Manfred Höfer:
Sozialismus – in den Farben Chinas?
Vor kurzem antwortete der ehemalige Vorsitzende der (früheren) Kommunistischen Partei Australiens, Bernie Taft auf die Frage: Was ist mit China? folgendes: „Ich bin mir über die Entwicklung nicht sicher. Wir hoffen, daß es gut läuft, aber wir wissen es nicht.“
Diese Unsicherheit, verbunden mit einer vagen Hoffnung, wie auch unterschiedliche, ja direkt gegensätzliches Meinungen in Bezug auf die Frage, wie die Entwicklung in der VR China zu beurteilen ist, scheint wohl nach wie vor charakteristisch für die links orientierte Szene zu sein. Auf einem Kolloquium sagte mir der Hauptreferent: China? – das befindet sich doch auf dem Rückmarsch zum Kapitalismus. (oder Richter: ist Land mit „restsozialistischer Orientierung“) Daneben bekommt man auch ganz krasse Verurteilungen zu hören oder zu lesen, wobei bezeichnenderweise linke Radikalinskis und „demokratische Sozialisten“ in schönster Harmonie übereinstimmen. Ich denke z.B. an von Örtzen, für den die chinesische Entwicklung nichts mit Sozialismus zu tun hat, oder an einen Artikel in der UZ (30.11.01), worin der Autor ein Horror-gemälde über die Zustände in China entwirft und messerscharf schließt, eine kommunistische Partei gäbe es dort nur noch dem Namen nach.
Erst in jüngerer Zeit sind Stimmen zu vernehmen, die sich um eine sachlich-positive Erklärung bemühen. Im Ganzen gesehen fällt jedoch auf, daß die China-Debatte im linken Diskurs, wenn überhaupt, eine ziemlich untergeordnete Rolle spielt. Nach 1989/90 war in der Regel von der tiefen Niederlage d e s Sozialismus und dem globalen Triumph des Kapitalismus die Rede, so als ob China damit gar nichts zu tun hätte. China? Das galt und gilt noch oft als eine Art Exotikum hinter den sieben Bergen, das man glatt ignorieren kann. Eine Ursache für diese merkwürdige Unterbelichtung und Vergeßlichkeit dürfte darin zu suchen sein, daß es seinerzeit wegen der Absage Chinas an die Sowjetversion des Sozialismus und der Wendung zu einem Reformkurs zu den bekannten Differenzen und sogar Feindseligkeiten zwischen China und der Sowjetunion bzw. dem sozialistischen Lager gekommen war. Mit der Verurteilung dieser Wendung als revisionistisch, ja als Verrat an den sozialistischen Prinzipien verschwand China damals bereits weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein der realsozialistischen Länder.
Was andererseits die BRD-Medien betrifft, scheinen sie von keinerlei Zweifel geplagt zu sein, wenn sie die VR nach wie vor als „Rotchina“ bzw. „kommunistisches“ China titulieren und sich auf eine gefilterte, einseitige und verfälschende Darstellung verlegen. Ein Fernsehkommentator bescheinigte jüngst China, es verfüge über „fast“ alle Merkmale eines „totalitaristischen“ Regimes. Die ganze provinzielle Großkotzigkeit dieser BRD dokumentierte sich erst kürzlich beim Staatsbesuch Jiangs, als dieses Ereignis unter ferner liefen und fast ausschließlich unter dem Stichwort „Menschenrechte“ nach der westlichen Lesart abgehandelt wurde.
Hier sei eine kleine Erinnerung eingeschaltet. Der Sieg der Volksrevolution in China und die Gründung der VR war seinerzeit von uns in der DDR mit Freude und großen Erwartungen aufgenommen worden. Es gab enge freundschaftliche Beziehungen und wir haben die dortige Entwicklung und die ersten Erfolge mit Spannung verfolgt. Unter Genossen kursierte damals die natürlich ironisch gemeinte Wendung: Wenn die chinesische Volksbefreiungsarmee hierher kommt, um der DDR bei der militärischen Verteidigung des Sozialismus zu helfen, wird die gesamte Nationale Volksarmee zum Kartoffelschälen abkommandiert.
Übrigens entsprach dies Verhältnis einer guten Tradition in der speziell deutschen sozia-listischen Bewegung. Bereits Marx hatte den um die Mitte des 19.Jh. erfolgten Aufbruch Chinas aus einem langen geschichtlichen Schlaf mit viel Interesse und großen Erwartungen beobachtet und vorausgesagt, daß die dort anstehende gesellschaftliche Umwälzung zu einem „chinesischen Sozialismus“ führen könnte, der die bedeutendsten Resultate für die Zivilisation zeitigen werde. Davon zeugt auch ein Büchlein, das 1955 im Dietz-Verlag erschienen war: Marx über China. Und Engels hatte mit geradezu prophetischer Fernsicht „auf die prachtvolle Ironie der Geschichte“ verwiesen: „nur China bleibt der kapitalistischen Produktion noch zu erobern, und indem sie es endlich erobert, macht sie sich selbst in ihrer Heimat unmöglich“. Später vermutete Kautsky eine Verlagerung des revolutionären Weltzentrums nach Osten. Schließlich setzte auch Lenin große Erwartungen in die Völker des Ostens, speziell Chinas, in der Voraussicht, daß der weitere revolutionäre Gang der Dinge letzten Endes durch die gewaltige Mehrheit der Erdbevölkerung entschieden werden wird.
Wenn heute von einer globalisierten Welt die Rede ist, und nach dem 11. Spt. 01 die politische Situation insbesondere durch das Handeln des US-Imperialismus in besorgniserregender Weise verschärft worden ist, dann besteht wohl auch für die linken Kräfte ein erhöhter Klärungsbedarf zum Thema China.
Die Faktenlage und ihr historischer Hintergrund
Halten wir uns zunächst an die schlichtren Fakten. Und das augenfälligste Faktum ist, daß China, mit 1,3 Md. Menschen bevölkerungsreichstes Land der Erde, seit einem knappen Vierteljahrhundert, mit der Wende zu einem Kurs der Reform und Öffnung (so die offizielle Bezeichnung), eine geradezu atemberaubende ökonomische Aufstiegs- und Modernisie-rungsentwicklung durchgemacht hat und noch weiter durchmacht, der auch die verschiedenen Krisenerscheinungen der Weltwirtschaft (z.B. Asienkrise) nichts anhaben konnten. Seit langen Jahren gehört damit China zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt. Selbst westliche Experten müssen einräumen, daß dieser Aufwärtstrend aller Voraussicht nach auch in der nächsten Zeit anhalten wird und daher das von Partei und Regierung gestellte Ziel, das Brutto-sozialprodukt bis zum Jahr 2010 zu verdoppeln, als durchaus realistisch eingeschätzt werden darf. Auf der Basis dieser Entwicklung hat sich der Lebensstandard der breiten Volksmassen deutlich verbessert, China ist weitgehend aus den Armutsstatistiken der UNO verschwunden. Das Staatswesen der Volksrepublik steht heute außen- und innenpolitisch gefestigter da denn je – und das in einer Welt, die an allen Ecken und Enden von Kriegen und sozialen und ökonomischen Krisenerscheinungen heimgesucht wird und in der nach wie vor Aberhunderte von Millionen Menschen im Elend oder am Rande des Elends dahinvegetieren. Man mag die chinesische Entwicklung aus linker Sicht beurteilen wie man will, als objektiver Beobachter kommt man nicht umhin, ihre Ergebnisse als eine große historische Leistung anzuerkennen. Der eigentliche springende Punkt aber ist, daß wir es dabei immer noch mit derselben Volksrepublik zu tun haben, die nach dem Sieg der chinesischen Volksrevolution 1949 gegründet wurde, geführt von einer kommunistischen Partei, heute über 60 Mio Mitglieder zählend, die sich nach wie vor zum Sozialismus bekennt und deren Politik von der großen Masse der Bevölkerung nicht nur schlechthin toleriert, sondern unterstützt und/oder gebilligt wird.
Zur historischen Einordnung
Wenn wir versuchen wollten, diesen Tatbestand in einen übergreifenden historischen Zusam-menhang zu stellen, muß an ein weiteres erinnert werden: Die maßgebliche Kraft und Initiatorin dieser gesamten Entwicklung war und ist nach wie vor die Kommunistische Partei Chinas. Sie wurde 1921 gegründet, ist also ein Kind und Abkömmling der III. Internationale und insoweit ein Folgeprodukt der russischen Oktoberrevolution. Man kann heute mit aller Bestimmtheit konstatieren: ohne die Oktoberrevolution und ohne die Unterstützung der Sowjetunion hätte es keinen Sieg der chinesischen Revolution gegeben. So betrachtet ist das heutige China nichts anderes als ein Produkt und eine Fortsetzungsveranstaltung der großen proletarischen Revolution des 20. Jahrhunderts. Andernfalls hätten wir es heute vielleicht mit einem China zu tun, das ähnlich wie Indien unter der Fuchtel des Weltkapitals dahinvegetieren würde.
Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Reformwende
Wie gesagt – der Knack- und Angelpunkt oder das magische Datum ist und bleibt die Wende zum Kurs der Reform und Öffnung in der 2. Hälfte der 70er Jahre. Für ihr Verständnis ist ein wenigstens kurzer Blick auf die unmittelbare Vorgeschichte nötig.
Nach dem Sieg der Revolution und der Gründung der Volksrepublik orientierte man sich zunächst am sowjetischen Vorbild. In enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion wurde die sozialökonomische Umgestaltung und insbesondere die Industrialisierung des Landes in Gang gesetzt – mit beachtlichen Anfangserfolgen. Dennoch traten dann Probleme und Schwierig-keiten zutage, die erste Zweifel erweckten, ob das sowjetische Modell wirklich auf die historisch und sozial ganz andersartigen Bedingungen in China anwendbar ist. Jedenfalls erfüllten sich nicht die Erwartungen auf einen zügigen Modernisierungsprozeß, was dann Mao Tse Tung zu dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958) veranlaßte, um sozusagen auf eigene Faust aus der Rückständigkeit herauszukommen. Der Versuch endete bekanntlich mit einem totalen Fiasko, es kam zu Hungersnöten und wirtschaftlichen Rückschlägen. Besonnene Kräfte um den damaligen Präsidenten Liu Tschao Tschi versuchten dann, ebenfalls aber unter Anlehnung an das sowje-tische Vorbild, zu einer Konsolidierung der Lage zu kommen. Die Gruppe um Mao Tse Tung antwortete darauf mit dem Vorwurf des Revisionismus und löste dann eine Gegenbewegung aus, die sich zu den Ereignissen auswuchs, die unter dem Namen der „Kulturrevolution“ be-kannt sind. Über zehn Jahre (1966–1976) herrschten chaotische Verhältnisse, die zwar einerseits konservative Traditionen und Strukturen, die nach wie vor auf dem Lande lasteten, hinwegfegten, zugleich aber das Land ökonomisch und kulturell empfindlich zurückwarfen und es in eine Sackgasse führten.
Nach einem Vierteljahrhundert der verschiedensten Versuche, Bewegungen und Gegenbewe-gungen, einen Weg zum Sozialismus zu gehen, der sich an den vorherrschenden, vom Sowjet-modell geprägten Vorstellungen orientiert hatte, war man an einem Punkt angelangt, der sich zu einer unausweichlichen Alternative zugespitzt hatte: entweder man fand einen rettenden Ausweg aus der hoffnungslos verfahrenen Situation – oder man riskierte den Zusammenbruch des sozialistischen Projekts überhaupt. Denn die Geduld des Volkes ging zu Ende, es war nur noch eine Frage der Zeit, daß innere und äußere konterrevolutionäre Kräfte die allgemeinen Wirren und die Schwächung und Lähmung der politischen Ordnung ausgenutzt hätten, um die VR zu liquidieren und den Weg in die kapitalistische Restauration frei zu machen. Kurzum – bei Strafe des Untergangs mußte eine Lösung gefunden werden.
Wir können konstatieren: bereits 15 Jahre vor dem realsozialistischen crash war China genau an dem gleichen Punkt angekommen wie 1989/90 die realsozialistischen Länder. Das ganze sozialistische Projekt stand zur Disposition. Es war also der unerbittliche Druck der Umstände, der die chinesische Partei zu einer Radikaloperation zwang, denn darum handelte es sich bei dem Schwenk zum Kurs der „Reform und Öffnung“. Er mußte der Führung um Deng als der einzig verbliebene Ausweg erscheinen, sozusagen als die ultima ratio der Rettung des sozia-listischen Projekts. Und was sein Verlust für China bedeutet hätte, kann man heute erst voll an der Situation der Nachfolgestaaten der SU bzw. des Realsozialismus ermessen.
Zu Inhalt und Wesen des Kurses der Reform und Öffnung
Wenn man ideologische Verbrämungen beiseite läßt, läßt sich der harte Kern der Reformwende in der Kurzformel ausdrücken: Wiederherstellung bzw. Wiederzulassung des Kapitalismus. So hat das die Partei natürlich nicht verkündet, aber die Sache läuft darauf hinaus, wie wir heute sehen können. Also doch der schon erwähnte „Rückmarsch“ zum Kapitalismus? Im Vergleich zum verkündeten sozialistischen Ziel – zweifellos ein Rückzug. Hier gerät man aber ins Stutzen, denn als gebrannte Kinder wissen wir inzwischen, was Rückzug zum Kapitalismus bedeutet. Der Vergleich der Resultate des Rückzugs hier und dort könnte nicht gegensätzlicher ausfallen: Hier – Zerschlagung des realsozialistischen Staatswesens, Entmachtung der Partei, ein kaum für möglich gehaltener dramatischer Niedergang der Wirtschaft ohne absehbare Aussicht auf eine nachhaltige Wende, eine drastische Verarmung der Masse der Bevölkerung; anstelle der sozia-listischen „Supermacht“, die den USA militärisch paroli bieten konnte, sehen wir ein Rußland und Nachfolgestaaten, die faktisch aus der großen Weltpolitik abgemeldet und in ökonomische Abhängigkeit vom westlichen Finanzkapital und seinen globalen Institutionen geraten sind. Kurzum – der Realsozialismus ist gänzlich von der Weltbühne verschwunden. Und dort? – ein China, das nicht nur als einzig verbliebene sozialistische Großmacht dem Sog des realsozia-listischen Zusammenbruchs entgangen ist, sondern heute in jeder Hinsicht – ökonomisch, sozial und politisch – besser dasteht als je zuvor. Grob gesagt – hier die Totalpleite, dort – eine einzige Erfolgsstory. Und dies, obwohl man sich oder vielleicht gerade weil man sich zum Kapitalismus zurückgezogen hat? Mit der chinesischen Art von Rückmarsch muß es also offensichtlich eine besondere Bewandtnis haben. Und in der Tat war von Anfang an der Kurs der Reform und Öffnung nicht gedacht als Rückmarsch zum Kapitalismus als Gesellschaftssystem, sondern als ein von der Partei zu führendes und kontrollierendes Projekt der Zulassung und Ausnutzung des Kapitalismus als Wirtschaftssystem, unter Beibehaltung der politisch-staatlichen Ordnung und der ihr entsprechenden Machtverhältnisse. Alles andere hätte unvermeidlich die Selbstent-machtung der Partei und die Selbstdestruktion des Staates der Volksrepublik zur Folge gehabt.
[Übrigens als Beleg dafür, daß es sich bei der Entschlossenheit der Partei, das politische System zu erhalten, nicht um eine unverbindliche bloße Absichtserklärung gehandelt hat, hat einige Jahre später die Niederschlagung der Studentenrebellion geliefert, denn deren Hintermännern ging es ja genau um den Sturz der Volksrepublik.]
Bei den Chinesen selbst läuft das jetzige Wirtschaftssystem inzwischen unter dem Titel „Sozia-listische Marktwirtschaft“. Aber wir wollen uns hier nicht an den Namen, sondern an die Sache halten, wie sie politökonomisch zu definieren ist, also: kapitalistische Warenwirtschaft.
Staatskapitalismus der außergewöhnlichen Art
Dieses Wirtschaftssystem nun, zusammengenommen mit einer sozialistischen Staatsmacht – zweifellos ein seltsames, auf den ersten Blick irritierendes Konstrukt, das bisher jedenfalls noch in keinem marxistischen Lehrbuch verzeichnet ist. Denn eine Kombination von sozialistischem Staat einerseits und kapitalistischer Wirtschaft andererseits kann doch eigentlich nur den logischen Widersinn und damit die praktische Unmöglichkeit eines „kapitalistischen Sozia-lismus“ (oder umgekehrt) ergeben. – Oder dient hier das Wort Sozialismus den chinesischen Führern doch nur als Feigenblatt, hinter dem sich eine schleichende Restauration des Kapi-talismus vollzieht? Bevor man ein derart schwerwiegendes Urteil fällt, muß dieser Verdacht sorgfältig geprüft werden. Europäischen Sozialisten, die gerade eine verheerende und dazu noch selbstverschuldete Niederlage einstecken mußten, stünde es schlecht an, hier voreilig über eine außereuropäische Partei und deren Projekt den Stab zu brechen. Zumal dieses Konstrukt seit 25 Jahren wie geschmiert funktioniert und den ihm zugedachten praktischen Zweck, China aus der Rückständigkeit und Halbzivilisation herauszuhelfen, durchaus erfüllt. Wie ist dieses Mysterium zu erklären? Vielleicht bietet uns die Geschichte einen Fingerzeig?
Dazu müssen wir bis in die Zeit des 1. Weltkrieges zurückgehen. Seinerzeit war im wilhelminischen Deutschland aus den Kriegserfordernissen heraus das sog. WUMBA ein-gerichtet worden, d.h. Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, das über außerordentliche Voll-machten bei der Koordinierung und Ausrichtung der wirtschaftlichen Aktivitäten auf die Erfordernisse des Krieges verfügte, also eine Art staatlicher Planungs- und Regulierungs-behörde. Damalige Beobachter, darunter der bekannte sozialkritische englische Schriftsteller H.G. Wells sprachen daher von der Einführung (jetzt wörtlich) „einer Art sozialistischer Staatswirtschaft“ (Weltgeschichte, 1928). Und dies, obwohl doch die Wirtschaft dort nach wie vor auf kapitalistischen Eigentumsverhältnissen beruhte. Zu den Beobachtern dieses Vorganges gehörte übrigens auch Lenin, der damals seine Studien über den Imperialismus betrieb. Aus gegebenen Anlaß stellte sich später Lenin die Frage: wenn das kapitalistische Wirtschaftssystem auch unter der Direktive einer Regulationsbehörde des kapitalistischen Staates funktioniert, (andernfalls hätte Deutschland den Krieg gar nicht so lange durchhalten können), dann müßte die Chose doch auch unter sozialistischen Vorzeichen laufen, d.h. wenn ich den kapitalistischen Staat durch einen sozialistischen Staat ersetze. Gewiß, im ersten Fall handelt es sich um den stinknormalen Staatskapitalismus, d.h. der kapitalistische Staat greift mit administrativen Mitteln im Interesse der herrschenden Klasse in die kapitalistische Wirtschaft ein, im zweiten Fall würde es sich um einen Staatskapitalismus der „außergewöhnlichen Art“ handeln, denn diesmal wäre es der sozialistische Staat, der im Interesse und zum Nutzen des Gemeinwesens in die Wirtschaft eingreift. Das praktische Ergebnis der Leninschen Überlegung kennen wir aus der NÖP-Periode der Sowjetunion, eben als eine Form von Staatskapitalismus der außer-gewöhnlichen Art. Und wir wissen, daß dieses System dort erfolgreich funktionierte, bis es dann Stalin liquidiert hat.
Vielleicht hätten wir es hier also mit dem gesuchten historischen Präzedenzfall zu tun. Denn bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, daß das chinesische Reformkonstrukt in seinen grundlegenden Zügen mit dem NÖP-Modell übereinstimmt, diesmal in den Farben Chinas. Das Interessante daran ist, daß die Chinesen anscheinend ohne ausdrücklichen und bewußten Rückgriff auf das Leninsche Konzept auf ihren Reformausweg verfallen sind, also das Fahrrad gewissermaßen noch einmal erfunden haben. Wie dem auch sei: hält man sich an die wesent-lichen Fakten, kann das chinesische wirtschaftliche Reformsystem nach dem Vorgang der Lenin-sche NÖP als außergewöhnlicher Staatkapitalismus definiert werden.
[Dieser Zusammenhang könnt übrigens darauf hindeuten, daß es sich bei dieser Erfindung nicht einfach um einen chinesischen Sonderweg handelt, sondern womöglich um die endlich gefundene, für alle Länder nötige Übergangsform auf dem Wege vom Kapitalismus zum Sozialismus.]
Die Öffnung zum Weltmarkt
Wenn man A sagt, muß man auch B sagen, die Reform nach innen setzte notwendig die Öffnung nach außen, d.h. die Integration der chinesischen Wirtschaft in den kapitalistisch dominierten Weltmarkt voraus. Die Logik der Chinesen war hier sehr einfach und überzeugend: allein können wir uns nicht aus dem Sumpf ziehen, dazu benötigen wir die fortgeschrittenen wirt-schaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Westens, und die sind nun mal nur in Form von Kapital und nicht gebührenfrei zu erlangen. Übrigens handelten die Chinesen hierbei nach einer Marxschen Einsicht, die lange Zeit vergessen oder ignoriert worden war: bei der Bewältigung des revolutionären Umwälzungsprozesses ist die sozialistische Bewegung genötigt, auf die „Gesamtmittel der alten Welt“ zurückzugreifen, etwas anderes steht nicht zu Verfügung, wenn man nicht Gefahr laufen will, das sozialistische Projekt zu einem doktrinären Experiment entarten zu lassen.
[Die ganze bisherige Geschichte des Sozialismus liefert den Beweis dafür, daß ohne Rückgriff auf die kapitalistische Weltwirtschaft ein aus der Halbzivilisation und der ökonomischen Rück-ständigkeit kommendes Land die Modernisierungsaufgaben, die für den Fortschritt des Landes und für die Schaffung der materiellen Voraussetzungen des Sozialismus notwendig sind, nicht lösen kann.]
Es sind also zwei Seiten nötig, um die Sache in Gang zu bringen, die sozialistische und die kapitalistische Seite. Für die kapitalistische Seite ist dies natürlich ein Kompromiß bzw. Zugeständnis, auf das man sich nur einläßt, wenn es im eigenen Interesse liegt. Dieses Interesse war damals von zweierlei Art: erstens galt es, die Sowjetunion als Wurzel des Übels („Reich des Bösen“) auszuschalten, und der Westen handelte damals nach der Devise: meines Feindes Feind ist mein Freund, verbunden mit der festen Erwartung, China über die Rekapitalisierung und Reprivatisierung der Wirtschaft vollends in das bürgerlich-kapitalistische Lager herüber-zuziehen, und zweitens wegen der gewaltigen Profitaussichten, die sich mit dem Eindringen in den chinesischen Riesenmarkt eröffnen würden. Die damalige Eigenart der weltpolitischen Kon-stellation liefert uns also einen ausgesprochenen Fall von Ironie der Geschichte: Der Welt-imperialismus höchstpersönlich fühlte sich bemüßigt, China aus der Klemme zu ziehen und damit vor dem gleichen Schicksal zu retten, das inzwischen das realsozialistische Lager ereilt hat. Unterdes sind die Globalstrategen des Imperialismus wohl einigermaßen verunsichert, ob ihre Rechnung aufgeht, obwohl sie bis heute die Hoffnung auf den Zusammenbruch des „kommunistischen Regimes“ nicht aufgegeben haben. In der Voraussicht, daß sich China in zehn oder zwanzig Jahren zur „Supermacht“ und zum großen Gegenspieler der USA gemausert haben könnte, haben sie sich vorerst auf eine Art Doppelstrategie verlegt: eindämmen (containment) und/oder einbinden (engagement). Frau Däubler-Gmelin (SPD) dazu: wir setzen auf Wandel. (sic!) Unter Bush dagegen und nach dem 11. September scheint sich dort eher die Eindämmungsstrategie durchzusetzen, nötigenfalls, wie wir jetzt aus dem Pentagon erfahren haben, unter Androhung des atomaren Knüppels. Andererseits hat aber das westliche Groß- und Finanzkapital inzwischen gewaltige Dollarbeträge in China investiert, die man natürlich im Konfliktfall abschreiben müßte. Und schließlich bleiben die westlichen Grußunternehmen und Kapitaleigner auch deshalb besonders scharf auf den chinesischen Markt, gerade weil er ein sozialistisch kontrollierter Markt ist. Markt setzt ein zahlungskräftiges Publikum und einen kräftig investierenden Staat voraus, und den findet man nicht in Afrika oder Indien, sondern dort, wo modernisiert wird, wo die Infrastruktur entwickelt und wo die Bevölkerung an den Früchten des Wirtschaftsbooms beteiligt wird, also gerade dort, wo ein sozialistischer Staat über die Resolution verfügt, die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht dem Profit- und Verwertungs-interesse, sondern den Interessen des Gemeinwesens unterzuordnen.
[An dieser Stelle ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Wenn es richtig ist, daß das chinesische Reformprojekt einen Kompromiß von beiden Seiten darstellt, dann ist auch klar, daß es sich insofern um einen ungleichen Kompromiß handelt, als die kapitalistisch-imperialistische Seite ökonomisch wie militärisch nach wie vor haushoch überlegen ist. Insofern gleicht die Situation Chinas der der jungen Sowjetmacht, als diese völlig von kapitalistischen Ländern eingekreist war. Die westlichen Globalstrategen haben in China längst den neuen Feind erkannt, und wenn man hinter den Propagandalärm über den Kampf gegen den Terrorismus schaut, scheint sich da eine neue Auflage von Systemauseinandersetzung vorzubereiten, diesmal gegen China. Wie ernst hier die Dinge liegen, geht aus einer Erklärung der republikanischen Regierungspartei hervor, in der ausdrücklich die „Hauptfeinde“ aufgelistet werden, in der Reihenfolge: China, die Farc, Castro, Chavez. China gerät also unter wachsenden Druck des Imperialismus und hat daher allen Grund, sich politisch zurückzuhalten, zu lavieren, dem Gegner möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und es unter allen Umständen zu vermeiden, sich in die Falle einer erneuten Systemkonfrontation locken zu lassen.]
Der Kompromißcharakter des chinesischen Projekts
Offenbar handelt es sich also beim chinesischen Reformkonstrukt um einen von den historischen Umständen selbst vorgeschriebenen Kompromiß. [Übrigens galt das seinerzeit auch schon für die NÖP] Aber Kompromiß bedeutet hier noch mehr als nur einen Tribut an den Weltkapi-talismus zu entrichten. Auch der Kapitalismus unter der Kontrolle einer sozialistischen Staats-macht bleibt Kapitalismus mit all seinen Mißständen, die uns heute tagtäglich vor Augen geführt werden. Gäbe es einen davon gesäuberten Kapitalismus, bräuchte man nicht für den Sozialismus zu kämpfen. Es handelt sich also um einen sehr ernsten und schwerwiegenden Kompromiß, denn er kann seine ihm zugedachte Aufgabe, (d.h. die Gesellschaft über einen Umweg dem sozialistischen Ziel näher zu bringen), nur dann erfüllen, wenn alle mit ihm verbundenen Konsequenzen gezogen werden. Und das bedeutet: ein bißchen Kapitalismus reicht nicht aus. Der Realsozialismus hat es mit einem mixtum compositum aus Plan- und Marktwirtschaft versucht – und ist damit gescheitert. Der Kapitalismus muß also so zugelassen werden, daß er als Wirtschaftssystem mit den ihm innewohnenden Prinzipien und Regularien ganz normal funktionieren kann. Unterhalb dieser Schwelle läuft es nicht. Und daraus folgt: Wo kapitalistisch produziert wird, gibt es unvermeidlich Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, soziale Differenzierung in reich und arm, Korruption, Bürokratie, Kriminalität und andere Übel. Und das sehen wir auch im heutigen China, wer will das bestreiten. Vielleicht könnte man den hier vorliegenden Kom-promiß mit einer Art Teufelspakt vergleichen. In Goethes Drama ist es bekanntlich Faust, der am Ende den Teufel überlistet und seine Seele rettet. Ob das auch den Chinesen gelingt? Der Realsozialismus ist dieses Risiko gar nicht erst eingegangen und trotzdem – oder gerade deswegen ? – gescheitert. Vom sozialistischen Standpunkt aus ließen sich derartige Zustände, wenn überhaupt, nur dann rechtfertigen, wenn man anerkennt, daß wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, die ja noch keineswegs eine sozialistische Gesellschaft ist, sondern sich erst noch auf dem Wege dahin befindet. Und die weitere Frage wäre dann, welche Kriterien stehen zur Verfügung, an denen zu ermessen ist, ob sie sich auch tatsächlich auf diesem Wege befindet, sich in dieser Richtung bewegt und nicht ganz woandershin abdriftet. Bloße Absichtserklärun-gen reichen nicht aus.
Die erste und elementare Bedingung ist natürlich die Sicherung und Erhaltung der politisch-staatlichen Ordnung mit dem Machtmonopol der KP. Auf Dauer ist das nur gewährleistet bei einer aufsteigenden ökonomischen Entwicklung, an deren Resultaten die Masse der Bevöl-kerung beteiligt ist. Und dazu gehört dann auch, die auftretenden Mißstände und Härten in Gren-zen zu halten und Fehlentwicklungen zu bekämpfen.
Bisher ist die chinesische Führung hierbei mit der Methode von „trial and error“ (Versuch und Irrtum) ganz gut gefahren und hat jedenfalls alle Prophezeiungen über einen bevorstehenden Zusammenbruch oder ein Auseinanderfallen des chinesischen Staates ad absurdum geführt.
Was die Ökonomie betrifft, gilt immer noch das Primat der Politik. Sowohl mit der Nationa-lisierung des Grund und Bodens, der Beibehaltung und Entwicklung des Staatseigentums an den großen Produktions- und Kommunikationsmitteln sowie der Hoheit über das Bank- und Finanzwesen und noch weiterer staatlicher Instrumente verfügt diese Politik über die nötigen Hebel und Steuerungsinstrumentarien, um die Wirtschaftentwicklung auch tatsächlich unter Kontrolle zu halten, Konflikte zu entschärfen und soziale Härten über entsprechende soziale Sicherungssysteme abzufedern. Was hier durch den Staat und die Partei zu leisten ist, ist durchaus auch als ein Stück Klassenkampf zu verstehen, der aber jetzt, wie das schon seinerzeit Marx der Kommune zuschrieb, in seinen rationellen und humanen Formen zu bewältigen ist. Das Risiko, vom Kurs abzutriften, bleibt, denn es handelt sich um einen Weg in historisches Neuland, der mit enormen Schwierigkeiten gepflastert ist. Zugleich könnte man aber sagen, daß die chinesischen Führer zum Erfolg verurteilt sind, denn das Abweichen von diesem Kurs würde China in ein Chaos und einen Untergang stürzen, um ein vielfaches schlimmer als der realsozialistische Untergang.
Nehmen wir alle Züge und Merkmale der gegebenen chinesischen Gesellschaft zusammen, erhalten wir das Bild einer Gesellschaft, die sich uns als ein in progressiver, aufsteigender Linie befindlicher, ökonomisch auf Staatskapitalismus begründeter Sozialstaat darstellt, der durchaus mit dem Sozialstaat vergleichbar ist, den wir aus der alten BRD kennen. Aber der Unterschied, ja Gegensatz ist nicht zu übersehen: hier – die alttraditionellen bürgerlich-kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse, dort – ein sozialistisches Staatswesen, das unter Führung der KP nicht irgendwelche Sonderinteressen, sondern wirklich das Gemeinwesen repräsentiert. Hier – ein Sozialstaat, der sich im Krebsgang und in der Demontage befindet, nachdem er für die Herrschenden seinen Zweck erfüllt hat; dort ein Gemeinwesen in aufsteigender Linie, auf das Ziel „Sozialismus“ orientiert. Was hat es mit dieser neuartigen Erscheinung auf sich und wie wäre sie in den historischen Gang der Dinge einzuordnen?
Der historische Platz des Sozialstaates neuen Typs
Die klassische Sozialismustheorie gibt uns bekanntlich auf die Frage, wie gelange ich vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus eine höchst einfaches Schema vor:
1. (Ausgangspunkt, Position) Kapitalismus;
2. (Negation) Übergangsperiode („Zwischenstadium“);
3. (Negation der Negation) Kommunismus, 1. Stufe (Sozialismus);
4. (Vollendung des Zyklus) Kommunismus, 2. Stufe.
Was Kapitalismus ist, wissen wir, was Kommunismus ist, haben Marx und Engels glasklar de-finiert. Das eigentliche Problem und die eigentliche Schwierigkeit bietet dagegen der Übergang von der einen zur anderen Formation dar. Nur soviel steht fest und hat sich historisch bestätigt: erstens – es geht nicht ohne Übergangsperiode, ein unmittelbarer Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ist nicht möglich; und zweitens handelt es sich bei diesem Zwischen-stadium offenbar nicht um ein kurzes Zwischenspiel, wie man früher angenommen hatte, sondern um eine historisch ausgedehnte Epoche, die selbst wieder in verschiedene Stufen gegliedert sein dürfte. Wenn die Chinesen für ihr Land einen Zeitraum von 50 Jahren kalku-lieren, um sich an die Schwelle des Sozialismus heranzuarbeiten, und ein weiters halbes Jahr-hundert bis zum Eintritt in den vollen Sozialismus, scheint dies dem tatsächlichen Geschichts-rhythmus viel eher angemessen zu sein als unsere seinerzeitigen Vorstellungen. Denn schließ-lich würde es sich nicht um einen Alleingang der Chinesen handeln, sondern um den Weg, den die globalisierte Weltgesellschaft wird einschlagen müssen, jedenfalls dann, wenn sie überleben will.
Wenn wir es aber offensichtlich mit einer länger andauernden, über eine ganze historische Ära sich hinziehenden Übergangsprozeß zu tun bekommen, stellt sich die Frage nach dem Charakter einer derartigen Übergangsgesellschaft, als ein sozusagen relativ selbständiges Gebilde, worin Elemente des Alten und Elemente des Neuen sich miteinander kombinieren. Sie ist bereits aus dem Gleis der alten, kapitalistischen Gesellschaft herausgesprungen, aber noch längst nicht bei der neuen, sozialistischen Gesellschaft angekommen.
Vielleicht hat die Geschichte mit dem Sozialstaat, der sich ökonomisch auf den Staats-kapitalismus abstützt und politisch auf Sozialismus ausgerichtet ist, jenen für eine erste Weg-strecke zum Ziel angemessenen Typ von Übergangsgesellschaft gefunden. Vieles spricht dafür, daß wir in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft einen solchen Übergangstyp vor uns haben, der das Zeug in sich hat, eine gegenüber dem Kapitalismus höhere Stufe der Zivilisation hervorzubringen. Nachdem das Projekt seit fast 25 Jahren mit einem geradezu frappierenden Erfolg läuft, ist es jedenfalls bereits aus dem Versuchsstadium herausgetreten und hat seine Lebensfähigkeit bewiesen. Und insofern könnte China zukünftig vielleicht sogar eine Vorreiter-rolle zufallen – auf dem Wege der Menschheit zu einer solidarischen Weltgemeinschaft.
Ausblick
Ein Riese hat sich aus der Tiefe der Geschichte heraus und von langer Hand in Bewegung ge-setzt, und es sieht nicht so aus, als ob ihn irgend jemand aufhalten könnte. Es ist ein rauher und grobklotziger Vorgang, mit Ecken und Kanten, wie er für ein Land, das aus der Halbzivilisation kommt, gar nicht anders erwartet werden kann. Eine kritische Überprüfung des Ganges der Dinge nach allen Regeln der klassischen Sozialismustheorie erlaubt durchaus die Feststellung, daß dieser Riese nach wie vor Kurs auf Sozialismus hält. Ob er allen Kompromiß- und Rück-zugsmanövern und allen möglichen Hindernissen zum Trotz, diesen Kurs und diese sozia-listische Ausrichtung auch zukünftig wird halten können, läßt sich heute nicht voraussagen. Solange es bei diesem Kurs bleibt, bleibt die VR China die große Hoffnung und eine Reserve des Weltsozialismus.
Dr. Manfred Höfer,
Leipzig