernten ab, so daß bspw. Kasachstan die Ukraine als Kornkammer ablöste. Es sah so aus, als ob die bisherige Abhängigkeit vom Kolchos und dessen Getreidelieferungen überwunden sei und man dabei war, das von Chrustschow Anfang der 50er Jahre anvisierte Ziel zu erreichen, wenn auch auf anderem Wege – sozusagen “hinten herum”. Fragwürdig war nur die in der Öffentlichkeit vertretene Begründung für die MTS-Auflösung, nämlich die Behauptung, dass die Kolchosen heute so weit seien, dass sie die Agrarmaschinerie selbständig einsetzen könnten. Allerdings wurde gleichzeitig betont, daß der Sowchos die “höhere” Produktionsform verkörperte und das übergeordnete Ziel daher die Verstaatlichung bleibe.

Währenddessen wurden auch die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken und Bergwerken umgestaltet. Die Arbeitszeit wurde verkürzt und das Arbeitsregime (Strafen bei Zuspätkommen, Alkohol am Arbeitsplatz, Bummelei etc) gelockert bzw. abgeschafft. Die in der Arbeiterschaft unbeliebten Stachanow-Wettbewerbe zur Steigerung der Leistungsbereitschaft wurden eingestellt und die Arbeitslager aufgelöst. Gleichzeitig wurden in großem Umfang gesellschaftliche Mittel vom Produktionsmittelsektor bzw. Infrastrukturausbau (Bau von Kanälen und Eisenbahnverbindungen) in die Konsumgüterproduktion umgeleitet.

Der Schein des Kommunismus

Die negativen Folgen dieser Veränderungen machten sich nicht sogleich bemerkbar, da die Gesellschaft noch über ausreichende Reserven verfügte. So erschien die Lage in der Sowjetunion am Übergang in die 60er Jahre glänzend. Die Arbeit war leichter geworden und der private Konsum erheblich gestiegen (“Gulaschkommunismus”). Der Sputnik-Start 1957 und Gagarins Erdumkreisung 1961 schienen die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus bei der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution unter Beweis zu stellen. Womit Chrustschow 10 Jahre zuvor in der Agrarfrage eine Niederlage erlitten hatte, beschloss der 22.Parteitag der KPdSU 1961 auf seinen Vorschlag als neues Parteiprogramm, nämlich den Übergang zum Kommunismus. Dieser sollte binnen 20 Jahren erreicht sein und endgültig die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums “nach den Bedürfnissen” statt “nach der Leistung” mit sich bringen.

Bereits kurz nach dem Parteitag wurde aber offenbar, daß die Abkehr vom Leistungsprinzip die Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion untergrub. Mit der Zunahme der Arbeitsbummelei ging die Produktivität in den Fabriken zurück, und in der Schwerindustrie gab es eine Produktionskrise, weil die verbliebenen Kolchosen nicht genügend neue Agrarmaschinen kauften. Als es 1963, mitbedingt durch die Bodenerosion in den Neulandgebieten, zu einer Mißernte kam und die UdSSR zum erstenmal in ihrer Geschichte Getreide importieren mußte, war der Vorstoß zum Kommunismus gescheitert. Chrustschow versuchte noch, durch eine Fülle hektischer Experimente und Veränderungen den einsetzenden Niedergang aufzuhalten, bis er 1964 unter dem Vorwurf des “Abenteurertums” zum Rücktritt gezwungen wurde.

Angesichts dieser Zusammenhänge greift die Kritik Gossweilers an Chrustschow zu kurz. Zu Beginn der 50er Jahre hatte Stalin in den “Ökonomischen Problemen des Sozialismus” vor jeder Übereilung auf dem Weg zum Kommunismus gewarnt und die Auffassung vertreten, daß es noch viele Generationen dauern würde, bis die Arbeit aus einer “Notwendigkeit” zum “ersten Lebensbedürfnis” geworden sei. Seiner Meinung nach mußte weiterhin vorrangig die Schwerindustrie ausgebaut werden (einschließlich der Infrastruktur), bei einer nur langsamen Zunahme der Konsumgüterproduktion. Demgegenüber realisierte der mit Chrustschow an die Macht gelangte Parteiflügel unter der Parole der “Errichtung des Kommunismus” eine Politik des Verteilungskommunismus, die den spontanen Interessen der Mehrheit der Werktätigen entgegenkam. Sie wollten nach den entbehrungsreichen Jahren der Industrialisierung, des Weltkriegs und des Wiederaufbaus endlich ein besseres Leben führen, und zwar sofort. Nur die Jugend war für neue Produktionsschlachten zum Aufbau des Kommunismus zu gewinnen.

Auf dem eingeschlagenen Weg gab es später keine Umkehr mehr, denn mit den einmal etablierten Arbeitsverhältnissen verbanden sich soziale “Besitzstände”, die ohne Umsturz nicht aufzubrechen waren. Die überproportionale Beanspruchung der gesellschaftlichen Reproduktionsfonds für den individuellen Konsum ging weiter (hinzu kamen die ebenfalls unproduktiven Militärausgaben), bis nicht einmal mehr die einfache Reproduktion zu gewährleisten war.

So gesehen haben beide, Losurdo und Gossweiler, recht und unrecht zugleich. Losurdo hat mit seinem Hinweis auf das Verständnis der Arbeit im Sozialismus einen wunden Punkt benannt. Umgekehrt ist Gossweiler zuzustimmen, daß der erhobene Vorwurf nicht der kommunistischen Bewegung als solcher und insbesondere nicht Marx und Engels gemacht werden kann. Beide Kritiken lösen sich auf, wenn man die Veränderungen der sowjetischen Produktionsverhältnisse in den 50er Jahren untersucht. Dann begreift man, daß es in der Tat Chrustschow war, der den Grund für den späteren Untergang legte, wenngleich seine Politik mit dem Begriff des “Revisionismus” nicht vernünftig zu fassen ist.

Heiner Karuscheit, Gelsenkirchen