Kurt Gossweiler: Werter Genosse Karuscheit

Kurt Gossweiler:
Werter Genosse Karuscheit

Zur vorstehenden Zuschrift von Heiner Karuscheit

Deine Stellungnahme zu meiner Losurdo-Kritik habe ich erhalten und mit Interesse zur Kenntnis genommen. Gefreut hat mich daran der sachliche Ton, der für mich – nach Ausführungen von Dir vor einigen Jahren in den Weißenseer Blättern – nicht selbstverständlich war.

Immer wieder staunenswert finde ich die Hartnäckigkeit, mit der Du selbst bei sehr breit gefächerten Themen Deinen eingeengten und einengenden Blickwinkel beibehältst, der geradezu zwanghaft die Agrarfrage als Ausgangspunkt und Zentrum aller gesellschaftlichen Probleme und Lösungen erscheinen lässt.

Dabei verkenne ich nicht, dass einige Deiner Bemerkungen über die Entwicklung der Landwirtschaft in der Sowjetunion wichtige Fragen ansprechen. Ich hätte mir aber gewünscht, dass einige Deiner Feststellungen genauer belegt würden. So z.B. die Behauptung über die Stagnation der Produktivität in den Kolchosen, oder die Feststellung über den Rückgang der Zahl der Kolchosen bis zur drohenden völligen Selbstaufgabe. Ist dabei berücksichtigt, dass die Zahl der Kolchosen auch durch Zusammenlegungen sich verringerte? Hast Du Zahlen über die Veränderungen der bewirtschafteten Flächen durch Kolchosen und Sowchosen? Und wie erklärst Du die Hartnäckigkeit, mit der die Genossenschaften selbst nach 1990 in Russland (und auch bei uns, im Gebiet der DDR) von den Genossenschaftlern verteidigt werden? Alles die Folge eines „idealistischen Verhältnisses zur Arbeit”? Damit komme ich zu meinem Haupteinwand gegen Deine Zuschrift. Du behauptest: „An zentraler Stelle steht bei Losurdo die Kritik, dass im Sozialismus ein idealistisches Verhältnis zur Arbeit vorherrschte, welches <das Ende nicht nur des Staates, sondern auch der Arbeitsteilung, in Wirklichkeit der Arbeit selbst voraus(setzte)…>”

Du gibst damit Losurdo nicht richtig wieder. „An zentraler Stelle” steht bei Losurdo nicht, „dass im Sozialismus ein idealistisches Verhältnis zur Arbeit” vorgeherrscht habe, sondern die – von mir als völlig grundlos nachgewiesene – Kritik daran, die sowjetischen Führer hätten immer wieder versichert, „Man schreite rasch voran auf dem Weg zur Verwirklichung des Kommunismus – eines Kommunismus, der auf die phantastische Art verstanden wurde, die oft die uns von Marx und Engels überlieferte Definition charakterisiert”. Du reduzierst den Kommunismus und Losurdos Kritik an Marxens Kommunismus-Thorie ganz zu Unrecht auf „das Verhältnis zur Arbeit”; aber sowohl Marxens Kommunismus-Theorie als auch Losurdos Kritik an ihr umfasst bei weitem mehr – nämlich die gesamte Struktur der Gesellschaft.

Zweitens ist aus Deiner Formulierung zu schließen, dass Du zwar nicht Losurdos Kritik an Marx teilst, dass Du aber die von Dir Losurdo zugeschriebene Kritik daran, dass im Sozialismus ein idealistisches Verhältnis zur Arbeit vorgeherrscht habe, als zutreffend ansiehst. Da möchte ich doch gerne näher erläutert haben, was Du darunter – unter einem „idealistischen Verhältnis der Arbeit im Sozialismus” verstehst.

Nach meinem Dafürhalten enthält Deine Zuschrift noch einige weitere fragwürdige Feststellungen: „Die Arbeitslager wurden (von Chruschtschow) abgeschafft.” Tatsächlich? Alle? Quelle?

„Womit Chruschtschow 10 Jahre zuvor in der Agrarfrage eine Niederlage erlitten hatte, beschloss der 22. Parteitag der KPdSU 1961 auf seinen Vorschlag als neues Parteiprogramm, nämlich den Übergang zum Kommunismus.” Wie kommst Du nur darauf? Der Übergang zum Kommunismus war bereits auf dem 18. Parteitag die klare Perspektive der Partei. Welche Niederlage in dieser Frage soll Chruschtschow „10 Jahre zuvor”, also 1951, erlitten haben? Ist die Ablehnung seiner Agro-Stadt-Diversions-Idee auf dem 19. Parteitag 1952 gemeint? Was aber hat die mit dem Übergang zum Kommunismus zu tun? Gar nichts, wie auf dem 19. Parteitag zu Recht festgestellt wurde.

Schließlich stellst Du völlig zu Unrecht die Sache so dar, als sei Chruschtschows revisionistische Bevorzugung der Konsumgüterindustrie vor der Produktionsgüterindustrie die Erfüllung einer Forderung von unten gewesen. In Wahrheit war sie – wie im Polen Gomulkas – ein vorsätzliches Abgehen von einem jedem Parteischul-Kursanten bekannten Grundsatz sozialistischen Wirtschaftens, nämlich dem schnelleren Wachstum der Abteilung I (Produktionsgüterindustrie) gegenüber der Abteilung II (Konsumgüterindustrie), wobei er sich aus demagogischen Gründen auf die dadurch angeblich erfolgte Erfüllung der Wünsche der Bevölkerung berief.

Warum ein solches revisionistisches Handeln Chruschtschows – das ich in meiner Losurdo-Kritik an vielen weiteren Beispielen nachweise – „mit dem Begriff ‚Revisionismus’ nicht vernünftig zu fassen ist”, wie Du abschließend schreibst, dürfte den wenigsten Lesern einsichtig sein.

Mit freundlichem Gruß, Kurt Gossweiler, Berlin