Am 24. August werden wir in Berlin sein (siehe Aufruf auf der vorigen Seite). Wir haben nämlich eine ganz wundervolle Veranstaltung vor: „Revisionismus – der Totengräber des Sozialismus”. Es ist uns gelungen, Kurt Gossweiler und Harpal Brar an einem Tage zusammenzubringen und sie für eine Lesung zu diesem Thema zu gewinnen.
Redaktionsnotitz 07/02
Kurt Gossweiler: Werter Genosse Karuscheit
Kurt Gossweiler:
Werter Genosse Karuscheit
Zur vorstehenden Zuschrift von Heiner Karuscheit
Deine Stellungnahme zu meiner Losurdo-Kritik habe ich erhalten und mit Interesse zur Kenntnis genommen. Gefreut hat mich daran der sachliche Ton, der für mich – nach Ausführungen von Dir vor einigen Jahren in den Weißenseer Blättern – nicht selbstverständlich war.
Heiner Karuscheit: Losurdo, Gossweiler und das System der Arbeit in der Sowjetunion
Heiner Karuscheit:
Losurdo, Gossweiler und das System
der Arbeit in der Sowjetunion
Zu Offensiv 10/2001; „Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der Geschichte” von Kurt Gossweiler
Die junge welt hat vom 15.-23.03.2000 eine Studie des italienischen Kommunisten Domenico Losurdo über den Untergang des Sozialismus abgedruckt (“Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass”), die auch als Flugschrift 01 der Marxistischen Blätter erhältlich ist (Neue Impulse Verlag, Hoffnungstr.18, 45127 Essen). Hierzu hat der Historiker Kurt Gossweiler “Kritische Anmerkungen” geschrieben, die sich in Ausgabe 24 der Zeitschrift Streitbarer Materialismus finden (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung, Tulbeckstr.4, 80339 München; Nachdruck in offensiv 10/2001: Frank Flegel, Berckhusenstr.13, 30625 Hannover).
Heiner Karuscheit: Losurdo, Gossweiler und das System der Arbeit in der Sowjetunion weiterlesen →
Vera Butler: Hegemonialmacht Amerika. Antwort auf Kurt Gossweilers Anmerkungen zu meinem Essay „Hegemonismus”
Vera Butler:
Hegemonialmacht Amerika. Antwort auf Kurt Gossweilers Anmerkungen zu meinem Essay „Hegemonismus”
Offensiv Januar-Feburar 2002, S. 36-38
Lieber Kurt, ich bin „offen-siv” dankbar, dass dort die Diskussion über die Imperialismustheorie geführt wird und besonders dafür, dass Deine Anmerkungen zu meinem Essay über den „Hegemonismus” gebracht wurden. Ich richte mich in meiner Antwort nach Deinen Punkten und Fragen, wie sie in „offen-siv” erschienen sind. Ich hatte meine deutsche Übersetzung des englischen Originals etwas gekürzt, und eine Reihe der von Dir angeschnittenen Fragen hatte ich dort behandelt.
Redaktionsnotitz 06/02
Wir müssen dies Heft mit der schon fast „alten Leier” vom Platzmangel beginnen. Wir mussten entscheiden, was jetzt publiziert werden soll und was warten muss. So waren beispielsweise gute Genossen im Irak, ihren Bericht und die dazugehörige Dokumente können wir aber erst in der nächsten Heft bringen. Ebenso haben wir eine Stellungnahme zu Kurt Gossweilers Losurdo-Heft von Vera Butler aus Australien zurückgestellt, ein interessantes Dokument von Erwin Erfurth, eine Stellungnahme der Kommunistischen Partei Israels zum Palästinakonflikt, konkretere Berichterstattung über die neuesten Kniefälle der PDS-Führung (sich bei Bush entschuldigen! Manchmal ist es kaum zu glauben, obwohl wir diesen korrupten Revisionisten ja sowieso schon alles zutrauten, aber das….), eine Arbeit zur Programmdiskussion in der DKP und so weiter. Das alles also später. Ebenso ist kein Platz für die Spendenliste. Wir bringen also im nächsten Heft einen Überblick über die Spendentätigkeit von Anfang April bis Ende Juli.
Stalins Beiträge zur Theorie der nationalen Frage
Stalin als Theoretiker des Marxismus-Leninismus
Stalins Beiträge zur Theorie der nationalen Frage
Zum 50. Todestag Stalins am 5. März 2003
Von Ulrich Huar
Ulrich Huar: Zur Methodik der Aufsätze
Ulrich Huar: Stalins Beiträge zur Theorie der nationalen Frage
I. Von 1904 bis zur Oktoberrevolution *
II. Von der Oktoberrevolution bis März 1953
Anmerkungen (Quellennachweise)
Anti-Stalin-Biographien und -Aufsätze sind in ihrer Anzahl kaum noch überschaubar. Besonders in der „Glasnost”-Periode Gorbatschows schossen Anti-Stalin-Publikationen aus dem „geläuterten” Boden der Erneuerer wie die Pilze nach einem warmen Sommerregen. Das ist auch verständlich, benötigten doch Gorbatschow und seine Mannschaft eine „wissenschaftlich” begründete Legitimation für ihren historisch beispiellosen Verrat an der internationalen Arbeiterbewegung und für die Zerstörung der Sowjetunion. Wider Willen und Absicht „bewiesen” sie nun das Gegenteil von dem, was sie eigentlich beweisen wollten.
Wenn die Zerstörung der Sowjetunion nur durch eine ideologische Täuschung, durch ideologischen Betrug der Werktätigen, der Erzeugung einer gezielten Stalin-Phobie, zu erreichen war, dann folgt daraus, daß die Sowjetunion wesentlich durch die fünfzigjährige theoretische und praktisch-politische Tätigkeit Stalins gestaltet wurde. Da bekanntlich die Praxis das Kriterium der Theorie ist, so folgt daraus bezüglich der Tätigkeit Stalins sehr einfach: Stalin hinterließ bei seinem Tode vor einem halben Jahrhundert die Sowjetunion als eine stabile Weltmacht, ein in der Entstehung befindliches sozialistisches Weltsystem, das die revolutionäre Zerstörung des klassischen Kolonialsystems ermöglichte. In internationalistischer Solidarität hat die Sowjetunion die antiimperialistischen national-revolutionären Befreiungsbewegungen unterstützt, wenn nötig, auch militärisch. Von welthistorischer Bedeutung war der Beitrag der von Stalin geführten Sowjetunion zur Zerschlagung des Hitlerfaschismus und der japanischen Kwantung-Armee in der Mandschurei, die den Sieg der chinesischen Volksrevolution maßgeblich unterstützte, wenn nicht sogar erst ermöglicht hat.
Die Zerstörung der Sowjetunion und der ost- und mitteleuropäischen sozialistischen Staaten war den Werktätigen in der Sowjetunion und international nur zu vermitteln, wenn man Stalin als Verbrecher kriminalisierte.
Wie dies zu bewerkstelligen sei, erklärte Dulles bereits 1945: „Das menschliche Gehirn, das Bewußtsein der Menschen kann verändert werden. Nachdem wir dort Chaos gesät haben, werden wir ihnen unmerklich falsche Werte unterschieben und sie zwingen an diese Werte zu glauben. Wie? Wir werden Gleichgesinnte, unsere Verbündete in Rußland selbst finden.” 1) Diese Verbündete fanden Dulles und seine Nachfolger in Chruschtschow und Gorbatschow sowie deren Anhang, die sowohl das ökonomische „Chaos” schafften als auch die „falschen Werte” als „Theorie” und Politik der KPdSU verbreiteten.
Der Antistalinismus nahm dabei die Schlüsselstellung ein. Die gesamte nationale und internationale Konterrevolution fand im Anti-Stalin-Symdrom ihre gemeinsame Flagge, unter der sie marschierten, wenn auch die einzelnen Kolonnen der Konterrevolution sich in Nuancen unterschieden, in sich differenziert waren, um unterschiedliche soziale Schichten auch differenziert ansprechen und „überzeugen” zu können. Das gilt natürlich auch für die heutigen Stalin-Killer.
Neben den bürgerlichen Historikern und Publizisten, für die die Stalin-Verunglimpfung aus ihrem bürgerlichen Klassenbewußtsein heraus durchaus verständlich ist, nehmen die Trotzkisten als geschworene Feinde der Sowjetmacht eine „führende” Stellung ein, wie Isaak Deutscher, Boris Souvarine, Ernest Mandel 2) und andere. Natürlich, einige Zugeständnisse an Stalin werden eingeräumt, einfach darum, weil sich sonst die Lügen nicht verkaufen lassen. Der Schein „wissenschaftlicher Objektivität” muß gewahrt bleiben. Eine besondere Stellung im Chor der Stalin-Verleumder nimmt der russische Mystiker A. Solschenizyn ein, nach dessen Zahlenakrobatik Stalin mehr Menschen umgebracht haben soll, als die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung der Sowjetunion zusammengenommen beträgt. 3)
Es grenzt tatsächlich an Wunder, daß die faschistische Wehrmacht bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion überhaupt noch einen lebendigen Menschen angetroffen hat. Aber mit solchen banalen Nachrechnungen kann man eben den tiefen Sinn Solschenizynscher Mystik nicht erfassen.
Unter den „Glasnost”-Antistalinisten nimmt Dmitri Wolkogonow zweifellos den ersten Platz ein. 4)
Bei allen Unterschieden im Einzelnen zeichnen sich diese Anti-Stalin-Pamphlete in einem aus: Da noch nicht alle Dokumente in den Archiven in Rußland zugänglich sind, aus denen man sich nach Belieben die für die „Beweisführung” geeigneten heraussuchen kann – unter Weglassung anderer, die der „Beweisführung” widersprechen -, nehmen die geschätzten Autoren dieser „Werke” ihre Zuflucht zu „Vermutungen”, „Schlußfolgerungen”, „Annahmen”, „Aussagen von Zeitgenossen”, „Überläufern”, „…man kann mit Sicherheit sagen…” und ähnlichen Formulierungen.
Als Kronzeugen werden übereinstimmend Chruschtschow, Gorbatschow, Trotzki, Sinowjew, Bucharin und andere Feinde der Sowjetmacht angerufen, wobei es bei letzterem schon zu einem regelrechten Bucharinkult gekommen ist. Die Anti-Stalin-Literatur erfolgt nach dem bekannten Ratschlag des Mephistopheles: „Bezeugt nur, ohne viel zu wissen!”.
Natürlich, auch Historiker unterliegen in ihrem Schaffen in der kapitalistischen Gesellschaft als spezifischer Dienstleistungsbetrieb den Marktgesetzen. So wird denn alles geschrieben, was sich verkaufen läßt, und dazu gehören seit der „Glasnost”-Periode die Anti-Stalin-Pamphlete; je dreister gelogen wird, je besser, je höher die Auflage, je höher der Preis. Natürlich gibt es auch unter den bürgerlichen Historikern ehrliche Autoren, deren seriösen wissenschaftlichen Werke nicht unter die Kategorie der Geschichtsfälschungen eingeordnet werden dürfen. Bis auf den heutigen Tag ist die internationale kommunistische Bewegung durch dieses Anti-Stalin-Symdrom gespalten. Ohne die Zerschlagung dieses Syndroms ist die Einheit der internationalen kommunistischen Bewegung nicht wieder herzustellen, keine neue sozialistische Revolution möglich.
Seitdem ein halbes Jahrhundert nach dem Tode von Stalin vergangen ist, sollte es möglich sein, die Persönlichkeit Stalins und seine theoretische und politische Tätigkeit in historisch ausgewogener Einschätzung zu würdigen. Es geht nicht darum, nun aus Stalin als den „paranoiden Massenmörder” (Laqueur)5), einen Heiligen zu machen, zu einer Inkarnation ewiger Gerechtigkeit, Unfehlbarkeit, höchster Tugenden. Gegen eine solche „Würdigung” würde sich Stalin mit aller Entschiedenheit selber wenden. Es geht um eine historisch-materialistische Bewertung der Persönlichkeit Stalins; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Gegenüber der Flut von Anti-Stalin-Publikationen gibt es nur wenige Arbeiten von marxistisch-leninistischen Autoren über Stalin. Jedoch ist in jüngster Zeit eine Zunahme solcher Arbeiten zu verzeichnen. Hier wären vor allem die Arbeiten von Kurt Gossweiler, Ludo Martens, Hans-Heinz Holz, Kosolapow, Nina Andrejewa zu nennen.6)
Die vorgesehenen Aufsätze über Stalin als Theoretiker stellen keine Stalin-Biographie dar. Es geht um eine Untersuchung des Anteils Stalins an der Ausarbeitung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, um den Nachweis, daß er mit seinen Schriften in Einheit mit seiner praktisch-politischen Tätigkeit zu den Klassikern des Marxismus-Leninismus gehört, wenn er selbst sich auch bis zu seinem Tode nur als Schüler Lenins bezeichnete. Bekanntlich beriefen und berufen sich die Stalin-Töter, von Chruschtschow über Gorbatschow, den Trotzkisten bis zu den erleuchteten Größen der „Glasnost”-Periode, in ihren Pamphleten auf Lenin, behaupten einen „Bruch” zwischen Leninismus und Stalin. Nebenbei, bürgerliche Autoren sind da klüger: Um den wissenschaftlichen Sozialismus in seiner Ganzheit anzugreifen, gehen sie – sogar richtig – von der Kontinuität von Lenin zu Stalin aus. Noch andere ziehen auch – ebenfalls richtig – Marx in diese Kontinuitätslinie mit ein: Marx – Lenin – Stalin. So entdeckte Alan Posener äußerst tiefsinnig sogar schon im Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels dessen „paranoide Struktur”.7) Wahrlich eine wissenschaftliche Glanzleistung.
So wie sich einst Eduard Bernstein auf Marx berief (auf den „wahren” Marx, versteht sich), um den Marxismus zu „revidieren”, d.h. zu zerstören, so berieten sich dessen modernen Nachfahren auf Lenin, um den Marxismus-Leninismus als Theorie und den Sozialismus als Gesellschaftsordnung als „widerlegt” bzw. als nicht realisierbar, als keine Alternative zum Kapitalismus verleumden und diffamieren zu können. Sie schlagen auf Stalin ein, um den Sozialismus und Kommunismus zu treffen; und wenn man um Marx schon nicht herumkommt ohne sich völlig lächerlich zu machen, muß man ihn als einen harmlosen Ökonomen „entsorgen”, der sich für seine „Irrtümer” nur zu entschuldigen habe. Aber nun wird neuerdings auch Lenin entschärft. So behauptet Wolkogonow allen Ernstes, daß die Neue Ökonomische Politik (NÖP) Lenins „das ursprüngliche Modell des Marktsozialismus” gewesen sei.8) Natürlich habe Stalin die NÖP Lenins „nie richtig begriffen”.9) Stalin war eben „kein Theoretiker”.10) Der Stalinismus sei das „Synonym für die Entstellung der Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus”.11)
Die Marx’sche Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, meint Valentin Falin in seiner flapsigen Art, hätte Lenin versucht, „umzumodeln, der russischen Figur das Kleid anzupassen”. Lenin „war zu Lebzeiten kein besonderer Erfolg beschieden, … . Seine Nachfolger gaben die Theorie in der Gepäckaufbewahrung ab, später dann im Museum”.12) Stalin sei „die absolute Negation des Sozialismus in der Theorie wie in der Praxis”.13) Nach Falin war demnach die Oktoberrevolution kein „besonderer Erfolg” gewesen. Zu einer solchen „wissenschaftlich begründeten” Erkenntnis kann man den Autor nur beglückwünschen.
In den vorgesehenen Aufsätzen geht es um den Nachweis der Kontinuität in der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Sozialismus von Marx, Engels, Lenin und Stalin, wobei die Umsetzung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in Politik und Strategie nur insoweit tangiert wird, wie es unter theorie-geschichtlichem Aspekt erforderlich ist. Das Verhältnis von Theorie und Politik/Strategie ist ohnehin ein dialektisches Wechselverhältnis, und nicht immer ist ein Sachverhalt eindeutig dem einen oder anderen zuzuordnen. Die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus wurde nun mal von den Führern und Theoretikern der kommunistischen Parteien ausgearbeitet, wobei die Parteiführer in der Regel auch zugleich Theoretiker waren. Die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus ist geronnene Erfahrung der geschichtlichen Klassenkämpfe, eine Verallgemeinerung der Klassenkämpfe in verschiedenen Ländern, unter unterschiedlichen Bedingungen, zu verschiedenen Zeiten. Im Theoriebildungsprozeß spielen die konkret-historischen Besonderheiten der einzelnen Länder natürlich ihre Rolle, und so sind nicht alle Erfahrungen, politischen Maßnahmen theoretisch verallgemeinerbar für alle Länder. Internationales und Nationales, Inneres und Äußeres sind teilweise so miteinander verflochten, daß sie nicht mehr als rein innere oder äußere Wirkungsbedingungen unterschieden werden können. Die äußere Konterrevolution war stets verbunden mit der inneren, wie auch die Revolution in einzelnen Ländern als äußere Faktoren auf andere einwirkten und in diesen Ländern zu inneren Faktoren wurden. Insofern war die Existenz der Sowjetunion vom ersten Tage an ein „innerer” Faktor aller kapitalistischer Länder, wie umgekehrt die Konterrevolution in der Sowjetunion als „äußerer” Faktor ein „innerer” für die kapitalistischen Länder war. Dieser Sachverhalt traf auch auf die kolonialen und halbkolonialen Länder zu. Diese wechselseitige Verflechtung schlug sich auch im Theoriebildungsprozeß nieder. Der proletarische Klassenkampf ist seinem Inhalt nach ein internationaler, der Form nach ein nationaler. Daraus erklärt sich der internationalistische und proletarische Charakter des wissenschaftlichen Sozialismus.
Schließen wir auch hier mit dem Kriterium der „Praxis” ab. Was haben die Politiker und „Theoretiker” der „Glasnost”-Periode erreicht? Wie sieht der von ihnen gepredigte „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” aus? Ein Trümmerhaufen, Deindustrialisierung, Zusammenbruch des Bildungssystems, des Gesundheitswesens, weitgehende Zerstörung der Landwirtschaft, gefährliche Schwächung des Militärwesens, eine Neobourgeoisie aus verkommenen Subjekten der Nomenklatura, Gauner, die die Reichtümer Rußlands verscheuern, die Werktätigen in Armut und billige Lohnsklaverei gestürzt, die Sowjetunion zerstückelt und zum Spielball und Rohstofflieferanten für die transnationalen Konzerne gemacht haben. Sie haben den Sozialismus in den RGW-Staaten zerstört, die NATO bis an die Grenzen Rußlands vorgeschoben.
Wir können die Bilanz der „Erneuerer” zusammenfassen mit einem Zitat Clintons aus dem Jahre 1995: „Nachdem wir die ideologischen Grundlagen der UdSSR erschüttert hatten, konnten wir ohne Blutvergießen den Staat, der die Hauptkonkurrenz für Amerika darstellte, aus dem Kampf um die Weltherrschaft ausschließen.”14) Das ist in der Tat ein „weltgeschichtliches” Ergebnis der „Entstalinisierung” der KPdSU und anderer Parteien der kommunistischen Weltbewegung. Stalin sollte auch hier Recht behalten haben, als er am 7. Dezember 1926 auf dem VII. erweiterten Plenum des EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale) warnend erklärte: „Was wäre die Folge, wenn es dem Kapital gelänge, die Republik der Sowjets zu zerschlagen? Eine Epoche der schwärzesten Reaktion würde über alle kapitalistischen und kolonialen Länder hereinbrechen; man würde die Arbeiterklasse und die unterdrückten Völker vollends knebeln, die Positionen des internationalen Kommunismus würden liquidiert.”15)
Ulrich Huar: Zur Methodik der Aufsätze
Den Aufsätzen liegen die 13 Bände der Stalin-Werke zugrunde, die vom Dietz-Verlag, Berlin/DDR von 1950 – 1955 herausgegeben wurden, zuzüglich der Bände 14 und 15 vom Verlag Roter Morgen, Band 14, 2. Auflage, Dortmund 1976, Band 15, 3. Verbesserte Auflage, Dortmund 1979. Die Bände 16 und 17, die in Rußland herausgegeben seien sollen, standen mir nicht zur Verfügung. Die hier genannten Stalin-Bände erscheinen in den Anmerkungen unter der Abkürzung: SW, der Band vor, die Seitenzahl nach einem / (SW x/yz).
Die von Stalin in seinen Arbeiten angeführten Zitate waren in allen von mir überprüften Fällen korrekt. Es konnten weder Unterstellungen, noch falsche, oder aus dem Zusammenhang gelöste Zitate festgestellt werden.
Für die Darstellung boten sich zwei Herangehensweisen an:
Einmal die chronologische, die den Vorteil hat, die Theorie in allen ihren Bestandteilen im Zusammenhang darstellen zu können innerhalb der Zeitperiode, in der sie verfaßt wurde.
Die zweite Methode war die Theorie nach ihren Bestandteilen – Parteitheorie (Theorie der nationalen Frage, Politische Ökonomie des Sozialismus, Militärtheorie, Staats- und Revolutionstheorie) darzustellen. Der Vorteil dieser Methode bestand darin, die einzelnen Teiltheorien gründlicher darstellen zu können, innerhalb dieser die Kontinuität von Marx/Engels – Lenin – Stalin, sowie die Erkenntnisfortschritte im Denken Stalins selbst deutlicher herausarbeiten zu können. Auch bei dieser Methode war innerhalb der Bestandteile dann chronologisch zu verfahren.
Da mir die zweite Methode gegenüber der ersten günstiger erschien, habe ich mich für diese entschieden, wobei ich die Nachteile, den Zusammenhang mit den anderen Bestandteilen der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus vernachlässigen zu müssen, in Kauf genommen habe.
Mit den folgenden Aufsätzen möchte ich dem Leser die Möglichkeit bieten, selbst zu prüfen, ob das Urteil von Isaak Deutscher zutrifft, wonach Stalins Sprache „eine erstaunliche Beschränktheit der Einbildungskraft” erkennen läßt, daß er „schwerfällig, trocken, farblos” schrieb, daß „sein geistiger Horizont nicht sehr weit gespannt war.”16)
Sollten Leser nach der Lektüre dieser Aufsätze auf den Gedanken kommen, sich selbst mit den Werken Stalins bekannt zu machen, so wäre dies für meine Arbeit die denkbar höchste Belohnung.
Ulrich Huar: Stalins Beiträge zur Theorie der nationalen Frage
I. Von 1904 bis zur Oktoberrevolution
Gestützt auf den „wertvollen Bericht” von Chruschtschow von 1956 sowie auf das „Archiv Trotzki”, dessen „Stalin-Biographie”, meint der US-amerikanische Professor Robert Tucker, daß sich Stalin „gegenüber nationalen Minderheiten verächtlich” verhielt, er ein „Vertreter des großrussischen Chauvinismus” gewesen sei.1) Offenbar spekuliert Tucker darauf, daß die Leser die Werke Stalins nicht kennen und es in den „freiheitlich-demokratischen” Staaten nicht so einfach ist, die Stalin-Bände zu erhalten.
Die erste mir bekannte Schrift von Stalin zur nationalen Frage erschien in der „Proletariatis Brdsola” Nr.7 (Der Kampf des Proletariats) vom 1. September 1904 unter dem Titel „Welche Auffassungen hat die Sozialdemokratie von der nationalen Frage?” Man kann diese Arbeit als das Debüt des 23jährigen Stalins zu dieser Thematik bezeichnen.2) Mit Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens ändere sich auch der Inhalt der nationalen Frage.
Stalin unterschied die nationale Frage des georgischen Adels von der der georgischen Bourgeoisie und der des Proletariats, das im Kaukasus, in unserem heutigen Sprachgebrauch, ein multinationales Proletariat war. Für den georgischen Adel sollten georgische Könige und der Adel nach dem „Anschluß” Georgiens an Rußland an der Spitze des Kampfes für die „Befreiung Georgiens” stehen, von Stalin als „feudal-monarchischer Nationalismus” bezeichnet. Mit der Entwicklung der Warenwirtschaft, der Aufhebung der Leibeigenschaft sowie Bewegungen der Dorfarmut kam es zu einer Spaltung des Adels. Eine – stärkere – Gruppe entsagte jedem Nationalismus, suchte den Anschluß an die zaristische Selbstherrschaft für warme Pöstchen, billigen Kredit und Schutz gegen die ländlichen Rebellen. Eine andere – schwächere – Gruppe verkroch sich unter die Fittiche des Klerikalismus, suchte den vom Leben verfolgten „Nationalismus” bei Bischöfen und Archimandriten zu retten.
In der georgischen Bourgeoisie wies Stalin auf zwei Tendenzen in der nationalen Frage hin: Die georgische Bourgeoisie war der freien Konkurrenz mit ausländischen Kapitalisten nicht gewachsen. So forderte sie ein „unabhängiges Georgien”, Schutz des georgischen Marktes durch Zollschranken. Sie wollten die ausländische Bourgeoisie mit Gewalt vom Markt vertreiben, um die Warenpreise künstlich hochzuschrauben. Sie versuchten das georgische Proletariat auf ihre Seite zu ziehen. Die fortschrittlichen Teile der Bourgeoisie suchten ökonomische und politische Verbindungen mit Rußland und führten somit einen Schlag gegen den georgischen, bürgerlichen Nationalismus.
Die nationale Frage des Proletariats werde durch dessen Kampf bestimmt. Der Sieg des Proletariats bedürfe der Vereinigung aller Arbeiter ohne Unterschied der Nationalität, der Niederreißung der nationalen Schranken, des engen Zusammenschlusses der russischen, georgischen, armenischen, polnischen, jüdischen u.a. Proletarier als Voraussetzung für den Sieg des Proletariats in Rußland. Die zaristische Selbstherrschaft, als der schlimmste Feind des Proletariats Rußlands, ist bestrebt, die Rußland besiedelnden Nationen zu entzweien, den nationalen Hader unter ihnen zu verschärfen, das Proletariat ganz Rußlands in kleine nationale Gruppen zu zersplittern und auf diese Weise dem Klassenbewußtsein der Arbeiter, ihrer Klassenvereinigung, das Grab zu schaufeln. In zwei Proklamationen des Tifliser-Komitees der SPAPR vom 13. und 15. Februar 1905 wiederholte Stalin diese Aussage und verschärfte sie noch, wonach der Zarismus die Nationalitäten aufeinanderhetzt. Das einzige Mittel, Pogrome aus der Welt zu schaffen, sei die Vernichtung der zaristischen Selbstherrschaft. Die Vernichtung jeglicher nationaler Feindschaft sei jedoch erst mit der Beseitigung des Kapitalismus möglich.3)
Aber wie die nationalen Schranken niederreißen, die nationale Abgeschlossenheit aufheben? In der Sozialdemokratie gab es zwei Strömungen in der nationalen Frage: einmal die „Föderalisten” und zum anderen die „Zentralisten.” Die Föderalisten strebten mehrere Parteien mit leitenden Zentralen, einzelne nationale Parteien an. Dies führe zu Nationalismus statt zu Klassenbewußtsein der Arbeiter, meinte Stalin. Die Zentralisten gingen davon aus, daß die Proletarier der Nationalitäten Rußlands gemeinsame, übereinstimmende Interessen haben. Die gemeinsamen Klasseninteressen der Proletarier unterschiedlicher Nationalität schließen im Kampf gegen die Selbstherrschaft nicht aus, die Gleichberechtigung der Muttersprache mit der Staatssprache und örtliche Selbstverwaltung zu fordern. Bezüglich der Frage der nationalen Unabhängigkeit, meinte er, dies sei eine Frage von Zeit, Raum, Bedingungen, entsprechend dem Nutzen für das Proletariat. Die SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands) sei nicht nur die Partei des russischen Proletariats, sondern des Proletariats aller Nationalitäten, wie schon der Name besage, „SDAP Rußlands” und nicht „russische” SDAP.
In diesen ersten Schriften zur nationalen Frage orientierte Stalin zunächst auf den Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft, um die „Pogrome” zu beseitigen, als eine revolutionär-demokratische Aufgabe. Dies sei noch nicht die Aufhebung „jeglicher” nationaler Feindschaft, die erst nach dem Sturz des Kapitalismus möglich ist. Stalin betonte deutlich den Klassencharakter der nationalen Frage, wenn auch noch nicht verbal. Im Kontext wird bereits deutlich, daß er die nationale Frage der sozialen Frage unterordnet.
„Marxismus und nationale Frage” 4)
Diesen Artikel hat Stalin Ende 1912 bis Anfang 1913 in Wien geschrieben, erstmalig veröffentlicht in der Zeitschrift „Prosweschtschenije” (Die Aufklärung), Heft Nummern 3 – 5, 1913, unter dem Titel „Nationale Frage und Sozialdemokratie”. So wird in der Literatur der gleiche Artikel unter unterschiedlichen Überschriften genannt.
Mit diesem wissenschaftlichen Artikel haben die Anti-Stalin-Publizisten einige Schwierigkeiten, da sich ausgerechnet Lenin zu diesem Artikel positiv zustimmend geäußert hat, was in die „Theorie vom Bruch des Stalinismus mit dem Leninismus” nicht so recht hineinpassen will. „In der theoretischen marxistischen Literatur”, schrieb Lenin, wurden „die Grundlagen des nationalen Programms der Sozialdemokratie in der letzten Zeit bereits beleuchtet (in erster Linie muß hier der Artikel Stalins hervorgehoben werden).”5) In einem Brief an Gorki vom Februar 1913 meinte Lenin, daß man sich mit dem Nationalismus „ernsthafter befassen” müsse. „Hier hat sich ein prächtiger Georgier an die Arbeit gemacht und schreibt für das ‘Prosweschtschenije’ einen großen Artikel, für den er sämtliche österreichische und andere Materialien zusammengetragen hat.”6)
Wenn man schon am wissenschaftlichen Inhalt der Arbeit von Stalin nichts auszusetzen findet, muß eine andere Form der Verleumdung gefunden werden. Und sie wurde gefunden, nämlich darin, daß die Autorenschaft Stalins in Frage gestellt wird, zumindest aber, daß er sie nicht allein verfaßt haben kann, weil er ja nach dem sachkundigen Urteil seiner „Kritiker” dazu gar nicht in der Lage gewesen wäre, denn seine Schriften haben „primitiv” etc. zu sein. So versichert uns A.G. Löwy, einer der Schöpfer von Bucharin-Kulten, daß Trotzki „wahrscheinlich” recht habe, wenn er auf die Hilfe Bucharins bei der Sammlung des Materials hinweise, denn dieser Aufsatz sei, „der einzige” von Stalin, der „wissenschaftliche Systematik und selbständige Schlußfolgerungen enthält…”.7)
Eine überwältigende Beweisführung! Auch Isaak Deutscher hat seine Schwierigkeiten in der Verleumdung Stalins bezüglich dieser Schrift, die „die begeisterte Zustimmung Lenins gefunden” hatte. „Wahrscheinlich” hätte Lenin „die stilistischen und logischen Fehler berichtigt, von denen das Originalmanuskript Stalins voll gewesen sein dürfte.”8) Woher Deutscher das weiß, bleibt sein unergründliches Geheimnis. Eine feine Geschichtsschreibung!
Anlaß für diese Arbeit war, daß nach der Revolution von 1905 die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland in Industrie und Landwirtschaft, besonders in den Randgebieten, rasch von statten ging, was den Prozeß der Konsolidierung der Nationalitäten Rußlands beschleunigte und sie in Bewegung brachte. „Die Welle des Nationalismus rollte immer stärker heran und drohte, die Arbeitermassen zu erfassen. Und um so mehr die Freiheitsbewegung abebbte, um so üppiger kamen die Blüten des Nationalismus zur Entfaltung.”9) Innerhalb der Sozialdemokratie gab es Unklarheiten in der nationalen Frage, so daß eine „ernste und allseitige Erörterung” notwendig sei.
Im ersten Teil ging es Stalin um die Definition der Nation. Sie sei „vor allem eine Gemeinschaft, eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen.” Sie sei keine Rassen- und keine Stammesgemeinschaft, auch kein zufälliges und ephemeres Konglomerat, sondern eine stabile Gemeinschaft von Menschen. Aber auch nicht jede stabile Gemeinschaft sei eine Nation. So sei eine Staatsgemeinschaft, wie Rußland und Österreich, keine Nation. Es folgen ausführliche historische Exkurse über die Herausbildung von Nationen, die er in die bekannte Definition zusammenfaßt: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.”10)
Es folgen Auseinandersetzungen mit den österreichischen Sozialdemokraten O. Bauer („Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie”) und R. Springer („Das nationale Problem”), die die Nation als „Charaktergemeinschaft” (Bauer) bzw. „Kulturgemeinschaft” (Springer) definierten, worauf im vierten Abschnitt ausführlicher eingegangen wird. Stalin betonte, „daß es in Wirklichkeit keinerlei alleiniges Unterscheidungsmerkmal der Nation gibt. Es gibt nur eine Summe von Merkmalen, aus denen beim Vergleich von Nationen bald das eine Merkmal (der Nationalcharakter), bald das zweite (die Sprache), bald das dritte (das Territorium, die wirtschaftlichen Bedingungen) prägnanter hervortritt. Die Nation ist eine Kombination aller Merkmale zusammengenommen.”11)
Diese von Stalin gegebene Definition ist unter den Bedingungen des Standes von 1913 und gegenüber den Austromarxisten eine hervorragende wissenschaftliche Leistung.
Alle späteren Definitionen marxistisch-leninistischer Theoretiker, namentlich der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, griffen auf diese Definition zurück, wenn sie sie auch entsprechend den Erkenntnisfortschritten erweitert haben.12)
Stalin sprach bezüglich seiner Definition von drei Merkmalen, es sind aber vier, denn „Territorium” und „wirtschaftliche Bedingungen” müssen voneinander unterschieden werden. Wenn auch „Definitionen … wissenschaftlich von geringem Wert” sind, wie Engels im „Anti-Dühring” bemerkte, „Für den Handgebrauch sind jedoch solche Definitionen sehr bequem und stellenweise nicht gut zu entbehren; sie können auch nicht schaden, solange man nur ihre unvermeidlichen Mängel nicht vergißt”.13)
Im zweiten Abschnitt konkretisiert Stalin seine Definition mit dem Hinweis, daß die Nation nicht einfach eine historische Kategorie sei, sondern die einer bestimmten Epoche. Er verwies auf die Unterschiede in der Nationenbildung in West- und Osteuropa. So bildeten sich im Westen Nationalstaaten heraus, im Osten dagegen Nationalitätenstaaten, Rußland und Österreich. In Österreich übernahmen die Deutschen das Werk der Vereinigung der österreichischen Nationalitäten zu einem Staat, in Rußland die Großrussen, an deren Spitze eine historisch entstandene, starke und organisierte adelige Militärbürokratie stand. „Diese eigentümliche Art der Staatenbildung konnte nur unter den Verhältnissen des noch nicht beseitigten Feudalismus, unter den Verhältnissen des schwach entwickelten Kapitalismus stattfinden, als die in den Hintergrund gedrängten Nationalitäten noch nicht dazu gekommen waren, sich ökonomisch zu geschlossenen Nationen zu konsolidieren.”14) Der nunmehr eingebrochene Kapitalismus „rüttele diese auf” und setze sie in Bewegung.
Wichtig ist die von Stalin vorgenommene Präzisierung, wonach der Kampf „nicht zwischen den Nationen im ganzen genommen, sondern zwischen den herrschenden Klassen der machthabenden und denen der zurückgedrängten Nationen” geführt wurde.15) Die grundlegende Frage für die junge Bourgeoisie war der „heimatliche” Markt, ihn gegen die Konkurrenz der Bourgeoisie anderer Nationen zu schützen. Aus der wirtschaftlichen Sphäre greife dann der Kampf auf die politische über. Die Bourgeoisie gäbe dann ihre Interessen als die Interessen des ganzen Volkes aus und riefe die unteren Volksschichten zum Kampf fürs „Vaterland” auf. Von historischem Interesse sind die Bemerkungen Stalins über die Besonderheiten in Georgien. Dort gäbe es keinen wesentlichen antirussischen Nationalismus, sondern einen antiarmenischen Nationalismus. Die Gründe dafür lagen darin, daß es dort keine russischen Gutsbesitzer und keine russische Großbourgeoisie gab, dafür aber eine armenische Großbourgeoisie, die die noch schwache georgische Kleinbourgeoisie niederrang.
Der Inhalt der nationalen Bewegungen könne nicht überall der gleiche sein. So trüge in Irland die Bewegung den Charakter einer Agrarbewegung mit entsprechenden Forderungen, in Böhmen einen „Sprachen”charakter, der sich in anderen Forderungen äußere.16)
Wenn unter den Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus der nationale Kampf letztendlich ein Kampf der bürgerlichen Klassen untereinander ist, so verhält sich das Proletariat diesem Kampf gegenüber nicht gleichgültig. Die nationale Unterdrückung trifft das Proletariat härter als die Bourgeoisie, kann die freie Entwicklung der geistigen Kräfte des Proletariats behindern. Andererseits ist die Teilnahme am nationalen Kampf für den Formierungsprozeß des Proletariats nicht ungefährlich, indem breite Schichten des Proletariats von den sozialen Fragen abgelenkt werden, vom Klassenkampf auf Positionen des Nationalismus, auf „gemeinsame” Fragen des Proletariats und der Bourgeoisie abgleiten können.
Die Arbeiter kämpfen gegen die Politik der Unterdrückung von Nationen in allen ihren Formen wie auch gegen die Politik der „Verhetzung” in allen ihren Formen. Darum proklamiere die Sozialdemokratie in allen Ländern das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.
In der inhaltlichen Bestimmung des Selbstbestimmungsrechts ging Stalin über das bürgerlich-demokratische Verständnis dieser Frage hinaus. Neben der demokratischen Bestimmung des Rechts auf Selbstbestimmung: Ihr eigenes Schicksal selbst zu bestimmen, keine gewaltsame Einmischung in ihre Angelegenheiten, eigene Schulen, Sitten, Gebräuche, Sprache; er betont, daß dies nicht heiße, daß die Sozialdemokratie „alle und jegliche Gebräuche und Einrichtungen unterstützen wird. Im Kampf gegen die Vergewaltigung einer Nation wird sie nur für das Recht der Nation eintreten, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, gleichzeitig aber eine Agitation gegen schädliche Gebräuche und Einrichtungen dieser Nation betreiben, um den werktätigen Schichten der gegebenen Nation die Möglichkeit zu geben, sich ihrer zu entledigen.”17) Unter dem „Selbstbestimmungsrecht” nennt Stalin das Recht, „sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt.”18) Das Recht auf staatliche Lostrennung, die Konstituierung eines eigenen Staates wird in späteren Arbeiten von Stalin noch verstärkt herausgearbeitet.
Natürlich habe eine Nation das Recht, sogar zu alten Zuständen zurückzukehren, aber einen derartigen Beschluß müsse die Sozialdemokratie nicht unterschreiben.
Stalin wies noch einmal deutlich auf den Unterschied zwischen nationaler und sozialer Frage hin: „Die Pflichten der Sozialdemokratie, die die Interessen des Proletariats verficht, und die Rechte der Nation, die aus verschiedenen Klassen zusammengesetzt ist, sind zwei verschiedene Dinge.”19)
Stalin wiederholte einen schon früher geäußerten Gedanken, wonach ein „endgültiges Verebben der nationalen Bewegung … erst mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich” ist. „Erst im Reiche des Sozialismus kann völliger Frieden hergestellt werden. Aber den nationalen Kampf auf ein Mindestmaß zu reduzieren, …ihn für das Proletariat in höchstmöglichem Grade unschädlich zu machen, das ist auch im Rahmen des Kapitalismus möglich.” Dies zeigen die Beispiele der Schweiz und Amerikas, dazu müsse jedoch „das Land demokratisiert, muß den Nationen die Möglichkeit freier Entwicklung gewährt werden.”20)
In einem dritten Abschnitt zur „Fragestellung” geht Stalin etwas ausführlicher auf das Recht der staatlichen Lostrennung ein. Dieses Recht bedeute nicht, daß die betreffende Nation dies unter allen Umständen auch tun müsse. Als Beispiel verwies er auf die transkaukasischen Tataren, die unter dem Einfluß ihrer Begs und Mullahs auf einem ihrer Landtage den Beschluß fassen könnten, sich vom russischen Reich loszusagen, um die alten Zustände wiederherzustellen. Sie hätten dazu das volle Recht. Aber die Sozialdemokratie könne nicht ruhig zusehen, wie die Begs und Mullahs die Massen der Werktätigen hinter sich herführen. Die Sozialdemokratie müsse die Frage nach den Interessen der werktätigen Massen stellen, was für diese am vorteilhaftesten ist: Autonomie, Föderation oder Separation. Diese Fragen müssen nach den konkret-historischen Verhältnissen beantwortet werden, unter denen die betreffende Nation lebt. Alles ändere sich, auch die Verhältnisse. So könne eine Entscheidung in einem gegebenen Augenblick richtig, zu einem anderen Zeitpunkt unannehmbar sein. So sei Marx Mitte des 19. Jahrhunderts für die Lostrennung Polens von Rußland eingetreten und habe damit recht gehabt, denn es handelte sich damals um die Befreiung einer höheren Kultur von einer sie zerstörenden niedrigeren. Das wäre damals nicht nur eine Frage der Theorie, keine akademische, sondern eine Frage der Praxis, des Lebens selbst gewesen. Ende des 19. Jahrhunderts sprächen sich die polnischen Marxisten gegen eine Lostrennung Polens aus, und auch sie haben recht, denn in den letzten fünfzig Jahren wäre eine ökonomische und kulturelle Annäherung Rußlands und Polens eingetreten.
Gegenwärtig (1913, U.H.) wäre „die Frage der Lostrennung aus einem Gegenstand des praktischen Lebens zu einem Gegenstand akademischer Diskussionen geworden, die höchstens die im Ausland lebenden Intellektuellen aufregen.”21) Es könnten jedoch neue innere und äußere Konjunkturen auftreten, die die Frage der Lostrennung erneut auf die Tagesordnung setzten. Wichtig ist die theoretische Schlußfolgerung, daß es möglich sei, daß für jede Nation eine besondere Lösung der Frage erforderlich sei. „Wenn irgendwo eine dialektische Stellung der Frage notwendig ist, so eben hier, in der nationalen Frage.”22) So wendete sich Stalin sehr energisch gegen „eine sehr verbreitete, aber auch sehr summarische Methode der ‘Lösung’ der nationalen Frage… .”23)
Im weiteren ging Stalin auf die Unterschiede zwischen Österreich und Rußland ein, woraus grundverschiedene aktuelle Aufgaben und verschiedene Methoden der Lösung der nationalen Frage folgten. Die von O. Bauer und R. Springer für Österreich ausgearbeiteten Methoden seien für Rußland nicht anwendbar. In Rußland bilde nicht die nationale Frage, sondern die Agrarfrage „die Achse des politischen Lebens. Darum ist das Schicksal der russischen Frage und somit auch der ‘Befreiung’ der Nationen in Rußland mit der Lösung der Agrarfrage, das heißt mit der Vernichtung der Leibeigenschaft, das heißt mit der Demokratisierung des Landes verbunden.” Daraus folge, daß „in Rußland die nationale Frage nicht als eine selbständige und entscheidende Frage, sondern als ein Teil der allgemeinen und wichtigeren Frage der Befreiung des Landes von seinen Fesseln hervortritt.”24)
Im vierten Abschnitt setzte sich Stalin mit dem Programm der national-kulturellen Autonomie auseinander, das auf dem Brünner Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie 1903 angenommen wurde. Erstmalige Erwähnung fand die national-kulturelle Autonomie bei Stalin in seinem Brief aus dem Kaukasus „Auf dem Wege zum Nationalismus” vom Januar 1913.
Demnach war diese Frage schon 1906 auf der Gebietskonferenz der kaukasischen SDAPR diskutiert worden. Die Vertreter dieser Richtung, die Liquidatoren, wollten an Stelle der gemeinsamen Parteiorganisation nach Nationalitäten getrennte Organisationen bilden: einen georgischen, armenischen und andere ‘Bünde.’25)
Stalin erkannte die Brisanz dieser Frage für den proletarischen Klassenkampf und widmete der Kritik des österreichischen Programms der national-kulturellen Autonomie mehrere Seiten, auf die er in späteren Arbeiten immer wieder zurückkam. Etwa zeitgleich setzte sich auch Lenin mit der Konzeption der national-kulturellen Autonomie kritisch auseinander, wobei einige Artikel Lenins erst nach der Veröffentlichung von Stalins Arbeit erschienen. Dies zu erwähnen ist deshalb notwendig, um dem „Vorwurf” zuvorzukommen, Stalin habe von Lenin abgeschrieben und zum anderen, um die Übereinstimmung von Lenin und Stalin bezüglich der Theorie der nationalen Frage nachzuweisen.26)
Stalins Analyse des österreichischen Programms:
1. Es wird z.B. Autonomie für Tschechen und Polen gefordert, unabhängig vom Territorium, wo sie wohnen, daher „nationale”, aber keine „territoriale” Autonomie.
2. Die über das gesamte Territorium Österreichs verstreuten Tschechen, Polen, Deutsche usw. sollen sich als Einzelpersonen zu „geschlossenen Nationen” konstituieren und als solche dem österreichischen Staat angehören. Nicht als Verband „autonomer Gebiete”, sondern als Verband „autonomer Nationalitäten”, unabhängig vom Territorium.
3. Die nationalen Institutionen sollten sich nicht mit „politischen” Fragen befassen, sondern nur mit „kulturellen”, daher „national-kulturelle” Autonomie.
Die national-kulturelle Autonomie sei nach Springer ein „Personenverband”, nach Bauer eine „Personengemeinschaft”. Stalin zitiert Bauer wörtlich, wonach die österreichische Sozialdemokratie bestrebt sei, „die nationale Kultur… zum Besitztum des ganzen Volkes zu machen und dadurch alle Volksgenossen zu einer nationalen Kulturgemeinschaft zusammenzuschließen.”27)
Auf diese Weise werde die nationale Autonomie als „Selbstbestimmung der Nationen” verkauft. Nach Bauer sei die national-kulturelle Autonomie der „Prototyp der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft”, werde im Sozialismus eine „Gliederung der Menschheit in autonome nationale Gemeinwesen” erfolgen.28)
Stalin argumentierte dagegen: (1.) im Entstehungsstadium des Kapitalismus schließen sich Nationen zusammen. (2.) Im höheren Stadium des Kapitalismus beginne ein Prozeß der Zersetzung der Nation durch Erwerbszwang, Auswanderer, Wechsel des Wohnorts, etc. Zersetzung nicht nur durch Abwanderung, sondern auch durch die Verschärfung des Klassenkampfes im Innern. Mit der Großindustrie und dem Klassenkampf beginne die nationale „Gemeinschaft” dahinzuschmelzen. Welche „Schicksalsgemeinschaft” solle es geben, in der die Bourgeoisie nach Krieg lechzt und das Proletariat „Krieg dem Kriege” erklärt. Was bedeute denn die Forderung von Springer und Bauer nach „Pflege und Entwicklung der nationalen Eigenart aller Völker?” Etwa die „Pflege” einer solchen „nationalen Eigenart” der transkaukasischen Tataren, wie der Selbstgeißelung während des „Schachsai- Wachsai”-Festes, „Entwicklung” einer solchen „nationalen Eigenart” der Georgier, wie des „Rechtes auf Rache”?29)
Die Auffassung Bauers über die Gliederung der Menschheit in national abgegrenzte Gemeinwesen werde durch den ganzen Entwicklungsgang der modernen Menschheit widerlegt. Die nationalen Schranken festigten sich nicht, sondern würden vielmehr zerstört und stürzten ein. Stalin zitierte aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr”, „die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.”30) Bauers „sozialistisches Nationalitätenprinzip füge der Arbeiterklasse nur Schaden zu, gegenseitiges Mißtrauen, Absonderung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten, Zersplitterung der einheitlichen Arbeiterbewegung in einzelne, nach Nationalitäten aufgebaute Parteien und Gewerkschaften.
Stalin wies auf den Sachverhalt hin, daß es in Österreich von einem Separatismus der Partei zu einem Separatismus der Gewerkschaften kommen würde, die Gewerkschaften sich nach Nationalitäten geschieden hätten, daß es nicht mehr selten sei, „daß die tschechischen Arbeiter die Streiks der deutschen brechen oder bei Gemeindewahlen zusammen mit den tschechischen Bourgeois gegen die deutschen Arbeiter auftreten.” Die nationale Frage ließe sich nicht durch die national-kulturelle Autonomie lösen, im Gegenteil, sie schaffe den Boden für die Zerstörung der Einheit der Arbeiterbewegung, für die Absonderung der Arbeiter nach Nationalitäten, für verstärkte Reibungen zwischen ihnen.31)
Von besonderer Bedeutung und Aktualität ist der fünfte Abschnitt über die jüdische Arbeiterorganisation „Bund”, seinen Nationalismus und Separatismus. Zum besseren Verständnis seien einige zusätzliche Informationen hier eingeflochten:
Ende des 19. Jahrhunderts gab es starke antisemitische Bewegungen in Österreich, Deutschland und Frankreich, in Rußland und Polen blutige Pogrome gegen Juden.
Im August 1897 tagte in Basel der I. Zionistenkongreß, auf dem der Wiener Journalist Dr. Theodor Herzl die schon Mitte des 19. Jahrhundert mehrfach von Vertretern jüdischer Organisationen geäußerte Idee der Schaffung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina als „Lösung der Judenfrage” umfassend darlegte und mit sozialen und politischen Argumenten zu begründen suchte.
In seiner 1843 verfaßten und in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern 1844 veröffentlichten Schrift „Zur Judenfrage” sah der junge Karl Marx deren Lösung in der politischen Emanzipation und der Assimilation der Juden in die Nationen, in denen sie lebten.32) Desgleichen hatten sich auch Otto Bauer und Karl Kautsky für die Assimilation der Juden ausgesprochen. Diese Schriften erwähnt Stalin in diesem Abschnitt. Gerade die Assimilation lehnten Herzl und andere Vertreter des Zionismus ab.33)
Stalin ging es in seiner Arbeit um die Frage: einheitliche Arbeiterpartei nach Klassenprinzip oder „nationale” Parteien, die zur Zersplitterung der Arbeiterbewegung, zu Feindschaften zwischen den Arbeitern führen mußten. Noch vor der Gründung der SDAPR im März 1898 kam es 1897 zur Gründung des „Bundes” als ausschließlich jüdische Arbeiterorganisation, die auch nur jüdische Arbeiter aufnahm und beanspruchte, alleiniger Vertreter der jüdischen Arbeiter zu sein. Der „Bund” lehnte die Assimilation der Juden ab, forderte „Garantien gegen die Assimilation.”34) Der „Bund” trat einseitig nur für die „Rechte der jüdischen Sprache” ein. Mit Forderungen nach gesetzlicher Sicherung des „Sabbats”, der Schaffung „jüdischer Krankenhäuser”, daß die SDAPR „in ihrem Organisationsaufbau eine Abgrenzung nach Nationalitäten vornehme” verfolgte der „Bund” eine „Absonderung” der „nationalen Existenz”.35) Der „Bund” habe kein bestimmtes Territorium, er betätige sich auf „fremden” Territorien, während die mit ihm in Fühlung stehenden sozialdemokratischen Parteien, die polnische, die lettische und die SDAPR internationale Territorialkollektive seien.36) Entweder Parteien nach den Grundsätzen des nationalen Föderalismus, gleichbedeutend mit Zersplitterung, oder Partei nach internationalistischen Prinzipien, wie dies bei der polnischen und der lettischen Sozialdemokratie der Fall sei.37)
Der Föderalismus habe in der österreichischen Partei zum Separatismus, zur Zerstörung der Einheit der Arbeiterbewegung geführt, wie die Erfahrung gezeigt habe.38) Die bündistischen Gewerkschaften seien von Anfang an nach dem Nationalitätenprinzip aufgebaut gewesen, die von den Arbeitern anderer Nationalitäten losgelöst waren. Ein solcher Zustand wirke auf die Arbeiter in dem Sinne ein, „daß ihr Solidaritätsgefühl nachläßt und sie demoralisiert werden, wobei die Demoralisation auch in den ‘Bund’ eindringt. Wir meinen die immer häufiger werdenden Zusammenstöße zwischen jüdischen und polnischen Arbeitern aufgrund der Arbeitslosigkeit.”39)
Im sechsten Abschnitt setzte sich Stalin mit den Liquidatoren im Kaukasus auseinander, die sowohl für die Gebietsautonomie als auch für die national-kulturelle Autonomie innerhalb der Gebiete eintraten und sich der Sache nach den Auffassungen des „Bundes” annäherten. Die Gebietsautonomie wurde von Stalin entsprechend den Beschlüssen des II. Parteitages der SDAPR (Juli 1903) als richtig befürwortet; als territoriale Selbstverwaltung für diejenigen Randgebiete, „die sich in ihren Lebensverhältnissen und der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung von den eigentlich russischen Gebieten unterscheiden.”40) Bezüglich der Zusammensetzung der Bevölkerung und der Lebensverhältnisse wies (und weist! U.H.) der Kaukasus Besonderheiten auf. (In Kaukasien leben etwa 40 verschiedene Nationen, Nationalitäten und ethnische Gruppen, die man nicht einmal als „Nationalität” bezeichnen kann. U.H.)
Stalin erwies sich auch hier als vorzüglicher Sachkenner der Verhältnisse im Kaukasus. So führte er die Konzeption von der national-kulturellen Autonomie, hier bezüglich der Verhältnisse im Kaukasus, ad absurdum: Neben entwickelten Nationen, Georgiern, Armeniern mit entwickelter Kultur gäbe es Völkerschaften mit primitiver Kultur, die sich im Stadium der Assimilation befänden. Da seien die Mingrelen, Abchasen, Adsharen, Swanen, Lesghiern u.a., die verschiedene Sprachen sprechen, aber keine eigene Literatur haben.
Zu welcher Nation sollen sie denn gehören? Zu welchen „nationalen Verbänden” sollen sie organisiert werden? Desgleichen in welchen „Kulturangelegenheiten?” Die transkaukasischen Osseten werden durch die Geogier assimiliert, die vorkaukisischen Osseten teilweise durch die Russen.
„Zu welchem nationalen Verband sind die Adsharen zu zählen, die georgisch reden, aber eine türkische Kultur haben und sich zum Islam bekennen? Soll man sie etwa aufgrund der religiösen Angelegenheiten gesondert von den Georgiern und aufgrund der übrigen Kulturangelegenheiten mit den Georgiern zusammen ‘organisieren’? Und die Inguschen? Und die Ingilonier?”41) Daher könne die nationale Frage im Kaukasus nur „im Geiste der Einbeziehung der zu spät gekommenen Nationen und Völkerschaften in den allgemeinen Strom der höheren Kultur gelöst werden.”42) Die Gebietsautonomie würde dies erleichtern.
Eine Kombination der Gebietsautonomie mit der national-kulturellen Autonomie würde die Entwicklung der zu spät gekommenen Nationen hemmen, die Gebietsautonomie „noch in eine Arena für Zusammenstöße zwischen den zu nationalen Verbänden organisierten Nationen verwandeln.”43)
In diesem Zusammenhang verwies Stalin auf einen Punkt im Programm der SDAPR über die Freiheit des Glaubensbekenntnisses: Die Partei bekämpfe alle religiösen Repressalien, alle Verfolgungen der Griechisch-Orthodoxen, der Katholiken und der Protestanten. Sie trete für das Recht der Nationen ein, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen. Dies bedeute aber nicht, daß sie, von den Interessen des Proletariats ausgehend, nicht gegen die Religionen agitieren, um der sozialistischen Weltanschauung zum Triumph zu verhelfen. Religionsfreiheit bedeutet nach Stalin also nicht, auf eine wissenschaftlich begründete atheistische Propaganda zu verzichten.44)
Das gleiche gelte auch für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen: Jede Nation habe das Recht, sich nach ihrem Gutdünken einzurichten; niemand habe das Recht, sich gewaltsam in das Leben der Nation einzumischen. Aber auch dies bedeute nicht, daß die Partei nicht gegen schädliche Einrichtungen der Nationen kämpfen und agitieren werde. So werde die Sozialdemokratie für das Selbstbestimmungsrecht der Nation kämpfen, gleichzeitig aber, z.B. gegen die Lostrennung der Tartaren und auch gegen die national-kulturelle Autonomie agitieren.45)
Schließlich verwies Stalin auf den Unterschied zwischen den Pflichten der Marxisten und den Rechten der Nationen: Die Marxisten vertreten die Interessen der Proletarier, die Nation bestehe aber aus verschiedenen Klassen. „Die Rechte der Nationen und die Prinzipien des Sozialdemo-kratismus können einander ebenso sehr oder ebenso wenig ‘zuwiderlaufen’ wie, sagen wir, die Cheopspyramide der famosen Konferenz der Liquidatoren. Sie sind einfach nicht miteinander zu vergleichen.”46)
Im letzten, siebenten Abschnitt, ging Stalin auf die nationale Frage in Rußland ein: Grundlage und Vorbedingung für deren Lösung sei die vollständige Demokratisierung. Nicht nur die innere, sondern auch die äußere Lage müsse berücksichtigt werden. Rußland liege zwischen Asien und Europa, zwischen Österreich und China. In Asien sei ein Anwachsen der Demokratie zu beobachten, in Europa sei das Anwachsen des Imperialismus kein Zufall. Dem Kapital in Europa werde es zu eng; es suche nach neuen Märkten, billigen Arbeitskräften, neuen Anlagemöglichkeiten, dränge in fremde Länder. Dies führe zu außenpolitischen Verwicklungen und zum Krieg. Sei der Balkankrieg (Oktober 1912 zwischen Bulgarien, Serbien, Griechenland, Montenegro auf der einen, der Türkei auf der anderen Seite) Anfang oder Ende der Verwicklungen? Es könnten Situationen eintreten, in denen die eine oder andere Nation in Rußland die Frage ihrer Unabhängigkeit aufwerfen würde. Die Marxisten hätten in einem solchen Fall keine Hindernisse zu bereiten. „Also Selbstbestimmungsrecht als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.”47) Die Gebietsautonomie sei die richtige Lösung für solche ausgeprägten Einheiten wie Polen, Litauen, die Ukraine, der Kaukasus usw.. Den Vorzug der Gebietsautonomie sah Stalin darin, daß man es mit einer bestimmten Bevölkerung auf einem bestimmten Territorium zu tun habe, die Menschen nicht nach Nationen scheidet, die Bevölkerung vereinigt um einer Scheidung anderer Art den Weg zu ebenen, die Scheidung nach Klassen.
Über die Gebietsautonomie ließen sich die Naturschätze erschließen, die Produktivkräfte entfalten, ohne erst die Beschlüsse eines gemeinsamen Zentrums abwarten zu müssen. „Also Gebietsautonmie als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.”48) Kein einziges Gebiet wäre national homogen. Um die eingesprenkelten nationalen Minderheiten vor Unterdrückung der nationalen Mehrheiten zu bewahren, sei ein vollständiger Demokratismus in jedem Gebiet erforderlich. Dazu gehören das Recht auf Muttersprache, eigene nationale Schulen, Gewissensfreiheit, Freizügigkeit usw. „Also nationale Gleichberechtigung in allen ihren Formen (Sprache, Schulen usw.) als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.”49)
Daraus folge mit Notwendigkeit die Organisation der Arbeiterorganisationen nach den Grundsätzen der Internationalität. „Lokale Zusammenfassung der Arbeiter aller Nationalitäten Rußlands zu einheitlichen und geschlossenen Kollektiven, Zusammenfassung dieser Kollektive zu einer einheitlichen Partei – das ist die Aufgabe.”50)
Auf das Problem der Gebietsautonomie kam Stalin in späteren Arbeiten immer wieder zurück. Lenin hatte 1913 offenbar keine Einwände gegen die Gebietsautonomie.
Stalin zitiert in einer Anmerkung vom Dezember 1924 zu seinem Artikel „Gegen den Föderalismus” (28. März 1917) aus einem Brief Lenins an Schaumian vom November 1913: „Wir sind für den demokratischen Zentralismus, unbedingt. Wir sind gegen die Föderation…. Wir sind im Prinzip gegen die Föderation – sie schwächt die ökonomische Bindung, sie ist ein untauglicher Typus für einen Staat…”51) In der gleichen „Anmerkung” weist Stalin auf eine Passage aus Lenins „Staat und Revolution” (August 1917) hin, in der Lenin, sich namentlich auf Engels berufend, der der „klaren Tatsache” bezüglich Englands Rechnung trug, „daß die nationale Frage sich noch nicht überlebt hat, und… in der föderativen Republik einen ‘Schritt vorwärts’ erblickte.”52) Stalin sah in dieser Passage „… den ersten ernstlichen Schritt” der Partei „in der Person Lenins” … „zur Anerkennung der Zulässigkeit einer Föderation als Übergangsform ‘zur zentralen Republik’, wobei sie diese Anerkennung übrigens mit einer Reihe ernstlicher Vorbehalte begleitet haben.”53) Dieser Standpunkt hätte zum ersten Mal seinen Ausdruck in der von Lenin geschriebenen „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes” vom Januar 1918 gefunden, in der es hieß: „Die Sowjetrepublik Rußland wird auf Grund eines freien Bundes freier Nationen, als Föderation nationaler Sowjetrepubliken errichtet.”54)
Stalin lehnte den Föderalismus in seinem Artikel „Gegen den Föderalismus” vom 28. März 1917 noch ab. In diesem Artikel polemisierte er gegen die Auffassungen eines Jos. Okulitsch, der sich für einen „Gebietsverbund” in Rußland nach dem Vorbild der USA von 1776 einsetzte.55) Stalin wies zunächst in einem kurzen historischen Exkurs anhand der Entwicklung in den USA, der Schweiz, Kanada, der Engländer und Franzosen nach, daß die Entwicklung von der Konföderation über die Föderation zum unitaren Staat verlief. Die Entwicklungstendenzen gingen nicht in eine Richtung der Föderation, sondern gegen die Föderation in Richtung eines unitaren Staates. Die Föderation sei eine Übergangsform. Die „Entwicklung des Kapitalismus in seinen höheren Formen und die mit ihr zusammenhängende Erweiterung des Rahmens des Wirtschaftsgebiets mit ihren zentralisierenden Tendenzen erheischen nicht eine föderale, sondern eine unitarische Form des staatlichen Lebens.”56) Es sei unvernünftig, für Rußland eine Föderation anzustreben. Stalin befürchtete, daß eine Föderation in Rußland „die bereits bestehenden ökonomischen und politischen Bande, die die Gebiete untereinander verbinden, zerreißen” würden, „was absolut unvernünftig und reaktionär wäre.”57)
Am 15. Januar 1918 übernahm Stalin in einer Rede auf dem III. Allrussischen Kongreß die o.g. Formulierung bezüglich der Konstituierung der Sowjetrepubliken als Föderation.57a) Im Unterschied zu ihren früheren Auffassungen gelangten Lenin und Stalin zu der Erkenntnis, daß die Föderation auch auf die Sowjetrepubliken anwendbar sei. Das war ein bedeutender Erkenntnisfortschritt.
Im seinem Referat über die nationale Frage auf der VII. Konferenz der SDAPR (Bolschewiki-Aprilkonferenz) vom 29. April 1917 ging Stalin zunächst auf die Frage, „Was ist nationale Unterdrückung?” ein: Nationale Unterdrückung sei an Klassen gebunden. Es gäbe, je nach dem Grad der Demokratisierung, verschiedene Formen der Unterdrückung, schwächere und brutalere Formen, wobei letztere die Formen von Massakern und Pogromen annehmen können, wie in Rußland. In der Schweiz, die „einer demokratischen Gesellschaft nahe” komme, genössen die Nationen „mehr oder weniger vollständige Freiheit.”58)
Je stärker die alte Landaristokratie der Staatsmacht stände, wie im zaristischen Rußland, um so abscheulicher die Formen der nationalen Unterdrückung. Aber die nationale Unterdrückung ginge nicht nur von der Landaristokratie aus, sondern auch von einr anderen Kraft: imperialistische Gruppen, die ihre in den Kolonien erlernten Methoden auf das eigene Land anwendeten und zu natürlichen Bundesgenossen der Aristokratie werden würden. Ihnen folge das Kleinbürgertum, ein Teil der Intelligenz und der Oberschicht der Arbeiterschaft, die ebenfalls an der Ausplünderung teilhätten. So entstünde „ein ganzer Chor von sozialen Kräften, die, mit der Land- und Finanzaristokratie an der Spitze, die nationale Unterdrückung aufrechterhalten.”59)
Über die Gestaltung des politischen Lebens müßten die zu Rußland gehörenden unterdrückten Völker selbst entscheiden: Wollen sie dem russischen Staat weiterangehören oder sich als selbständige Staaten aussondern. So unterstütze die SDAPR(B) das finnische Volk, das von der Provisorischen Regierung die Rechte fordere, die es vor der Angliederung an Rußland genossen hätte, und von der Provisorischen Regierung verweigert werden. Es sei „undenkbar, daß wir uns mit dem gewaltsamen Festhalten irgendeines Volkes im Rahmen eines einheitlichen Staates einverstanden erklären. Durch die Aufstellung des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker heben wir den Kampf gegen die nationale Unterdrückung auf das Niveau des Kampfes gegen den Imperialismus, unseren gemeinsamen Feind.”60)
Stalin wiederholt den schon früher geäußerten Gedanken, daß das Recht auf Lostrennung nicht heißt, daß sich die betreffende Nation unbedingt auch lostrennen müßte. Die Agitation der Partei für oder gegen die Lostrennung erfolge nach den Interessen des Proletariats, dem Interesse der proletarischen Revolution. Er, Stalin, würde sich „zum Beispiel, mit Rücksicht auf die allgemeine Entwicklung in Transkaukasien und in Rußland, auf bestimmte Bedingungen für den Kampf des Proletariats usw., gegen eine Lostrennung Transkaukasiens aussprechen. Wenn aber die Völker Transkaukasiens die Lostrennung dennoch verlangten, so würden sie sich natürlich lostrennen und von unserer Seite nicht auf Widerstand stoßen.”61)
Stalin meinte, daß nun nach dem Sturz des Zarismus das Mißtrauen der Völker nachlassen „und die Hinneigung zu Rußland zunehmen werde.” Er glaubte, daß sich „neun Zehntel der Völkerschaften nach dem Sturz des Zarismus nicht werden lostrennen wollen.” Die Partei schlüge deshalb vor – offensichtlich mit Zustimmung Lenins!? – „für die Gebiete, die sich nicht lostrennen wollen und bestimmte Eigenarten der Lebensweise, der Sprache aufweisen, wie zum Beispiel Transkaukasien, Turkestan, die Ukraine, eine Gebietsautonomie, einzuführen. Die geographischen Grenzen solcher autonomen Gebiete werden durch die Bevölkerung selbst entsprechend den Wirtschafts- und Lebensverhältnissen usw. bestimmt.”62) Für die nationalen Minderheiten fordere die Partei „volle Gleichberechtigung in Schul-, Religionsfragen usw. sowie Aufhebung aller Einschränkungen für die nationalen Minderheiten.”63) In der Zusammenfassung, in knapper systematisierender Form, wird die Auffassung Stalins zur Lösung der nationalen Frage in Rußland nach der proletarischen Revolution deutlich: „a) Anerkennung des Rechts der Völker auf Lostrennung; b) für die Völker, die im Rahmen des betreffenden Staates bleiben, Gebietsautonomie; c) für die nationalen Minderheiten besondere Gesetze, die ihnen freie Entwicklung sichern; d) für die Proletarier aller Nationalitäten des betreffenden Staates ein einheitliches untrennbares proletarisches Kollektiv, eine einheitliche Partei.”64)
Es ist dies, namentlich Punkt b), der später viel genannte und mit mehr oder weniger Recht kritisierte Plan der „Autonomisierung”, dem von Lenin im April 1917 zumindest nicht widersprochen wurde.
Im Schlußwort wies Stalin noch auf den Zusammenhang zwischen der Lösung der nationalen Frage in Rußland mit den Bewegungen der Völker, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen, hin, den Unabhängigkeitskampf der Völker in „ein Hinterland für die Avantgarde der sozialistischen Revolution” zu bilden. Wenn wir eine solche „Brücke zwischen West und Ost” schlagen, „dann halten wir tatsächlich Kurs auf die sozialistische Weltrevolution.”65)
Stalin kritisierte die nicht nur von Pjatakow und Dzierzynski vertretene Auffassung, „daß jede nationale Bewegung reaktionär sei.”66) Rosa Luxemburg lehnte gleichermaßen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, das Recht auf Lostrennung ab, wie sie auch die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien und national unterdrückten Ländern unterschätzte. So konnte sie auch nicht die Notwendigkeit des Bündnisses der proletarischen Revolution mit dem nationalen Befreiungskampf der Kolonien verstehen. Solche Auffassungen waren in der revolutionären internationalen Arbeiterbewegung nicht selten anzutreffen.
Die Arbeiten von Lenin und Stalin zur marxistischen Theorie der nationalen Frage stellten zu deren Zeiten wissenschaftliche Spitzenleistungen dar.
II. Von der Oktoberrevolution bis März 1953
„Sowjetrußland unternimmt den in der Welt noch nicht dagewesenen Versuch, die Zusammenarbeit einer ganzen Reihe von Nationen und Volksstämmen im Rahmen eines einheitlichen proletarischen Staates auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens, auf der Grundlage des freiwilligen, brüderlichen Einvernehmens zu organisieren.1) So Stalin in einem Artikel in der Prawda vom 10. Oktober 1920.
Die Gründung und Entwicklung der Sowjetunion, des ersten sozialistischen Nationalitätenstaates der Welt, ist unlöslich mit dem theoretischen Denken und politischen Schaffen Stalins verbunden, und gerade darum ist er wohl auch der meistgehaßte und verleumdete Kommunist der internationalen Bourgeoisie und ihres reformistischen Anhangs. Lenin war ab 1922 krank, konnte nur noch zeitweilig auf den Prozeß der Herausbildung und Gründung der UdSSR Einfluß nehmen, wobei er nur unzureichende Informationen – und auch Desinformationen von Trotzki, Sinowjew und Ka-menjew, die entgegen ärztlichen Anweisungen seine Ruhe störten -2)erhielt. Nach dem Tode Lenins, am 21. Januar 1924, trug Stalin die höchste Verantwortung für die Entwicklung der Sowjetunion, in der die Lösung der Nationalen Frage in Rußland ihren konkreten Ausdruck fand.
In der deutschsprachigen Ausgabe der Stalin-Werke sind mehr als 40 Arbeiten zur nationalen Frage für die Zeit vom Oktober 1917 bis zum Tode Stalins enthalten: Reden, Aufsätze, Briefe, in denen sich theoretische und strategische Aussagen miteinander verbinden. Es empfiehlt sich, auch hier nach zwei Sachgebieten zu gliedern und innerhalb dieser chronologisch zu verfahren:
1. Die Ausarbeitung des Sowjetföderalismus – der „Autonomisierungsplan”;
2. über Sprachen und Kultur.
Bis zur Oktoberrevolution waren die Beiträge Stalins zur nationalen Frage Theorie, strategische Zielstellungen. Nach der Eroberung der politischen Macht, der Errichtung der Diktatur des Proletariats, mußte die Theorie in die Praxis umgesetzt werden, und zwar in einem ökonomisch rückständigen Agrarland, mit 85 % der Bevölkerung Analphabeten (in den nichtrussichen Gebieten bis zu 90% und darüber), in einer feindlichen kapitalistischen Umkreisung, zunächst unter den Bedingungen des Bürger- und Interventionskrieges, später unter den Bedingungen des Großen Vaterländischen Krieges und imperialistischer „roll-back”-Politik, der Bedrohung durch die Atombombe. Bereits fünf Wochen nach der Oktoberrevolution übermittelte der US-amerikanische Außenminister (Secretary of State), Robert Lansing, ein Memorandum an Präsident Wilson vom 10. Dezember 1917 mit der dringenden Empfehlung, die konterrevolutionären Generäle im Kampf gegen die Bolschewiki zu unterstützen. Lansing fertigte Kurzeinschätzungen von Kaledin, Alexejew, Broussilow und Kornilow an, wobei er dem Präsidenten vor allem General Kaledin als den „geeignetsten” für die bewaffnete Konterrevolution hervorhob.
Wilson stimmte den Vorschlägen Lansings zu und leitete alles Erforderliche dazu ein. Allerdings, so Lansing, wäre es „unklug”, Kaledin öffentlich zu unterstützen.
So sollten die Regierungen Englands und Frankreichs Kaledin finanzieren; die USA würden das Geld an diese Regierungen überweisen. Möglicherweise war dies die erste „covert action” (verdeckte Aktion) des US-amerikanischen Imperialismus, die im „Kalten Krieg” und auch danach zur „Normalität” US-amerikanischer Politik geworden ist.3) Bezüglich General Broussilow hatte sich Lansing allerdings geirrt: Broussilow entschied sich für das russische Volk und trat in die Rote Armee ein. Als befähigter General, von Lansing als der hervoragendste (most brilliant) General der russischen Armee bezeichnet, brachte er seine reichen Erfahrungen mit in die Ausbildung der Kavallerie der Roten Armee ein.
Mit der Schaffung eines sozialistischen Nationalitätenstaates beschritten die Bolschewiki Neuland. Die Theorien der Austromarxisten ließen sich nicht anwenden. Lenin (bis l922) und Stalin gebührt das Verdienst, aus der praktischen Politik des Aufbaus des sowjetischen Nationalitätenstaates ihre Erfahrungen theoretisch verallgemeinert, bisherige theoretische Erkenntnisse in der Praxis überprüft und, wo nötig, korrigiert zu haben.
Konnte ein solches gewaltiges Vorhaben ohne Fehler, Irrtümer und Rückschläge durchgeführt werden? Das hieße, an Wunder zu glauben, Stalin tatsächlich in einen „Gott” zu verwandeln, was er mit Empörung zurückgewiesen hätte. Dafür gibt es mehrfach Belege. Die Gründung der Sowjetunion war ein Jahrhundertereignis, dessen Auswirkungen auch noch das 21. Jahrhundert mitbestimmen werden. Einige Leute werden sich da noch sehr wundern.
Auf dem III. Allrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten (10. – 18. Januar 1918) unterbreitete Stalin einen Resolutionsentwurf über die föderalen Einrichtungen der russischen Republik.4) Es wurde bereits weiter oben darauf verwiesen, daß, ursprünglich die Föderation von Lenin und Stalin als für Rußland ungeeignet abgelehnt, bei Lenin Ende 1917/Anfang 1918 jedoch ein Wechsel seiner Überlegungen zugunsten des Föderalismus zu verzeichnen war. Mit dem von Stalin vorgelegten Entwurf wird deutlich, daß bezüglich der Föderation eine Übereinstimmung zwischen Lenin und Stalin bestand. Es ging nunmehr darum, den Föderalismus für Sowjetrußland zu konkretisieren. Diesem Ziel diente der Stalinsche Entwurf:
1. Grundlage der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik sei das freiwillige Bündnis der Völker Rußlands als Föderation der Sowjetrepubliken.
2. Höchstes Machtorgan ist der Allrussische Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten (im weiteren „Kongreß” genannt), der mindestens einmal in drei Monaten einberufen wird.
3. Der Kongreß wählt das Allrussische Zentralexekutivkomitee (ZEK). Zwischen den Tagungen des Kongresses ist das ZEK oberstes Machtorgan.
4. Die Regierung der Föderation, der Rat der Volkskommissare, wird im ganzen wie im einzelnen vom Kongreß oder vom ZEK gewählt und abgesetzt.
5. Nach Bildung der Sowjetrepubliken wird vom ZEK und den Zentralexekutivkomitees dieser Republiken der Modus festgelegt, „nach dem die Sowjetrepubliken der einzelnen Gebiete, der Gebiete, die sich durch eine besondere Lebensweise und nationale Zusammensetzung der Bevölkerung unterscheiden, an der föderalen Regierung teilnehmen und nach dem die Tätigkeitsbereiche der föderalen und der Gebietseinrichtungen der Russischen Republik voneinander abgegrenzt werden.”5)
Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und hier steckte er in dem noch festzulegenden „Modus”: Stalin wies in seinem Schlußwort zum Referat über die nationale Frage darauf hin, daß die Resolution kein Gesetz sei, und das eine „endgültig ausgefeilte Verfassung” nicht möglich sei, bevor der Kampf zwischen den beiden Strömungen – der „nationalistischen Konterrevolution” einerseits und der Sowjetmacht andererseits -, nicht beendet sei.6) Die bürgerliche Konterrevolution verstand es ausgezeichnet, sich ein „national-demokratisches Gewand” umzulegen und, unter Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht”, ihre Klassendiktatur gegen die Arbeiterklasse und andere werktätige Schichten zu errichten. Stalin wies in diesem Zusammenhang auf die konterrevolutionäre Tätigkeit der Rada in der Ukraine und des „Kaukasischen Kommissariats” hin; letzteres im November 1917 in Tiflis von Menschewiki, Sozialrevolutionären, Daschnaken und Mussawatisten gebildet. Die Frage der Föderation erwies sich ebenfalls als eine Klassen- und Machtfrage. Aus diesen Erfahrungen waren von den Bolschewiki die klassenmäßigen und machtpolitischen Schlußfolgerungen für die Föderation zu ziehen.7)
In einer Unterredung mit einem Mitarbeiter der Prawda am 3. und 4. April 1918 präzisiert Stalin seine Auffassungen über den sowjetischen Föderalismus. Er verglich noch einmal die Entwicklung in den USA und in der Schweiz mit Rußland. In den USA, wie auch in der Schweiz, sei die Entwicklung von der Konföderation über die Föderation zum Unitarismus verlaufen. In Rußland sei es umgekehrt. In Rußland seien die nationalen Gebiete gewaltsam in den gesamtrussischen politischen Organismus hineingepreßt worden. Der Unitarismus des Zarenreiches war ein erzwungener. In Sowjetrußland ginge es jetzt vom Unitarismus zum Föderalismus, aber, so betont Stalin, keine Konföderation, „keinen Bund einzelner selbständiger Staaten”.8) Diese Einschränkung von Stalin ist wichtig. Sie bildet den Kern seiner Konzeption der „Autonomisierung.”
Stalin betrachtete die Föderation ebenfalls nur als eine Übergangsstufe zum Unitarismus. „Hier wird der zaristische Zwangsunitarismus von einem freiwilligen Föderalismus abgelöst, damit der Föderalismus im Laufe der Zeit einer ebenso freiwilligen und brüderlichen Vereinigung der werktätigen Massen aller Nationen und Stämme Rußlands Platz mache. Dem Föderalismus in Rußland … ist es ebenso wie in Amerika und in der Schweiz beschieden, eine Übergangsstufe zu sein – zum künftigen sozialistischen Unitarismus.”9)
Auf den scharfen Klassenkampf zwischen Sowjetmacht und bürgerlicher Konterrevolution in den Randgebieten wies Stalin in einem Prawda-Artikel vom 9. April 1918 hin, wobei er weitere neue Akzente zur nationalen Frage, hier zur „Autonomie”, äußerte. Bürgerliche Kräfte suchten in den Randgebieten die Autonomie in ihrem Klasseninteresse auszunutzen, indem sie sich als Vertreter „nationaler” Interessen ausgaben. Dabei argumentierten sie nicht ungeschickt: Die zentrale Sowjetmacht erkannten sie an, aber nicht die örtlichen Sowjets. Die Frage der örtlichen Sowjets sei eine „innere Angelegenheit” und sie forderten „Nichteinmischung” der zentralen Sowjetmacht. Sie spielten die örtliche Selbstverwaltung gegen das Zentrum aus, um ihre bürgerlichen Klasseninteressen – „nationale Interessen”- durchzusetzen. So u.a. auch deren „Argument”, in der „Anti-Stalin”-Literatur, daß Stalin die „nationale Selbstbestimmung” in den Randgebieten mißachtet, zerstört habe, ein Repräsentant des großrussischen Chauvinismus gewesen sei etc. etc..
In Wirklichkeit ging es Stalin um die Umwandlung der bürgerlichen in eine sowjetische Autonomie, um die Selbstbestimmung des werktätigen Volkes, um die Beseitigung der bürgerlichen Klassendiktatur. Stalin ging sehr klug gegen die Konterrevolution vor. Er lehnte Forderungen einiger örtlicher Sowjets ab, die forderten, die nationale Frage mit „Waffengewalt” zu lösen. Eine solche „Lösung” hätte die Massen den bürgerlich-nationalistischen Oberschichten in die Arme getrieben, ihnen die Möglichkeit gegeben, sich als “Retter der Heimat”, der „Nation”, gegenüber den Werktätigen „bestätigt” zu sehen.10)
Auf diese Problematik kam Stalin wiederholt zurück; so in einigen Reden auf der Beratung über die Einberufung des konstituierenden Kongresses der Tatarisch-Baschkirischen Sowjetrepublik (10. – 16. Mai 1918). Die nationale Frage werde von der Bourgeoisie in ihrem Klasseninteresse ausgenutzt durch Schaffung von bürgerlichen autonomen Gruppen, die „nationale Räte”, „nationale Kurien” mit „nationalen Regimentern” und einem „nationalen Budget” bildeten. Das Wesen der bürgerlichen Autonomie beschrieb Stalin so: „Gebt uns die Autonomie, dann erkennen wir die zentrale Sowjetregierung an, die örtlichen Sowjets aber können wir nicht anerkennen; sie dürfen sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. Wir organisieren uns so, wie wir es wollen, wie wir es verstehen. Mit unseren nationalen Arbeitern und Bauern werden wir verfahren, wie uns beliebt.”11)
Ausführlich entwickelt Stalin seine Theorie der Autonomie: „Es gibt zwei Typen von Autonomie. Der erste Typ ist der rein nationalistische. Diese Autonomie ist in ihrem Aufbau exterritorial, sie beruht auf den Grundsätzen des Nationalismus… . Scheidung der Bevölkerung nach nationalen Kurien und hierbei unvermeidliche nationale Hader.” Dieser Typus führe zum Untergang der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten. „Diesen Typus von Autonomie lehnen wir grundsätzlich ab.” Der andere Typus ist der „der Autonomie von Gebieten, wo eine Nationalität oder einige Nationalitäten die Mehrheit bilden.” Also eine Gebietsautonomie, die „eine sowjetische Autonomie” sein muß, „gestützt auf die Deputiertensowjets.” Die Scheidung der Menschen des gegebenen Gebiets erfolge nicht nach nationalen, sondern nach Klassenmerkmalen.12)
Zugleich lehnte Stalin das „Zweikammersystem”, wie es in Nordamerika, Kanada und in der Schweiz existiere, zur „Abwürgung jeder revolutionären Tat” kategorisch ab; nicht nur, „weil der Sozialismus ein solches Zweikammersystem grundsätzlich ablehnt, sondern auch aus praktischen Erwägungen des gegenwärtigen Moments heraus.”13) Die Bourgeoisie sei zwar geschlagen, aber noch nicht niedergezwungen, die kapitalistische Welt zerstört, aber der Aufbau der neuen, sozialistischen Welt noch nicht vollendet. „In einem solchen Moment” bedürfe „das Land einer starken gesamtrussischen Macht.”14)
Die Zulassung souveräner Machtorgane in den einzelnen Gebieten neben der Zentralmacht würde in der Praxis den Zusammenbruch jeglicher Macht und die Rückkehr zum Kapitalismus bedeuten. Abschließend bemerkte Stalin, daß der bürgerliche Nationalismus den Arbeitern Europas noch immer den Kopf benebelt. „Der Nationalismus ist die letzte Stellung, aus der man die Bourgeoisie vertreiben muß, um sie endgültig zu besiegen.”15) Zugleich warnte er vor nationalem Nihilismus, der der Sache des Sozialismus nur schade, denn er arbeite den bürgerlichen Nationalisten in die Hände. Man müsse die nationale Frage im sozialistischen Sinne lösen, „sie in vollem Umfang und endgültig den Interessen der in den Sowjets organisierten werktätigen Massen unterordnen.”16)
Erste Erfahrungen mit der Gebietsautonomie faßte Stalin in einem längeren Prawda-Artikel vom 10. Oktober 1920 zusammen: „Die Sowjetautonomie ist nicht etwas Erstarrtes und ein ein für allemal Gegebenes; sie läßt die verschiedenartigsten Formen und Stufen ihrer Entwicklung zu. Von der engen, administrativen Autonomie (Wolgadeutsche‚ Tschuwaschen, Karelier) geht sie zu der umfassenderen, politischen Autonomie über (Baschkiren, Wolgatataren, Kirgisen), von der umfassenden, politischen Autonomie zu ihrer noch breiteren Form (Ukraine, Turkestan) und schließlich vom ukrainischen Typus der Autonomie zur höchsten Form der Autonomie, zum Vertragsverhältnis (Aserbaidshan). Diese Elastizität der sowjetischen Autonomie ist einer ihrer Hauptvorzüge, denn sie (die Elastizität) ermöglicht es, die ganze Mannigfaltigkeit der Randgebiete Rußlands zu erfassen, die auf den verschiedensten kulturellen und ökonomischen Entwicklungsstufen stehen.”17)
Die Autonomisierung verlief nicht konfliktlos. So sei die „administrative Neueinteilung Rußlands nach den Grundsätzen der sowjetischen Autonomie noch nicht beendet; …”18) die „administrative Karte des künftigen Rußlands” war für die Völker der Randgebiete noch nicht geregelt. Stalin wies auch auf Mängel in der Durchführung der administrativen Neueinteilung hin.
Probleme ergaben sich einerseits aus der Entfremdung und Abgeschlossenheit der Randgebiete, der dort noch anzutreffenden patriarchalischen Zustände und Kulturlosigkeit sowie aus dem Mißtrauen gegen das Zentrum als ein Erbe der bestialischen Politik des Zarismus. So gäbe es unter den einheimischen nationalen Massen „tiefstes Mißtrauen gegenüber allem Russischen…, ein Mißtrauen, das zuweilen in Feindseligkeit überging.”19) Wichtig sei, daß den Volksmassen die Sowjetmacht verständlich werde, daß sie ihr vertraut. Daher sei es notwendig, daß alle Sowjetorgane in den Randgebieten, Gericht, Verwaltung, Wirtschaftsorgane möglichst von Einheimischen gebildet werden; eine richtige Erkenntnis, die aber nicht so einfach zu realisieren war, da die Mehrheit der Massen in den Randgebieten Analphabeten waren. Die wirkliche Sowjetisierung dieser Gebiete sei „undenkbar ohne umfassende Organisierung von Schulen, ohne daß Gerichte, Verwaltungs- und Machtorgane usw. aus Menschen gebildet werden, die die Lebensweise und die Sprache der Bevölkerung kennen.”20)
Andererseits ergaben sich Probleme aus den Verhaltensweisen mancher Genossen, die die autonomen Republiken und die sowjetische Autonomie „als ein vorübergehendes, wenn auch notwendiges Übel” betrachteten, „das in Anbetracht bestimmter Umstände, zugelassen werden mußte, das man aber bekämpfen muß, um es mit der Zeit zu beseitigen.”21) Stalin wandte sich energisch gegen „die oftmals in grobe Taktlosigkeit ausartende Hast, die manche Genossen bei der Sowjetisierung der Randgebiete an den Tag” legten.22) Desgleichen seien „heroische Anstrengungen” zur Durchführung des „reinen Kommunismus” alles andere als der Sache förderlich.
Im Programm der KPR werde, auf Rücksichtnahme gegenüber den Reminiszenzen nationaler Gefühle, bei den werktätigen Massen der unterdrückten und nicht vollberechtigten Nationen orientiert.
Nicht wenige Probleme resultierten bei den – meist russischen – Parteifunktionären auch aus der Unwissenheit über die Sitten und Gebräuche der Bevölkerung der Randgebiete. So sei bei den aserbaidshanischen Massen die Wohnung als der „häusliche Herd” unantastbar, ja heilig. Da könne man nicht den direkten Weg der Wohnungsaufteilung gehen, sondern müsse nach anderen, der Bevölkerung verständlichen Formen der Wohnungsaufteilung suchen. Die von starken religiösen Vorurteilen angesteckten daghestanischen Massen folgten aufgrund des Sharias dem Kommunismus, so daß man keinen direkten Kampf gegen die religiösen Vorurteile führen dürfe, sondern indirekte, vorsichtigere Wege beschreiten müsse.
Es gab auch solche Widersinnigkeiten, wie z.B. die Forderung des Volkskommissariats für Ernährungswesen, auf dem Wege der Ablieferungspflicht Schweine in Kirgisien einzutreiben, wo die mohammedanische Bevölkerung niemals Schweine gehalten hat.23)
Die Konzeption der Autonomisierung war bei Stalin keineswegs abgeschlossen. Es gab noch eine Reihe offener Fragen; so, wie weit sollten die Rechte der autonomen Republiken gehen? Bezüglich Daghestans erklärte er auf einem Kongreß der Völker Daghestans am 13. November 1920 „daß die Autonomie Daghestans nicht seine Lostrennung von Sowjetrußland bedeutet… . Autonomie ist nicht Unabhängigkeit.”24) Eine „fertige” Konzeption für die Gründung einer Sowjetunion hatten 1920 weder Lenin noch Stalin.
In den vom ZK der KPR (B) bestätigten Thesen vom Februar 1921 „Über die nächsten Aufgaben der Partei in der nationalen Frage” begründet Stalin den Zusammenhang von Sowjetsystem und nationaler Freiheit. Die grundlegenden Voraussetzungen für die Beseitigung der nationalen Unterdrückung bildeten der Sieg der Sowjets und die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Dies hatte starke Auswirkungen auf die Völker des Ostens und auf die Arbeiter Europas gehabt, wie die zeitweiligen Räte in Ungarn, Bayern und Lettland zeigten. Das Bestehen der Sowjetrepubliken, ihre bloße Existenz, stelle für den Imperialismus eine tödliche Bedrohung dar. Um Fehlinterpretationen vorzubeugen: Gemeint ist die soziale Bedrohung durch das Beispiel. Die Sowjetrepubliken – wie später die sozialistische Staatengemeinschaft – bewiesen durch ihre Existenz und Entwicklung, daß eine sozialistische Gesellschaftsordnung möglich ist, daß es eine Alternative zum kapitalistischen System gibt; und nicht nur das, sondern daß der Sozialismus die einzig mögliche Alternative ist, wenn die Menschheit nicht in der Barbarei des Imperialismus verkommen will. Darum mußten die Sowjetrepubliken – wie später die DDR – von Anfang an „delegitimiert” werden.
„Diese Bedrohung besteht nicht nur darin,” schrieb Stalin, „daß die Sowjetrepubliken nach ihrem Bruch mit dem Imperialismus sich aus Kolonien und Halbkolonien in wirklich selbständige Staaten verwandelt und dadurch den Imperialisten ein zusätzliches Stück Territorium und zusätzliche Einkünfte genommen haben, sondern vor allem darin, daß allein schon das Bestehen der Sowjetrepubliken, jeder Schritt dieser Republiken auf dem Wege zur Niederhaltung der Bourgeoisie und zur Festigung der Diktatur des Proletariats die stärkste Agitation gegen Kapitalismus und Imperialismus darstellt – eine Agitation für die Befreiung der abhängigen Länder aus der imperialistischen Knechtschaft und einen unüberwindlichen Faktor der Zersetzung und Desorganisation des Kapitalismus in allen seinen Formen. Daher die Unvermeidlichkeit des Kampfes der imperialistischen ‘Groß’mächte gegen die Sowjetrepubliken, das Bestreben der ‘Groß’mächte, diese Republiken zu vernichten.”25) Daraus die Schlußfolgerung, daß sich „keine einzelne Sowjetrepublik, einzeln genommen, sich vor wirtschaftlicher Erschöpfung und militärischer Zerschlagung durch den Weltimperialismus sicher fühlen kann.” Ein „staatliches Bündnis der einzelnen Sowjetrepubliken” sei der einzige „Weg der Rettung vor imperialistischer Knechtung und nationaler Unterdrückung.”26) Die Föderation der Sowjetrepubliken sei die „allgemeine Form des Staatsverbandes”, die die Integrität und wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Republiken wie auch der Föderation gewährleiste, die ganze Mannigfaltigkeit der Lebensformen und Kultur der verschiedenen Nationen und Völkerschaften zu umfassen und dementsprechend die eine oder andere Art der Föderation anzuwenden, das friedliche Zusammenleben und die brüderliche Zusammenarbeit der Nationen und Völkerschaften zu gestalten. Die Erfahrungen, die Rußland mit der Anwendung verschiedener Arten der Föderation gemacht habe, hätten „die ganze Zweckdienlichkeit und Elastizität der Föderation als der allgemeinen Form des Staatsverbandes der Sowjetrepubliken vollauf bestätigt.”27) Stalin betonte hier wiederholt, daß „der freiwillige Charakter der Föderation unbedingt auch künftighin beibehalten werden” muß, wobei er „eine solche Föderation” als „die Übergangsform” zu „jener höheren Einheit der Werktätigen aller Länder in einer einheitlichen Weltwirtschaft” verstand.”28)
In seinem letzten Abschnitt wies Stalin auf die historisch bedingten ungeheuren Schwierigkeiten hin, die bei der Gestaltung der sowjetischen Föderation zu überwinden waren. Dazu gehörten die in den Randgebieten arbeitenden großrussischen Kommunisten, die unter den Bedingungen einer „Herrscher”nation aufgewachsen wären und wenig oder kein Verständnis für die nationalen Besonderheiten zeigten. In ihrer Parteiarbeit ziehen sie die historische Vergangenheit der betreffenden Nation nicht in Betracht, vugarisieren und verzerren die Politik der Partei in der nationalen Frage. Dies führe in Richtung eines großrussischen Chauvinismus.
Die aus der einheimischen Bevölkerung stammenden Kommunisten ständen noch unter dem Alpdruck der nationalen Unterdrückung durch den Zarismus und übertrieben die Bedeutung der nationalen Besonderheiten in der Parteiarbeit. So verwechselten sie die Interessen der Werktätigen der betreffenden Nation mit den „gesamtnationalen Interessen der gleichen Nation und tendierten zu einem bürgerlich-demokratischen Nationalismus, der im Osten mitunter die Form des Panislamismus bzw. des Panturkismus annehme.29)
In einigen rückständigen Gebieten, in denen fast kein Industrieproletariat existiere, drängten, vor allem nach den militärischen Erfolgen im Bürgerkrieg, kleinbürgerlich-nationalistische Elemente aus karrieristischen Gründen in die Partei. Mitunter drängten ganze Gruppen solcher Elemente in die Partei, die den Geist der Zersetzung hineintrügen. Da die Parteiorganisationen in den Randgebieten an sich schwach sind, sei die Versuchung groß, die Partei durch neue Mitglieder „zu erweitern.” Gegen diese pseudokommunistischen Elemente sei ein entschiedener Kampf zu führen. Vor der „Erweiterung” der Partei durch „kleinbürgerlich-nationalistische Intellek-tuellenelemente” wurde besonders gewarnt. Die Partei in den Randgebieten müsse hauptsächlich aus den Reihen der Proletarier, der Dorfarmut und der werktätigen Bauern aufgefüllt werden, wobei besonders auf die qualitative Zusammensetzung der Partei zu achten sei.30)
Mit der Gründung der UdSSR am 30. Dezember 1922 und der Ausarbeitung der ersten Verfassung der Sowjetunion fand die Ausarbeitung der Theorie des sowjetischen Föderalismus und der Sowjetautonomie ihre praktische Konkretisierung. Bekanntlich gab es bezüglich des maßgeblich von Stalin ausgearbeiteten „Autonomisierungsplan” Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und Stalin, die in der Anti-Stalin-Literatur zu „Gegensätzen” aufgebauscht werden.
Zu diesem Zweck wird einseitig auf Äußerungen des schwer kranken Lenins in seinen Aufzeichnungen (nach einer mit M.W. gezeichneten Niederschrift) vom 30. und 31. Dezember 1922 verwiesen, in denen er meinte, „offenbar” sei die „‘Autonomisierung’ von Grund aus falsch und unzeitgemäß” gewesen.31)
Unterschlagen oder nur gestreift wird dagegen der Brief Lenins an Kamenew vom 26. September 1922, aus dem hervorgeht, daß Lenin den „Autonomisierungsplan” nicht in seiner Gesamtheit, sondern lediglich in einer, allerdings sehr wesentlichen Frage, kritisiert, worüber er am gleichen Tage auch mit Stalin gesprochen habe. Stalin habe sich schon bereit erklärt, § 1 zu ändern, statt ‘Eintritt‘ in die RSFSR nunmehr ‘formelle Vereinigung zusammen mit der RSFSR zu einer Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens‘ zu setzen. Desgleichen müsse dann § 2 geändert werden, wo neben den ‘Sitzungen des Gesamtrussischen ZEK der RSFSR‘ eine Art von ‘Gesamtföderativem ZEK der Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens‘ zu schaffen wäre. Der zweite Teil von § 2 könne bleiben. Des weiteren schlug Lenin noch einige redaktionelle Änderungen vor, die nicht von grundsätzlicher Bedeutung waren.31a) Nach diesem Brief zu urteilen, war also der Autonomisierungsplan nicht „von Grund aus falsch”, wie Lenin nach den Aufzeichnungen vom 30./31. Dezember sich geäußert haben soll.
Dennoch ist es nicht unwichtig, sich die in diesen Aufzeichnungen wiedergegebene Argumentation Lenins etwas näher anzusehen: Er stellt einleitend fest, daß er aufgrund seiner Krankheit im Sommer, als diese Fragen diskutiert wurden, sich nicht „mit genügender Energie und Schärfe” in die Diskussion habe einmischen können.31b) Er habe lediglich mit Dzierzynski sprechen können, wie diese Frage im Kaukasus stehe und mit Sinowjew ein paar Worte wechseln können. Die Informationen, über die der kranke Lenin verfügte, waren also zumindest lückenhaft. Von Dzierzynski erfuhr er über scharfe Auseinandersetzungen im Kaukasus, in der sich Ordshonikidse zu physischer Gewaltanwendung habe hinreißen lassen. Letzteres hat mit dem Autonomierungsplan, ob richtig oder falsch, nichts zu tun. Handgreiflichkeiten sind kein Kriterium für die Richtigkeit einer Theorie. Lenin hielt die Autonomisierung „offenbar” für falsch. Also ganz sicher war er sich da auch nicht. Lenins Hauptgrund, warum er sich gegen § 1 des Autonomisierungsplanes ausgesprochen hatte, war die Beschaffenheit des sowjetischen Staatsapparats, der absolut nichts taugte, „vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt” war; eine Einschätzung, die von Stalin vollauf geteilt wurde. Wichtig ist der folgende Satz: „Zweifellos hätte man mit dieser Maßnahme so lange warten sollen, bis wir sagen konnten, daß wir uns für unseren Apparat wirklich wie für den eigenen verbürgen.” Also war der Zeitpunkt falsch gewählt, womit nichts gegen die Autonomisierung gesagt ist. Im Hinblick auf den Apparat meinte Lenin, daß die „Freiheit des Austritts aus der Union”, die der Autono-misierungsplan vorsah, sich „als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird.” Die Volkskommissariate, die mit der nationalen Mentalität, dem nationalen Bildungswesen zu tun hätten, seien aus dem Apparat ausgesondert worden. Es ergebe sich die Frage, ob man sie völlig aussondern könne, die Frage, ob die Nichtrussen tatsächlich vor dem echten Dershimorda tatsächlich geschützt seien. Er glaube, daß diese Maßnahmen nicht getroffen worden seien.
Lenin hatte also Fragen, er glaubte, mit anderen Worten, er drückte sich sehr vorsichtig aus. „Mir scheint, hier haben Stalins Eilfertigkeit und sein Hang zum Administrieren wie auch seine Wut auf den ominösen ‘Sozialnationalismus’ eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Wut ist in der Politik gewöhnlich überhaupt von Übel.”
Eilfertigkeiten, Hang zum Administrieren, Wut, – sicher keine schönen Eigenschaften und Stalin war kein Musterknabe. Aber sie haben nichts mit dem Autonomisierungsplan zu tun. Was die Verhältnisse im Kaukasus angeht, hatte Stalin mehr praktische Erfahrung als Lenin, und was Stalins „Wut” auf den „ominösen Sozialnationalismus” betrifft – so war diese „Wut” nicht ganz unberechtigt, denn die Bestrebungen konterrevolutionärer bürgerlicher Nationalisten gab es tatsächlich; genauso die Bestrebungen, sich mit imperialistischen Mächten militärisch gegen die Sowjetmacht zu verbinden.
Auch der Nationalismus einer unterdrückten Nation konnte für die Sowjetmacht lebensgefährlich werden. Die These Lenins, die auch von Stalin geteilt wurde, wonach man unterscheiden müsse zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation, ändert an diesem Sachverhalt gar nichts. Die Schaffung einer Militärbasis imperialistischer Mächte in einem Randgebiet – im Kaukasus – war für die Sowjetmacht existenzgefährdend; 68 Jahre später fand dieser Sachverhalt seine tragische Bestätigung.
Die Frage des Autonomisierungsplanes erwies sich als nicht so ganz einfach. Zunächst sei noch einmal daran erinnert, daß Lenin und Stalin bis 1917 eine Föderation für Rußland ablehnten, erst ab 1917 gab es bei Lenin Überlegungen in dieser Richtung, ab Januar 1918 auch bei Stalin.
Im August 1922 setzte das ZK der KPR (B) eine Kommission ein, die einen Resolutionsentwurf über die Beziehungen zwischen der RSFSR und den unabhängigen Republiken vorbereiten sollte. Der Kommission gehörten an: Stalin, W.W. Kuibyschew, G.K. Ordshonikidse, S.A. Agamaliogly (Aserbaidshan), A.F. Mjasnikow (Armenien), B.G. Mdiwani (Georgien), G.I . Petrowski (Ukraine) und A.G. Tscherwjakow (Belorußland). Diese Kommission billigte den Entwurf, den Stalin ausgearbeitet hatte. Dieser Autonomisierungsplan sah den Zusammenschluß der Republiken im Rahmen der RSFSR auf der Grundlage der Autonomie vor. Dieser Plan entsprach den Anschauungen vieler Partei- und Sowjetfunktionäre. Er entsprach den bisherigen Erfahrungen beim nationalstaatlichen Aufbau der RSFSR. Die innerhalb der RSFSR ansässigen Nationen und Nationalitäten entwickelten sich auf der Grundlage der Autonomie erfolgreich; sie förderte die Freundschaft zwischen den Großrussen und den Nichtrussen. So entstand der Vorschlag, das in der RSFSR bewährte System der Autonomisie-rung auch auf die Beziehungen zu den anderen Republiken auszudehnen. Die nicht wenigen Befürworter der Autonomisierung waren der Meinung, daß ein Nichtzustandekommen des Autonomisierungsplanes die Einheit der Sowjetrepubliken schwächen würde. Es gab unter ihnen nicht unberechtigte Befürchtungen, daß eine Betonung der Selbständigkeit der Republiken die Grundlagen des Internationalismus untergraben könnte, und den noch starken Einfluß ausübenden bürgerlichen Nationalisten Vorwände für ihre Angriffe auf die KPR (B), gegen die Sowjetmacht, geben würde. Die Nachteile dieses Planes bestanden darin, daß er zu Manifestationen von Großmachtchau-vinismus und lokalem Nationalismus führen könnte. Letzteres führte dann zu der bereits o.a. Kritik von Lenin an § 1 des Autonomisie-rungsplanes.
Der Entwurf fand ein geteiltes Echo unter den Kommunistischen Parteien der Republiken. Die ZK der KP Aserbaidshans und Armeniens stimmten dem Entwurf zu, desgleichen das Transkaukasische Regionskomitee. Das Zentralbüro der KP Belorußlands bevorzugte die Erhaltung der bisherigen vertraglichen Beziehungen, war also gegen den Entwurf. Das ZK der KP (B) der Ukraine gab keine Entscheidung und das ZK der KP Georgiens lehnte den Entwurf ab. Die tatarischen und baschkirischen Nationalisten vertraten offen separatistische Positionen: Sie forderten die Auflösung der RSFSR und die autonomen Republiken in Unionsrepubliken umzuwandeln.
Auf der Sitzung der Kommission des Organisationsbüros des ZK der KPR (B) am 23. und 24. September wurde der Entwurf zur Autonomisierung angenommen und gemeinsam mit den Resolutionen der kommunistischen Parteien Aserbaidshans, Armeniens und Georgiens Lenin zugeschickt. In der Zeit vom 25. bis 29. September besprach Lenin die Problematik mit Stalin, Mjasnikow, Ordshonjkidse, Sokolnikow, Mdiwani, Dumbadse, Zinzadse und Okudshawa. Lenin gelangte zu dem Schluß, anstelle § 1 des Autonomisierungsplanes die freiwillige Vereinigung der unabhängigen Republiken, einschließlich der RSFSR, zur Union Sozialistischer Sowjetrepubliken (UdSSR) unter Wahrung der Gleichberechtigung einer jeden Republik mit dem Recht auf Austritt aus der Union zu setzen.
Stalin und die Mitglieder der Kommission änderten den Autono-misierungsplan unter Berücksichtigung der Vorgaben Lenins. Der abgeänderte Entwurf wurde am 6. Oktober 1922 vom Plenum des ZK der KPR (B) angenommen. Es hat also Meinungverschiedenheiten zwischen Lenin und Stalin gegeben, aber keine Gegensätze. Die Autonomisierung in der RSFSR blieb erhalten, wo sie sich bewährt hatte. 32)
Der Fehler Stalins bestand im falschen Zeitpunkt für die Anwendung seines Autonomisierungsplanes auf die Sowjetrepubliken als Methode der Vereinigung; er war „unzeitgemäß”, wie Lenin sagte. Beide, Lenin und Stalin, waren für eine unitare sozialistische Sowjetrepublik. Im Unterschied zu Stalin sah Lenin aber, daß der Weg dahin nur über die „freiwillige Vereinigung unabhängiger Republiken” führen könne. Gegen die Autonomisierung innerhalb der RSFSR sowie der anderen Sowjetrepubliken gab es von Lenin keine Einwände.
In einem Interview für die Prawda vom 18. November 1922 und in seinem Referat auf dem X. Allrussischen Sowjetkongreß am 26. Dezember 1922 ging Stalin auf Einzelheiten des Vereinigungsprozesses ein, in der er die Leninsche Konzeption umsetzte. Die Vereinigung der Republiken sei keine Wiedervereinigung oder Verschmelzung mit Rußland, wie es mit der Fernöstlichen Republik der Fall war. Letztere unterschied sich von den nationalen Republiken. Die Fernöstliche Republik war während des Bürger- und Interventionskrieges als eine Art Pufferstaat gegründet worden. Der überwiegende Teil ihrer Bevölkerung bestand aus Russen. Sie konnte, als die außenpolitischen Verhältnisse dies ermöglichten, ohne weiteres aufgelöst und in die RSFSR eingegliedert werden. Die nationalen Republiken abschaffen zu wollen wäre eine „reaktionäre Donquichotterie.”33) Der Vertrag über die Vereinigung umfasse die RSFSR (als ungeteiltes föderales Gebilde), die Transkaukasische Föderation34) (ebenfalls als ungeteiltes föderales Gebilde), die Ukraine und Belorußland. Die (noch nicht sozialistischen) Volksrepubliken Buchara und Choresm blieben noch außerhalb der Vereinigung. Mit ihnen bestanden vertragliche Beziehungen.
Die höchsten Organe der UdSSR seien das ZEK der Union, das „von den zur Union gehörenden Republiken proportional der von ihnen vertretenen Bevölkerung gewählt wird, und der Rat der Volkskommissare der Union, der vom ZEK der Union als sein Vollzugsorgan gewählt wird.” Es folgt dann die Verteilung der Funktionen, was zentral vom ZEK der Union, was von den Republiken geleitet werden sollte.35) Nach dem vorgesehenen Wahlmodus hätten die Großrussen die stärkste Repräsentation in den Machtorganen der Union. Das war wohl der Grund dafür, daß es „die Auffassung” gab, daß neben den beiden Unionsorganen noch ein drittes Unionsorgan geschaffen werden müsse, als „obere Kammer”, in der jede Nationalität mit einer gleichen Anzahl von Deputierten vertreten sein sollte.36) Stalin meinte, daß diese Auffassung in den nationalen Republiken keine Sympathie finden würde, „weil ein Zweikammersystem mit einer oberen Kammer unvereinbar ist mit dem Sowjetaufbau”, aber einschränkend fügte er hinzu, „wenigsten im gegebenen Stadium seiner Entwicklung.”37) Soweit Stalin eine zweite Kammer im Sinne eines „Herrenhauses” zur Abblockung progressiver oder gar revolutionärer Gesetze eines unbotmäßigen „Unterhauses” im Auge hatte, war seine Ablehnung begründet. Gemeint war aber von den Vertretern dieser „Auffassung” ein Nationalitätensowjet, wie er ein Jahr später in der ersten Verfassung eingeführt wurde. Stalin mochte befürchtet haben, daß ein solcher Nationalitätensowjet von bürgerlichen Nationalisten für separatistische und/oder konterrevolutionäre Machenschaften mißbraucht werden könnte. Günde für derartige Befürchtungen gab es.
Die Gründung der UdSSR bedeutete einen Höhepunkt in der Lösung der nationalen Frage; abgeschlossen war sie damit nicht. Auf dem XII. Parteitag der KPR (B) (17. – 25. April 1923) hielt Stalin das Referat zur nationalen Frage. Er betonte, „entweder stellen wir hier, im Rahmen dieser Union, wirklich brüderliche Beziehungen zwischen den Völkern, eine wirkliche Zusammenarbeit her – und dann wird der ganze Osten sehen, daß er in Gestalt unserer Föderation ein Banner der Befreiung, einen Vortrupp besitzt, dem er folgen muß, und das wird der Beginn des Zusammenbruchs des Weltimperialismus sein. Oder wir begehen hier einen Fehler, untergraben das Vertrauen der ehemals unterjochten Völker zum Proletariat Rußlands, nehmen der Union der Republiken die Anziehungskraft, die sie im Osten besitzt – und dann wird der Imperialismus gewinnen, dann werden wir verlieren.”38) Stalin sollte auch hier Recht behalten. Mit der Zerstörung der Bündnisbeziehungen zur VR China durch Chruschtschow, der Aufgabe der Unterstützungen für die nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen durch Gorbatschow, dem Nationalismus eines Schewardnadse und anderer, wurde die Niederlage der sowjetischen Föderation besiegelt. Die Sowjetunion hatte ihre Anziehungskraft auf die vom Imperialismus abhängigen Länder eingebüßt.
Die Übergabe der eigenen Volkskommissariate für Außenhandel der nationalen Republiken an ein gemeinsames Außenhandelskommissariat der Union sei natürlich eine gewisse Beschränkung der Unabhängigkeit. Man dürfe die Frage nicht scholastisch stellen, ob die Republiken nach der Vereinigung unabhängig blieben. „Ihre Unabhängigkeit wird beschränkt, denn jede Vereinigung bedeutet eine gewisse Beschränkung der vorhergehenden Rechte derer, die sich vereinigt haben. Aber die grundlegenden Elemente der Unabhängigkeit bleiben fraglos für jede Republik erhalten; hat doch jede Republik das Recht auf einseitigen Austritt aus der Union.”39) Wiederholt wandte sich Stalin gegen die Gefahren, die vom großrussischen Chauvinismus und von den nationalen Nationalismen ausgingen. Stalin verwies auf Georgien: Die Bevölkerung bestehe zu 30 % aus Nichtgeorgiern, darunter Armenier, Abchasen, Adsharen, Osseten, Tataren. Bei einem Teil der georgischen Kommunisten zeigten sich chauvinistische Auswüchse gegenüber diesen Nationalitäten, „ein schädlicher und gefährlicher Chauvinismus, denn er kann die kleine Georgische Republik in einen Schauplatz der Zwistigkeiten verwandeln und hat sie übrigens schon in einen solchen Schauplatz verwandelt.”40) Ähnliche Konflikte gab es auch in anderen Republiken. Der Chauvinismus war nicht nur eine üble Eigenschaft unter den Großrussen, ihn gab es auch unter den anderen Nationalitäten der UdSSR. Als besonders gefährlich bezeichnete Stalin die Bestrebungen georgischer Nationalisten, die unter Verletzung aller Gesetze gegen die Föderation kämpften, um aus der Union ausscheiden zu können und eine privilegierte Stellung gegenüber der Aserbaidshanischen und Armenischen Republik zu erzwingen. Es ist verständlich, daß diese georgischen Chauvinisten innerhalb der KP Georgiens den Beifall und die Unterstützung der georgischen und internationalen Konterrevolution erhielten.
Die UdSSR war zwar gegründet, aber sie war noch nicht gefestigt. Es war dies einer der Gründe, daß Stalin in seinem Referat „die Einrichtung eines besonderen Organs, einer zweiten Kammer innerhalb des ZK der Union als eines absolut notwendigen Organs” forderte.41) Damit hatte Stalin seine ursprünglichen Bedenken gegen eine „zweite Kammer” aufgegeben. „Ich will nicht behaupten”, erklärte Stalin dazu, „daß dies die vollkommene Form sei, die Zusammenarbeit zwischen den Völkern der Union zu regeln; ich will nicht behaupten, daß dies das letzte Wort der Wissenschaft sei. Wir werden die nationale Frage noch mehr als einmal behandeln, denn die nationalen und internationalen Verhältnisse ändern sich und können sich weiter verändern.” 42)
Im Schlußwort ging Stalin noch auf Unklarheiten in der nationalen Frage bei Bucharin und Rakowski ein: Unter der richtigen Prämisse, daß den nationalen Minderheiten nicht Unrecht getan werden dürfe, entwickelten sie eine „neue Theorie”, wonach das großrussische Proletariat gegenüber den ehemals unterdrückten Nationen „rechtlich” benachteiligt werden sollte. Eine Redewendung Lenins habe Bucharin in eine ganze Losung verwandelt.43) Rakowski, und besonders Bucharin beantragten, den Punkt über die Schädlichkeit des lokalen Chauvinismus zu streichen. Bucharin habe jahrelang gegen die Nationalitäten gesündigt und das Selbstbestimmungsrecht verneint. Jetzt meint er, „Buße zu tun”. Aber die Partei habe seit ihrer Gründung (1898) das Selbstbestimmungsrecht anerkannt und somit keinen Grund, „Buße zu tun”. „Die Sache ist die, daß Bucharin das Wesen der nationalen Frage nicht begriffen hat.”44)
Es sei Pflicht der nichtrussischen Kommunisten, gegen den lokalen Chauvinismus zu kämpfen. Würden die russischen Kommunisten den Kampf gegen den tatarischen oder georgischen Chauvinismus aufsichnehmen, würde dieser Kampf als Kampf eines großrussischen Chauvinismus gegen die Tataren oder Georgier aufgefaßt werden. Führen wir den Kampf nur gegen den großrussischen Chauvinismus, würde dieser Kampf den Kampf der tatarischen und anderen Chauvinisten verdecken. Darum müsse der Kampf an zwei Fronten geführt werden, gegen den großrussischen Chauvinismus, „der die Hauptgefahr in unserer Aufbauarbeit bildet”, und gegen den lokalen Chauvinismus. „… Ohne diesen zweifachen Kampf wird der Zusammenschluß der russischen Arbeiter und Bauern mit den Arbeitern und Bauern anderer Nationalitäten nicht gelingen.”45)
Walter Laqueur, einer der „Stalin”-Kritiker der Glastnostperiode, äußerte Verwunderung, daß sich Stalin 1950, in dem Jahr, als der Koreakrieg „ausbrach”, „einen plötzlichen Vorstoß in das Feld der Linguistik wagte.” Laqueur fand auch gleich „die einzig wahrscheinliche Erklärung für diese Ergüsse”, nämlich in dem „Ehrgeiz” Stalins, neben Marx und Lenin auch als gleichrangiger Theoretiker in die Geschichte einzugehen.1)
So die „sachkundige” Kritik Laqueurs an Stalins Artikelserie „Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft”, Juni bis August 1950 geschrieben. Dies nur nebenbei: Der Koreakrieg war nicht einfach „ausgebrochen”, sondern war eine von den USA unter Mißbrauch der UNO-Flagge durchgeführte Aggression. Allerdings hat Stalin in dieser Frage einen ernsten Fehler begangen: Durch Abberufung des sowjetischen Vertreters aus dem Sicherheitsrat der UNO hat sich die Sowjetregierung der Möglichkeit beraubt, durch ihr Veto einen Mißbrauch der UNO-Flagge zu erschweren, wenn nicht sogar zu verhindern.1a) Stalin unternahm auch keinen „plötzlichen Vorstoß in das Feld der Linguistik”. Dies ist eine der üblichen Unterstellungen. Stalin betonte ausdrücklich: „Ich bin kein Sprachforscher.” Er habe aber, was den Marxismus in der Sprachwissenschaft wie auch in anderen Gesellschaftswissenschaften betreffe, „direkt damit zu tun.”2)
Es ging Stalin also um Fragen der Theorie des Marxismus, nicht um theoretische Fragen auf dem „Feld der Linguistik”. Stalins Artikelserie ist also als ein Beitrag zur Theorie des Marxismus-Leninismus zu verstehen und nicht zur Sprachwissenschaft, wenn letztere auch dabei tangiert wird. Laqueur muß allerdings einräumen, daß Stalin schon früher über die Nationalitätenfrage geschrieben habe, aber! Stalin sei „ein unbegabter Amateur” geblieben; seine Artikel enthielten „keine einzige neue Idee.”3) Vielleicht hat Laqueur wirklich keine „neuen Ideen” gefunden und lastet die eigenen Erkenntnisschranken nun Stalin an.
Stalin hat sich mit dem Srachenproblem nicht erst 1950 beschäftigt. Die Sprachenfrage war eine der brisantesten Fragen des sozialistischen Aufbaus in einem Multi-Nationalitätenstaat und ist es auch heute noch in solchen Staaten wie Indien. Diese Brisanz aus der revolutionären Tätigkeit und der Praxis des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR erfahren zu haben und diese Erfahrungen zumindest im Ansatz politisch gelöst und theoretisch verallgemeinert zu haben, gehört zu den Leistungen Stalins. Es wäre ein Wunder, wenn in der Lösung dieser äußerst komplizierten Probleme keine Fehler unterlaufen wären, vor denen auch Stalin nicht gefeit war. Man kann nicht oft genug betonen, daß es keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet gab. Im Vergleich mit den Arbeiten der Austromarxisten über die Rolle der Sprache im Kontext ihrer Theorie der „national-kulturellen Autonomie” oder Kautskys Auffassung über eine zukünftige „Einheitssprache”, sind Stalins Arbeiten über das Sprachenproblem wissenschaftliche Spitzenleistungen, die mehr als eine „neue Idee” enthalten. Die Artikelserie „Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft” von 1950 stellt den Abschluß diesbezüglicher Arbeiten dar, die zumindest seit 1923 nachweisbar sind.
Auf der vierten Beratung des ZK der KPdSU (B) mit Funktionären der nationalen Republiken und Gebiete im Juni 1923 nahm die Frage der allmählichen Einführung der Muttersprache der einheimischen Bevölkerung in den „Geschäftsbereich” (als Amtssprache, U.H.) eine Schlüsselstellung ein. Die verantwortlichen Funktionäre in den nationalen Gebieten, fast ausschließlich Russen, wurden verpflichtet, die Muttersprache der einheimischen Bevölkerung zu lernen.4) Diese Forderung wurde von Stalin bis an sein Lebensende mehrfach mit Nachdruck wiederholt. Er hatte die Gefahren rechtzeitig erkannt, die aus der Vernachlässigung dieser Forderung erwachsen würden. In den Schulen sei der Unterricht in der Muttersprache zu erteilen, wobei das Netz der in der Muttersprache tätigen Lehranstalten zu erweitern sei. Die politische Erziehungsarbeit müsse in der Muttersprache erfolgen. Dafür müsse marxistische Literatur in der Muttersprache herausgegeben werde. Ein Netz von Vereinigungen sei zu schaffen, die der einheimischen Bevölkerung Lese- und Schreibunterricht in der Muttersprache erteilen.5)
In seiner Rede „über die Aufgaben der Universität der Völker des Ostens” am 18. Mai 1925 ging Stalin ausführlich auf die Dialektik von nationaler und proletarischer Kultur ein. Das Problem bestand darin, wie sich der Aufbau der nationalen Kultur mit dem Aufbau des Sozialismus, der Entwicklung der proletarischen Kultur vereinbaren ließ. In der Lösung dieses dialektisch-widersprüchlichen Problems spielte die Muttersprache eine entscheidende Rolle. Die „ihrem Inhalt nach sozialistische, proletarische Kultur bei den verschiedenen Völkern, die in den sozialistischen Aufbau einbezogen sind,” nimmt verschiedene Ausdrucksformen und eine unterschiedliche Ausdrucksweise an, „je nach den Unterschieden in der Sprache, der Lebensweise usw.”6) Ursprünglich war die Losung der nationalen Kultur eine bürgerliche, solange die Bourgeoisie an der Macht war, die Konsolidierung der Nationen unter der Ägide der Bourgeoisie verlief. Nunmehr, unter den Bedingungen des Sozialismus sei die Losung der nationalen Kultur zu einer proletarischen geworden.
Stalin wandte sich gegen die Auffassung Kautskys, wonach in der Periode des Sozialismus eine „allgemeinmenschliche Einheitssprache” entstehen werde und alle anderen Sprachen absterben würden. Die bisherigen Erfahrungen hätten dagegen gezeigt, „daß die sozialistische Revolution die Zahl der Sprachen nicht vermindert, sondern vermehrt hat, denn dadurch, daß sie die tiefsten Tiefen der Menschheit aufrüttelt und auf die politische Arena bringt, erweckt sie eine Reihe neuer, früher gar nicht oder wenig bekannter Nationalitäten zu neuem Leben.
Wer hätte gedacht, daß das alte zaristische Rußland nicht weniger als 50 Nationen und nationale Gruppen umfaßte? Die Oktoberrevolution hat jedoch dadurch, daß sie die alten Ketten gesprengt und eine ganze Reihe vergessener Völker und Völkerschaften auf den Plan gerufen hat, diese zu neuem Leben erweckt und ihnen neue Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Heute spricht man von Indien als einem einheitlichen Ganzen. Es ist jedoch kaum daran zu zweifeln, daß im Falle einer revolutionären Erschütterung in Indien Dutzende von bis dahin unbekannten Nationalitäten auf den Plan treten werden, die eine eigene Sprache sprechen, eine eigene Kultur besitzen. Und wenn es sich darum handelt, die proletarische Kultur zum Gemeingut der verschiedenen Nationalitäten zu machen, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß dies in Formen vor sich gehen wird, die der Sprache und Lebensweise dieser Nationalitäten entsprechen.”7)
Nun haben sich die Sprachen nach der Oktoberrevolution natürlich nicht vermehrt; sie waren schon vorher vorhanden, aber sie waren bis dahin unbekannt. Jedoch hatte Stalin die Kompliziertheit des Sprachenproblems erfaßt, nämlich den entscheidenden Umstand, daß sich kein Volk, keine Nationalität den Marxismus außerhalb seiner historisch entstandenen Psyche, der eigenen Sprache, aneignen kann.
Nach der Enzyklopädie der UdSSR wurden von den Völkern der Sowjetunion über 200 Sprachen gesprochen, die verschiedenen Sprachsystemen angehörten.8) Außer den 45 namentlich genannten Nationalitäten in der Enzyklopädie lebten in der RSFSR noch verschiedene Volksstämme und Volksgruppen.9)
Die Mehrzahl der Sprachen dieser Volksgruppen besaßen jedoch kein Schrifttum. Bei den Völkern, die über Schrifttum verfügten, zum Beispiel das Arabische, betrug die Zahl der Lese- und Schreibkundigen höchstens 1 – 2 %. Für die meisten dieser Sprachen mußte erst ein Schrifttum geschaffen werden.10) Mit welchen Buchstaben? Nach welcher Grammatik? Die meisten dieser Sprachen, wie auch das Arabische, kannten keine Begriffe und Termini der modernen Wissenschaften und Technik, ganz zu schweigen vom begrifflichen Instrumentarium des Marxismus-Leninismus. Nicht wenig Sprachen dienten nur der mündlichen Verständigung in Alltagsfragen. Schulunterricht in der Muttersprache war nur in solchen Republiken und nationalen Gebieten möglich, die über eine entwickelte Sprache verfügten; in vielen Fällen konnte der Unterricht nur in der Unterstufe in der Muttersprache erteilt werden, weil eine Terminologie für Wissenschaften in der Muttersprache nicht vorhanden war und auch nicht geschaffen werden konnte. So mußte in der Oberstufe der Unterricht in russischer Sprache erteilt werden. Damit entstand das Problem der Zweisprachigkeit. Zugang zu Wissenschaft und Technik war in der Sowjetunion nur über die russische Sprache möglich. Zuweilen wurden russische Wörter in andere Sprachen aufgenommen, wie auch umkehrt, so daß eine Bereicherung des Wortschatzes stattfand, andererseits starben auch Sprachen kleinerer Volksgruppen aus.
Ein Schrifttum zu schaffen war das eine. Es mußten aber auch Zeitungen, Bücher, Zeitschriften gedruckt, d.h. Verlage für Schriften in der Muttersprache geschaffen, Lehrer ausgebildet werden. Dafür mußten erhebliche finanzielle Mittel aufgebracht werden. Auch in diesem weltgeschichtlich wirklich erst – und bis jetzt einmaligen Unternehmen waren Fehler nicht vermeidbar.
Wenn die Marxismusrezeption abhängig ist von der nationalen Psyche und Sprache, dann sind zugleich Abweichungen und „nationale” Interpretationen des Marxismus-Leninismus unvermeidlich. Die unverzichtbare Forderung nach „Zweisprachigkeit” wurde sehr oft von russischen Funktionären als „Einbahnstraße” verstanden.
Stalin kannte das Problem und bekämpfte sowohl die eine als auch die andere Abweichung, weil beide für den Bestand der Sowjetunion äußerst gefährlich waren. Seine mehrfach wiederholten Mahnungen, daß die russischen Sowjetfunktionäre in den nationalen Gebieten die Sprache der Bevölkerung lernen müssen, konnte er bis zu seinem Tode nicht durchsetzen. Desgleichen wurde die Aneignung der russischen Sprache als Zweitsprache für die nichtrussischen Nationalitäten nie voll verwirklicht. Ende der 70er Jahre beherrschten nur 62,2 % der nichtrussischen Bevölkerung frei die russische Sprache. Zum Teil verlief die Entwicklung sogar rückläufig. In einigen Republiken beherrschte die junge Generation die russische Sprache schlechter als die mittlere.
In Parteidokumenten der KPdSU in den 70er und 80er Jahren fanden sich wiederholt Hinweise auf die Notwendigkeit, Russisch als Zweitsprache zu erlernen, aber, im Unterschied zu Stalin, keine Hinweise, daß die Russen die Sprache derjenigen Nation als Zweitsprache erlernen sollten, in deren Gebiet sie lebten. Gerade die in kleinen Republiken oder autonomen Gebieten lebenden Russen sprechen meistens nicht die Sprache der Stammnation. Das hatte besonders in den baltischen Staaten zur Entfremdung zwischen Russen und den Bürgern der baltischen Nationen geführt, ein Gefühl der „Russifizierung” erzeugt. In Estland hatten Esten und Russen ursprünglich gemeinsame Kinderkrippen und Kindergärten, lebten auch in gemeinsamen Wohngebieten. Das hatte sich im Laufe der 70er und 80er Jahre verändert. Estnische und russische Bildungseinrichtungen waren jetzt oftmals getrennt. In Tallin existierten estnische und russische Wohngebiete, zwischen denen es keine Kommunikationspunkte, kaum Kontakte gab.
Gravierende Versäumnisse auf dem Gebiet der Nationalitätenpolitik in der Breshnew-Ära und der Perestroika-Periode im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Problemen, Disproportionen zwischen Bildungs- und Anforderungsniveau, ungleiche Entwicklung der Republiken und nationalen Gebiete, haben Voraussetzungen für Entfremdungsprozesse zwischen den Nationen und Ethnien geschaffen, ließen alte Feindschaften, die zur Regierungszeit Stalins weitgehend überwunden werden konnten, wieder aufleben. Durch die konterrevolutionäre Politik Gorbatschows wurde der Boden für einen explosiven Nationalismus bereitet, der sich nach der Zerstörung der sowjetischen Staats- und Parteiinstitutionen entladen konnte.
Wenn Hitler als Repräsentant des faschistischen deutschen Imperialismus bei seinem verbrecherischen Überfall auf die Sowjetunion mit einem Auseinanderbrechen der Nationalitäten gerechnet hat, wurde er bitter enttäuscht. Der Zusammenhalt der Völker der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg war Ergebnis Stalinscher Nationalitätenpolitik. Vereinzelte Ausnahmen rückständiger Krim-Tataren und ukrainischer Kollaborateure ändern nichts an diesem Sachverhalt.
In einem Brief an Kaganowitsch und andere Mitglieder des Politbüros des ZK der Kommunistischen Partei Ukraine (B) vom 26. April 1926 wies Stalin auf ernste Probleme bezüglich der nationalen Politik der Partei in der Ukraine hin.. Man müsse unterscheiden zwischen der Ukrainisierung der Apparate und der Ukrainisierung des Proletariats. Die Bewegung für eine ukrainische Kultur, für ein ukrainisches öffentliches Leben, habe begonnen, aber sie dürfe „auf keinen Fall fremden Elementen” überlassen bleiben.11) Unter russischen Partei- und Sowjetfunktionären gebe es eine Tendenz, die ukrainische Kultur im „Geiste der Ironie und des Skeptizismus” zu betrachten. So schwierig es sei, Kader auszuwählen und auszubilden, die fähig seien, die neue Bewegung in der Ukraine zu leiten, so müsse man unter Einhaltung eines bestimmten Tempos die Apparate der Partei und des Staates und anderer, die für die Bevölkerung arbeiten, ukrainisieren. Man dürfe aber nicht das Proletariat „von oben her ukrainisieren. Man darf die russischen Arbeiter nicht zwingen, auf die russische Sprache und die russische Kultur zu verzichten und die ukrainische Kultur und Sprache als die ihrige anzuerkennen. Das widerspricht dem Prinzip der freien Entwicklung der Nationalitäten. Das wäre nicht nationale Freiheit, sondern eine eigentümliche Form der nationalen Unterdrückung. Es steht außer Zweifel, daß die Zusammensetzung des ukrainischen Proletariats sich in dem Maße ändern wird, wie sich die Ukraine industriell entwickeln wird, wie ukrainische Arbeiter aus den umliegenden Dörfern in die Industrie strömen werden. Es steht außer Zweifel, daß das ukrainische Proletariat sich ukrainisieren wird, ebenso wie das Proletariat, sagen wir, in Lettland und in Ungarn, das eine Zeitlang deutschen Charakter hatte, sich später zu lettisieren beziehungsweise zu madjarisieren begann. Das ist aber ein lang währender, elementar verlaufender, natürlicher Prozeß. Diesen elementaren Prozeß durch eine gewaltsame Ukrainisierung des Proletariats von oben her ersetzen wollen – heißt eine utopische und schädliche Politik betreiben, die in den nichtukrainischen Schichten des Proletariats der Ukraine einen antiukrainischen Chauvinismus hervorrufen kann.”12) Es sei zu beachten, daß diese Bewegung für die ukrainische Kultur und ein ukrainisches öffentliches Leben „meistens von nichtkommunistischen Intellektuellen geleitet wird” und „manchenorts den Charakter eines Kampfes für die Absonderung der ukrainischen Kultur und des ukrainischen öffentlichen Lebens von der Kultur und des öffentlichen Lebens des gesamten Sowjetlandes, den Charakter eines Kampfes gegen ‘Moskau’ überhaupt, gegen die ‘Russen’ überhaupt, gegen die russische Kultur und ihre höchste Errungenschaft, den Leninismus, annehmen kann. Ich brauche nicht den Beweis zu führen, daß diese Gefahr in der Ukraine immer realer wird.”13)
In einem Artikel in der ukrainischen Presse habe der Kommunist Chwilewoi die Forderung nach „unverzüglicher Entrussifizierung des Proletariats in der Ukraine” erhoben, die „ukrainische Poesie … so schnell wie möglich von der russischen Literatur … frei zu machen.14)
Stalin hatte die Gefahren, die für die Sowjetunion von dem nichtrussichen, in diesem Fall dem ukrainischen Nationalismus ausgingen, rechtzeitig erkannt. Ihm war bewußt, daß sich diese Probleme nicht mit Gewalt „von oben” her lösen ließen, sondern nur langfristig durch eine ausgewogene nationale Politik.
In mehreren Briefen, Artikeln und Reden in der Zeit zwischen September 1927 und Juli 1930 ging Stalin ausführlich auf das bereits weiter oben erwähnte Problem einer „Einheitssprache” in der Welt ein.15)
Er ging zunächst von den konkreten Verhältnissen des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR aus und erklärte, daß in der Sowjetunion keine allgemein-menschliche Einheitssprache geschaffen werde. Selbst nach einem Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab würden noch lange nationale und staatliche Unterschiede bestehen. In der UdSSR sei die nationale Unterdrückung verschwunden, aber die nationalen Unterschiede seien nicht verschwunden, die Nationen haben nicht aufgehört zu bestehen, und sie seien auch noch nicht miteinander verschmolzen, die nationalen Sprachen nicht verschwunden. Er bezweifelte nach wie vor die Theorie von der „allumfassenden Einheitssprache.”16) Dafür sei der Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab die Voraussetzung; doch davon könne keine Rede sein. (1929 U.H.) Stalin meinte, daß Kautsky nicht begriffen habe, „wie kolossal groß die Stabilität der Nationen” sei.17) Von den bisherigen Erfahrungen in der UdSSR ausgehend erkannte Stalin, daß damit noch nicht die Bedingungen für die Verschmelzung der Nationen und nationalen Sprachen gegeben seien; im Gegenteil, eine Wiedergeburt und ein Aufblühen der Nationen sei erkennbar.18)
Die nationalen Sprachen verfügten über eine „außerordentliche Stabilität und kolossale Widerstandskraft” gegen jedwede Assimilierungspolitik.19) Stalin verwies noch auf die Erfahrungen der „Assimilierungspolitik” der Türken, auf dem Balkan und die „Russifizierungs”-Politik in Polen und Georgien, die gescheitert seien.
Erst in einer zweiten Etappe, der Periode der „Weltdiktatur des Proletariats”, würde „sich eine Art gemeinsamer Sprache” herauszubilden beginnen, um den Verkehr untereinander, die wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenarbeit zu erleichtern. Aber auch in dieser zweiten Etappe würden die nationalen Sprachen neben einer gemeinsamen internationalen Sprache existieren.
Stalin erwähnte die (1929 bemerkenswerte U.H.) Möglichkeit, daß sich „mehrere zonale Wirtschaftszentren für einzelne Gruppen von Nationen mit einer besonderen, für jede Gruppe von Nationen gemeinsamen Sprache und daß sich diese Zentren erst späterhin zu einem gemeinsamen sozialistischen Wirtschaftszentrum mit einer für alle gemeinsamen Sprache vereinigen werden.”20) Zu betonen ist hier die Formulierung von Stalin „Es ist möglich…”; d.h., die hier geäußerte Möglichkeit trägt den Charakter einer wissenschaftlich begründeten Spekulation, die auch andere Möglichkeiten offen läßt. Stalin nennt auch keine Fristen für die Realisierung einer solchen Möglichkeit. Wichtig ist noch sein Hinweis, den er im Schlußwort auf dem XVI. Parteitag der KPdSU (B) äußerte, wonach diese „gemeinsame Sprache” in einer „entfernteren Perspektive” weder das Großrussische noch das Deutsche sein wird, sondern etwas Neues.21) Der Hinweis auf das Deutsche war gegen die Theorie Kautskys gerichtet, der meinte, daß ein Sieg der proletarischen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts in einem vereinigten österreichisch-deutschen Staat zum Aufgehen der Nationen in einer einheitlichen deutschen Nation mit einer deutschen Einheitssprache und zur Germanisierung der Tschechen hätte führen müssen. Marx und Engels sprachen während der Revolution 1848/49 den Tschechen die Fähigkeit zur Nationsbildung ab.
Marx und Engels vertraten in der Revolution zwar die „großdeutsche” Lösung der nationalen Frage, verstanden dabei aber nur die Einbeziehung der deutschsprachigen Teile Österreichs, allerdings unter Einschluß der Tschechen. Die Entwicklung verlief bekanntlich anders: in der „kleindeutschen” Lösung durch „Blut und Eisen”, in der „Revolution von oben” unter preußischer Hegemonie.
Unter gänzlich anderen Bedingungen, des imperialistischen Weltsystems in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, kam Samuel P. Huntington in seinem umstrittenen Buch „The Clash of Civilisations…” zu ähnlichen Erkenntnissen bezüglich der Sprachenfrage wie Stalin. Huntington polemisierte gegen die These, wonach die Herausbildung einer „universalen Zivilisation” Tendenzen zu einer „universalen Sprache” erzeuge. Die universale Sprache sei nach dem Herausgeber des „Wall Street Journal” die englische Sprache.22) Demgegenüber weist Huntington nach, daß der Anteil der Englischsprechenden an der Weltbevölkerung von 1958 bis 1992 von 9,8 % auf 7,6 % zurückgegangen ist, während der Anteil der Sprecher anderer Sprachen an der Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum zugenommen habe; so Arabisch von 2,7 % auf 3,5 %‚ Bengali von 2,7 % auf 3,2 %‚ Hindu von 5,2 % auf 6,4 %‚ Spanisch von 5 % auf 6,1 %.23) Natürlich ging Huntington bei seinen Berechnungen nicht von einer zukünftigen sozialistischen Weltgesellschaft aus.
Offenbar ist die Frage nach dem zukünftigen Schicksal der Sprachen ein noch ungelöstes Problem. Stalin gebührt das Verdienst, hierfür einen wissenschaftlich begründeten Vorlauf geschaffen und die marxistisch-leninistische Theorie bereichert zu haben.
Die von Laqueur bemäkelten Artikel Stalins „Über den Marxismus in der Sprachwissenschaft” aus dem Jahre 1950 bilden den Abschluß seiner Arbeiten zum Sprachenproblem aus marxistisch-leninistischer Sicht.
Neben dem Problem der Möglichkeit der Verschmelzung der Sprachen in einer sehr weit entfernten Zukunft, in einer kommunistischen Weltwirtschaft, zu dem sich Stalin in den weiter oben bereits reflektierten früheren Arbeiten geäußert hat, sind es drei neue Fragen, die in der sowjetischen Sprachwissenschaft diskutiert wurden, zu denen er sich ausführlich äußerte: (1.) Ist die Sprache ein Teil des Überbaus? (2.) Trägt die Sprache „Klassencharakter”? Gibt es eine Klassensprache? (3.) Über Unterschiede in der Semantik.
Schon aus den Themen wird deutlich, daß es sich hierbei primär um Fragen des dialektischen und historischen Materialismus handelt und erst in zweiter Linie Fragen der Sprachwissenschaft betrifft.
(1.) Sprache als Teil des Überbaus? Stalin verneint diese These. Während der Überbau von der ökonomischen Basis hervorgebracht werde und auf diese zurück wirke, sei die Sprache nicht durch diese oder jene Basis hervorgebracht worden, sondern durch den ganzen Gang der Geschichte. Sie sei das „Produkt einer ganzen Reihe von Epochen”. Basis und Überbau entstünden und vergingen, die Sprachen blieben in ihren Grundstrukturen, Wortschatz und Grammatik, erhalten, dienten allen Klassen, wären gemeinsame Sprache des ganzen Volkes, trotz Klassenspaltung und Klassenkampf.24)
Zwischen Sprache und Produktionsinstrumenten gäbe es eine gewisse Analogie, da beide klassenindifferent seien, verschiedenen Klassen dienen würden; aber deswegen könne man die Sprache nicht zur Kategorie der Produktionsinstrumente rechnen. Mit Produktionsinstrumenten werden materielle Güter erzeugt, mit der Sprache einzig und allein Worte. Wenn die Sprache materielle Güter erzeugen könnte, wären die Schwätzer die reichsten Menschen in der Welt.25) Die Sprache sei unmittelbar mit der Produktionstätigkeit der Menschen verbunden. Ändere sich diese, so spiegele sich dies in der Sprache durch neue Worte, Termini, wider, ohne die Grundstruktur der Sprache zu verändern.26)
(2.) „Klassencharakter” der Sprache. Diese These sei falsch. Es gäbe zwar „Klassen”dialekte, „Salon”sprachen der herrschenden Oberschicht der Bourgeoisie bzw. des Feudaladels; im Gegensatz dazu eine „Prole-tarier”sprache, „Bauern”sprache; aber solche Erscheinungen dürften nicht mit der Nationalsprache verwechselt oder gleichgestellt werden. Die genannten „Dialekte”, „Jargons” (Letzteres wäre die korrektere Bezeichnung) hätten weder eine eigene grammatische Struktur noch einen eigenen grundlegenden Wortschatz. Diese „Jargons” hätten nur einen sehr engen Anwendungsbereich unter den Angehörigen dieser oder jener Klasse. Stalin unterschied jedoch zwischen den „Klassen”dialekten, den „Klassen”jargons und den lokalen (territorialen) Dialekten. Die letzteren „dienen den Volksmassen und haben einen grammatikalischen Bau und einen eigenen grundlegenden Wortschatz. Infolgedessen können einige lokale Dialekte im Prozeß der Bildung von Nationen zur Grundlage von Nationalsprachen werden und sich zu selbständigen Nationalsprachen entwickeln.
So war es zum Beispiel in der russischen Sprache mit dem Kursker-Orjoler Dialekt (der Kursker-Orjoler ‘Sprache’), der zur Grundlage der russischen Nationalsprache wurde. Das gleiche muß man von dem Poltawaer-Kiewer Dialekt der ukrainischen Sprache sagen, der zur Grundlage der ukrainischen Nationalsprache wurde. Was die übrigen Dialekte solcher Sprachen betrifft, so verlieren sie ihre Selbständigkeit, gehen in diese Sprachen ein und verlieren sich in ihnen.”26) Diese Darstellung von Stalin wird von Laqueur als „schlichtweg peinlich” empfunden27), wobei er eine Begründung für seine „Kritik” schuldig bleibt.
Dieser als „Beispiel” verwendete Hinweis Stalins auf den „Kursker-Orjoler Dialekt” ist nicht falsch. Er stimmt im wesentlichen überein mit dem damaligen Stand der sowjetischen Sprachwissenschaft. Der russische Sprachwissenschaftler Grigorij Ossipowitsch Vinokur (1896 – 1947) erklärte, „daß die Wissenschaft von der russischen Sprache eine ganz gründliche und klare Antwort auf diese Frage (der Entstehung der russischen Sprache. U.H.) bisher nicht zu geben vermag”.27a) In seiner sehr gründlichen Untersuchung der russischen territorialen Dialekte verwies er auf den bedeutenden Einfluß der südrussischen Dialekte, darunter auf den von Orjol/Kursk.27b) Nach der Konzeption des russischen Sprachforschers Shachmatov, den Vinokur zitiert, waren die nördlichen und südlichen (Kursk/Orjol) Mundarten, mit dem Streifen des mittelrussischen Mundart dazwischen, „die Grundlage für die Entwicklung der heutigen russischen (großrussischen) Sprache…”. Als „grundlegende Mundarten” bezeichnete Shachmatov die nördliche und südliche (Kursk/Orjol).27c) Vinokur meinte jedoch, daß in „dieser Konzeption Shachmatovs… vieles auf kühnen und durchaus nicht augenscheinlichen Vermutungen” beruhe. 27d)
Auch der von Stalin erwähnte Poltawaer-Kiewer Dialekt als Grundlage der ukrainischen Sprache erweist sich als sachlich richtig. Darauf verweist der in der DDR und BRD bekannte Slawist Reinhold Trautmann, der sich, neben anderen russischen Sprachwissenschaftlern, ebenfalls auf Shach-matov stützt, der „die Sprache der Stadt Kijev” als „die Grundlage in unserer Zeit” bezeichnete. Nach „ihren linguistischen Grundlagen war die Sprache Kijevs die Sprache des südrussischen Stammes der Poljanen…”.27e)
In Übereinstimmung mit Vinokur und Shachmatov weist Trautmann ebenfalls auf die Bedeutung des Kursker-Oreler Dialekts für die südgroßrussischen Dialekte und diese wiederum für das großrussische Sprachgebiet hin.27f)
Die Hinweise von Stalin auf die Kreuzung von Dialekten, dem Entstehen und Absterben von Sprachen in seinen Artikeln sind sachlich richtig und beweisen, daß er auf der Höhe der sowjetrussischen Sprachwissenschaft seiner Zeit stand. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er auch die Arbeiten von Vinokur und Shachmatov kannte. Das einzige, was man an seiner Arbeit kritisieren kann, ist, daß er mit dem Beispiel des Kursker-Orjoler Dialekts eine starke Vereinfachung vorgenommen und keine Fußnote gesetzt hat. Letzteres ist jedoch in Zeitungsartikeln auch nicht die Regel.
Stalin kritisierte die Auffassungen einiger Genossen, wonach die Interessengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der Klassenkampf zwischen ihnen, zum Zerfall der Gesellschaft, zum Abbruch jedweder Beziehung zwischen den feindlichen Klassen führen würde, es also somit keine „einheitliche Gesellschaft” und auch keine „einheitliche Sprache”, „keine Nationalsprache” mehr nötig sei. Es blieben nur „Klassen” und „Klassensprachen” übrig. Demnach, so Stalin, gäbe es eine „bürgerliche” und „proletarische” Grammatik? Solange Kapitalismus existiere, seien Bourgeoisie und Proletariat als „Teile der einheitlichen kapitalistischen Gesellschaft durch alle Fäden der Wirtschaft miteinander verbunden…”. Der Abbruch jedweder wirtschaftlichen Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital würde zur Einstellung jedweder Produktion, zum Untergang der Gesellschaft, der Klassen selbst, führen.
Man dürfe Sprache nicht mit Kultur verwechseln. Es gäbe zwar eine bürgerliche und eine sozialistische Kultur, aber die Sprache als Mittel des Verkehrs des gesamten Volkes könne sowohl der bürgerlichen als auch der sozialistischen Kultur dienen.
Während sich die Kultur ihrem Inhalt nach verändere, bliebe die Sprache über mehrere Zeitperioden die gleiche.28) Es gäbe auch weder einen „plötzlichen” Tod noch einen „plötzlichen” Aufbau einer neuen Sprache. Stalin hielt auch die These von Lafargue für falsch, der meinte, daß die Große Französische Revolution zu einer „Sprachrevolution” geführt habe. (Lafargue: Die französische Sprache vor und nach der französischen Revolution). Der Wortbestand der französischen Sprache sei in dieser Periode mit neuen Ausdrücken, Wörtern ergänzt worden, eine Anzahl veralteter Wörter seien in Fortfall gekommen und die Bedeutung wieder anderer Wörter habe sich verändert. Aber grammatischer Bau und grundlegender Wortschatz seien in der Revolutionsperiode nicht verschwunden, sondern ohne wesentliche Veränderungen erhalten geblieben.
Der Übergang der Sprache von einer alten zu einer neuen Qualität vollzöge sich nicht durch eine Explosion, durch Vernichtung der bestehenden und Schaffung einer neuen Sprache, sondern durch allmähliche Ansammlung von Elementen einer neuen Qualität, folglich durch ein allmähliches Absterben der Elemente der alten Qualität.
In der Geschichte gäbe es auch zahlreiche Fälle von Sprachkreuzungen. Auch solche Sprachkreuzungen erfolgten nicht durch Explosionen. Sie seien ein langwieriger Prozeß, der Jahrhunderte währte. Gewöhnlich ginge bei einer Kreuzung die eine Sprache als Sieger hervor, bewahre ihren grammatikalischen Bau, ihren grundlegenden Wortschatz und entwickele sich nach den innewohnenden Gesetzmäßigkeiten weiter, während die andere Sprache allmählich absterbe. Aus der Kreuzung ergebe sich keine neue, dritte Sprache, sondern sie läßt eine der Sprachen bestehen. Allerdings erfolge eine gewisse Bereicherung der „siegreichen” Sprache auf Kosten der „besiegten”.29)
(3.) Unterschiede in der Semantik. Den Kern dieses Abschnitts bildet die Auseinandersetzung mit Auffassungen des sowjetischen Sprachwissenschaftlers N.J. Marr, nach denen das Denken von der Sprache zu trennen sei, der Verkehr der Menschen auch ohne Sprache. mit Hilfe des Denkens erfolgen könne.30) Diese Auffassungen bezeichnete Stalin als falsch. „Welche Gedanken im Kopf des Menschen auch immer entstehen mögen, sie können nur auf der Grundlage der sprachlichen Termini und Sätze entstehen und existieren. Gedanken, frei von sprachlichem Material, frei von der sprachlichen ‘natürlichen Materie’, gibt es nicht. ‘Die Sprache ist die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens’ (Marx).31) Die Realität des Gedankens offenbart sich in der Sprache. Nur Idealisten können … von einem Denken ohne Sprache sprechen”.32)
Stalin konnte sich in seiner Argumentation auf die einschlägige Passage aus der „Deutschen Ideologie”, „Sankt Max”, stützen.33)
Ideen, Vorstellungen, Sitten und Sittenprinzipien tragen Klassencharakter, der sich auf die semantische Seite der Sprache – manchmal auch auf ihre Form und ihren Wortbestand – auswirkte. „… die Klassen beeinflussen die Sprache, sie tragen in die Sprache ihre spezifischen Wörter und Ausdrücke hinein, und zuweilen verstehen sie die gleichen Wörter und Ausdrücke verschieden.”34) Daraus folge jedoch nicht, „daß die spezifischen Wörter und Ausdrücke, ebenso wie die Verschiedenheit in der Semantik, ernsthafte Bedeutung für die Entwicklung einer einheitlichen Sprache des gesamten Volkes haben können, daß sie deren Bedeutung abzuschwächen oder ihren Charakter zu verändern vermögen.”35) Sie seien so selten, daß sie kaum ein Prozent des gesamten sprachlichen Materials ausmachen. Diese „spezifischen Wörter und Ausdrücke, die eine klassenmäßige Nuancierung besitzen”, werden „in der Rede nicht nach den Regeln irgendeiner ‘Klassen’grammatik, die es in der Wirklichkeit nicht gibt, sondern nach den Regeln der Grammatik der bestehenden Sprache des gesamten Volkes verwendet.”36)
Folgt man dem Kontext dieser Artikelserie von Stalin, dann wird klar, warum er sie geschrieben hat. Es ging ihm nicht, wie Laqueur bösartig unterstellt, um seinen „Ehrgeiz” zu befriedigen, als „Theoretiker neben Marx und Lenin in die Geschichte einzugehen” – solche Allüren hatte Stalin nicht nötig – sondern um die Bekämpfung von Erscheinungen der Aufweichung, der Relativierung der marxistischen Theorie, gegen Erscheinungen des Formalismus in der sowjetischen Sprachwissenschaft bei einigen Linguisten. Daraus erklärt sich auch die teilweise Schärfe der Polemik, vor allem gegen Positionen des philosophischen Idealismus, wie sie in einigen Arbeiten von N.J. Marr vertreten wurden. Stalin hatte ein sehr feines Gespür für linke und rechte Abweichungen vom Marxismus-Leninismus und hatte die Gefahren, die für die Sowjetunion daraus erwachsen konnten, wenn man sie nicht entschieden bekämpft, erkannt. Mögen einige Formulierungen in seiner Artikelserie überzogen sein, in ihrer Grundtendenz waren sie richtig und ein Beitrag zur Entwicklung sowohl zur marxistisch-leninistischen Theorie als auch zur sowjetischen Sprachwissenschaft.
Ulrich Huar, Berlin
Anmerkungen (Quellennachweise)
Einleitung; und: Zur Methodik der Aufsätze
1) Zitiert nach „Unsere Zeit” (UZ) 4. August 2000.
2) Siehe: Isaak Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie. Berlin 1990. Boris Souvarine: Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus. München 1980. Ernest Mandel: Trotzki als Alternative. Berlin 1993.
3) A. Solschenizin: Der Archipel Gulag. 3 Bände. München 1974 – 1976.
4) Dimitri Wolkogonow: Triumph und Tragödie. Politisches Porträt des J.W. Stalins in zwei Bänden. 1. Auflage. Berlin 1990.
5) Walter Laqueur: Stalin. Abrechnung im Zeichen von Glasnost. München 1990. S. 80.
6) Siehe Kurt Gossweiler: Wider den Revisionismus. München 1997. Ders.: Benjamin Baumgarten und die „Stalin-Note.” In: Streitbarer Materialismus, Nr. 22. Mai 1998. Ders.: Der Anti-Stalinismus – das Haupthindernis für die Einheit aller antiimperialistischen Kräfte und der kommunistischen Bewegung. In: Schriftenreihe der Kommunistischen Partei Deutschlands, Heft 15. Ders.: Vor 60 Jahren: Dimitroff zur Auflösung der Kommunistischen Internationale. In: Weißenseer Blätter, Heft 4/2001. Ders.: Vor 60 Jahren IV: Dimitroffs Warnung vor imperialistischen Geheimdiensten. Oder: Wie der Browderismus nach Europa verpflanzt wurde. Teil 1 in „Offensiv” Heft 11/2001, November-Dezember 2001, Teil 2 in „Offensiv” Heft 2/2002, Januar-Februar 2002. Ders.: Genosse Domenico Losurdos „Flucht aus der Geschichte”, „Offensiv” Heft 10/2001. Hans Heinz Holz: Stalin als Theoretiker des Leninismus. In: Streitbarer Materialismus. Nr. 22. Mai 1998. Ders.: Ein Brief zum Streit um den Antistalinismus und seiner Überwindung. In: Weißenseer Blätter, Heft 1/1995. Jelena & Alexander Charlamenko: Revolution und Konterrevolution in Rußland. Essen 2001. Ludo Martens: Die UdSSR und die samtene Konterrevolution. EPO-Verlag Berchem/Belgien 1993. Ders.: Stalin anders betrachtet. EPO-Verlag, Brüssel/Antwerpen 1998. H. Wauer/E. Friedweg: Die Wahrheit über Stalin. Entlarvung der heimtückischen und verlogenen Geheimrede Chruschtschows an den XX. Parteitag der KPdSU. In: Schriftenreihe der Kommunistischen Partei Deutschlands (weiterhin „Schriftenreihe…” bezeichnet), Nr. 41, Berlin Juni 1998. Die Wahrheit über Stalin. Gespräch mit Richard Iwanowitsch Kosolapow. In: Schriftenreihe… Nr. 45, Berlin September 1998. Die Wahrheit über Stalin. Er führte die Sowjetunion zum großen Sieg. Gespräch von Viktor Koschemjako mit den Autoren des Buches „Stalin als Feldherr” Wladimir Suchodejew und Boris Solowjew. In: Schriftenreihe… Nr. 55, Berlin August 1999. Gedanken und Meinungen zum Wirken und Schaffen von J.W. Stalin. In: Schriftenreihe… Nr. 60, Berlin Februar 2000. Von Nina Andrejewa, Generalsekretärin der Kommunistischen Allunionspartei Bolschewiki, Aufsätze und Reden in der Schriftenreihe… Nr. 2, 8, 13, 16, 36, 53.
7) Alan Posener: Stalin/Roosewelt. Hamburg 1993, S. 13.
8) Wolkogonow, a.a.O., S. 195.
9) Ebd. S. 186.
10) Ebd. S. 191.
11) Ebd. S. 26.
12) Valentin Falin: Politische Erinnerungen. München 1993, S. 506.
13) Ebd. S. 425.
14) Zitiert nach „Unsere Zeit” (UZ) 2. August 2000.
15) Stalin-Werke, Dietz Verlag, Berlin 1953: Bd. 9, S. 24.
16) Isaak Deutscher. a.a.O., S. 280.
Stalins Beiträge zur Theorie der nationalen Frage
I. Von 1904 bis zur Oktoberrevolution
1) Trilogie über Stalin. Interview. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus. Heft 3, März 1989. S. 425.
2) SW 1/28 – 48.
3) Ebd. S. 71 und 75 f.
4) SW 2/266 – 333.
5) W.I. Lenin: Das nationale Programm der SDAPR. In: Lenin-Werke. Deutschsprachige Ausgabe des Dietz Verlags, Berlin. (weiterhin LW genannt) Bd. 19, S. 535. Hervorhebung von mir.
6) LW 35/66. Hervorhebung im Original.
7) A.G. Löwy: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Wien 1969. Neuauflage Wien 1990. S. 42.
8) Isaak Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie. Berlin 1990. S. 169.
9) SW 2/267.
10) SW 2/272.
11) Ebd. S. 275.
12) Siehe Alfred Kosing: Nation in Geschichte und Gegenwart. Berlin 1976. S. 115 f.
13) Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Dietz Verlag Berlin. (weiterhin MEW genannt) Bd. 20, S. 77.
14) SW 2/278.
15) Ebd. S. 279.
16) Ebd. S. 281.
17) Ebd. S. 283 f.
18) Ebd. S. 284.
19) Ebd.
20) Ebd. S. 285.
21) Ebd. S. 286.
22) Ebd. S. 287.
23) Ebd.
24) Ebd. S. 291.
25) SW 2/263 f.
26) Siehe Lenin: Thesen zur nationalen Frage. LW 19/233 – 241. Resolutionen der Sommerberatung des Zentralkomitees der SDAPR. Resolution zur nationalen Frage. September 1913. Ebd. S. 419 – 422. Über die „national-kulturelle” Autonomie, 28. November 1913. Ebd. S. 498 – 502. Das nationale Programm der SDAPR. Dezember 1913. Ebd. S. 535 – 541.
27) SW 2/296 Hervorhebung im Original.
28) Ebd. S. 297.
29) Ebd. S. 300.
30) MEW 4/479.
31) SW 2/302.
32) MEW 1/347 – 377.
33) Siehe Theodor Herzl: Der Judenstaat. Leipzig/Brünn 1903. Ob Stalin diese Schrift kannte, ist mir nicht bekannt. Er hat sie nicht erwähnt.
34) SW 2/305.
35) Ebd. S. 310 f.
36) Ebd. S. 312.
37) Ebd.
38) Ebd. S. 314.
39) Ebd.
40) Ebd. S. 316.
41) Ebd. S. 318. Hervorhebung im Original.
42) Ebd. S. 319. Hervorhebung im Original.
43) Ebd. S. 320.
44) Ebd. S. 323.
45) Ebd. S. 324.
46) Ebd.
47) Ebd. S. 328. Hervorhebung im Original.
48) Ebd. S. 329. Hervorhebung im Original.
49) Ebd. S. 330. Hervorhebung im Original.
50) Ebd. S. 331. Hervorhebung im Original.
51) SW 3/25. Dieser Brief ist in der deutschsprachigen Ausgabe der Lenin-Werke nicht enthalten.
52) LW 25/460. SW 3/26. F. Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891. In: MEW 22/235 f.
53) SW 3/26.
54) LW 26/422. SW 3/27.
55) SW 3/21.
56) Ebd. S. 23.
57) Ebd. S. 24. Hervorhebung im Original.
57a) SW 4/28.
58) SW 3/46
59) Ebd. S. 47.
60) Ebd.
61) Ebd. S. 48.
62) Ebd. S. 49.
63) Ebd. S. 50.
64) Ebd.
65) Ebd. S. 51.
66) Ebd. S. 52.
II. Von der Oktoberrevolution bis März 1953
1) SW 4/319.
2) Siehe „Die Wahrheit über Stalin”. Gespräch mit Richard Iwanowitsch Kosolapow. In: Schriftenreihe der Kommunistischen Partei Deutschlands. Heft 45. Berlin September 1998, S. 16.
3) Papers relating to the Foreign Relations of the United States. The Lansing Papers 1914 – 1920. Washington, D.C.: US Gouvernement Printing Office, 1940, Vol II. pp. 343 – 345.
4) SW 4/28.
5) Ebd.
6) Ebd. S. 29.
7) Ebd. S. 29 – 32.
8) Ebd. S. 60.
9) Ebd. S. 64. Hervorhebung im Original.
10) Ebd. S. 65 – 68.
11) Ebd. S. 75.
12) Ebd. S. 76 f.
13) Ebd. S. 77.
14) Ebd.
15) Ebd. S. 79.
16) Ebd. S. 80.
17) Ebd. S. 312.
18) Ebd. S. 313.
19) Ebd. S. 314.
20) Ebd. S. 316.
21) Ebd. S. 315 f.
22) Ebd. S. 318.
23) SW 5/36.
24) SW 4/349.
25) SW 5/17 f.
26) Ebd.
27) Ebd. S. 19 f.
28) Ebd. S. 20.
29) Ebd. S. 23 f.
30) Ebd. S. 24 f.
31) LW 36/590.
31a) LW, Ergänzungsband 1917 – 1923, Berlin 1973, S. 443 ff.
31b) LW/590 ff. Alle folgenden Lenin-Zitate aus diesen Aufzeichnungen. Hervorhebungen von mir.
32) Zu diesen historischen Exkurs siehe Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in sechs Bänden. Bd. IV, Erstes Buch, Moskau 1973, S. 224 – 227. I.B. Berchin: Geschichte der UdSSR 1917 – 1970. Berlin 1971, S. 254 – 260.
33) SW 5/125.
34) Ebd. S. 136. Die Transkaukasische Föderation umfaßte Georgien, Armenien und Aserbaidshan. Ab 1936 bildeten sie Unionsrepubliken. Die administrative Gliederung der Sowjetunion hat seit ihrer Gründung mehrfach Veränderungen erfahren, bis sie 1990 von Jelzin in einem konterrevolutionären Putsch zerstört wurde.
35) SW 5/126 und 134.
36) Ebd. S. 126 f.
37) Ebd. S. 127. Hervorhebung im Original.
38) Ebd. S. 209.
39) Ebd. S. 213.
40) Ebd. S. 218 f.
41) Ebd. S. 228.
42) Ebd.
43) Ebd. S. 231.
44) Ebd. S. 233.
45) Ebd. S. 234.
III. Zum Sprachenproblem
1) Walter Laqueur: Stalin. Abrechnung im Zeichen von Glasnost. München 1990, S. 262
1a) Siehe Andrej Gromykow: Erinnerungen. Düsseldorf, Wien, New York. 1989. S. 148 ff.
2) SW 15/164.
3) Laqueur, a.a.O., S. 263.
4) SW 5/261 f.
5) Ebd. S. 263.
6) SW 7/119.
7) Ebd. S. 120.
8) Enzyklopädie der Union der Sozialistischen Sowjet Republiken. Bd. II. Berlin 1950. Spalte 1695.
9) Ebd. Bd. 1. Spalte 45.
10) Siehe ebd. Bd. II. Spalte 1702 ff.
11) SW 8/133.
12) Ebd. S. 134.
13) Ebd. S. 135.
14) Ebd.
15) Siehe SW 10/130 – 132; SW 11/298 – 317; SW 13/3 – 6.
16) Siehe SW 7/120; SW 11/307 f.
17) SW 11/308.
18) Ebd.
19) SW 11/310.
20) SW 11/312.
21) SW 13/4.
22) Samuel P. Huntington: The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order. Simon & Schuster UK. Ltd. London /Sydney. Paperback by Touchstone 1998. S. 59.
23) Tabellen von Huntington, S.60 f. Table 3.1. Speakers of Major Languages
Language 1958 1970 1980 1992
Arabic 2,7 2,9 3,3 3,5
Bengali 2,7 2,9 3,2 3,2
English 9,8 9,1 8,7 7,6
Hindi 5,2 5,3 5,3 6,4
Mandarin 15,6 16,6 15,8 15,2
Russian 5,5 5,6 6,0 4,9
Spanish 5,0 5,2 5,5 6,1
Table 3.2. Speakers of Principal Chinese and Western Languages
1958 1992
Language No. of Speakers Percentage No. of Speakers Percentage
(in millions) of World (in millions) of World
Mandarin 444 15,6 907 15,2
Cantonese 43 1,5 65 1,1
Wu 39 1,4 64 1,1
Min 36 1,3 50 0,8
Hakka 19 0,7 33 0,6
Chinese Langua. 581 20,5 119 18,8
English 278 9,8 456 7,6
Spanish 142 5,0 382 6,1
Portuguese 74 2,6 177 3,0
German 120 4,2 119 2,0
French 70 2,5 123 2,1
Western Langua. 684 24,1 1237 20,8
World total 2845 44,5 5979 39,4
24) SW 15/164 – 172.
25) Ebd. S. 204.
26) Ebd. S. 211 f.
27) Laqueur, a.a.O., S. 263.
27a) Grigorij Vinokur: Die russische Sprache. Übertragen von Reinhold Trautmann. Leipzig 1949. S. 19.
27b) Ebd. S. 16.
27c) Ebd. S. 20.
27d) Ebd. S. 21.
27e) Reinhold Trautmann: Die slavischen Völker und Sprachen. Eine Einführung in die Slavistik. Leipzig 1948. S. 148 f.
27f) Ebd. S. 160 f.
28) SW 15/173 – 183.
29) Ebd. S. 192 – 195.
30) Ebd. S. 206.
31) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Das Leipziger Konzil. III. Sankt Max. In: MEW 3/432. Hier heißt es: „Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache.” Stalin hat offenbar die russische Übersetzung benutzt. Von dort aus wurde sie wieder ins Deutsche rückübersetzt, so daß das Subjekt an den Anfang des Satzes gestellt wurde.
32) SW 15/206 f.
33) Die deutsche Ideologie, a.a.O., S. 432 ff.
34) SW 15/208.
35) Ebd.
36) Ebd.
Redaktionsnotitz 05/02
Wer die Zukunft gewinnen will, muss die Vergangenheit begreifen.
Diese sehr allgemeine Einsicht werden mit Sicherheit sehr viele Menschen als richtig ansehen.
Der Genosse Dr. Helmut Gregor ist tot!
Der Genosse Dr. Helmut Gregor ist tot!
Helmut Gregor ist am 2. März 2002 in Berlin-Weißensee seinem schweren Krebsleiden erlegen.
Wir verlieren mit ihm einen aufrechten, aktiven und erfahrenen Genossen. Er hat bei uns zwei Sonderhefte veröffentlicht: „Globalismus” und „Lenin aktuell”. Gerade das zweite erfreute sich sowohl in Deutschland als auch im deutschsprachigen Ausland einer ungewöhnlichen Nachfrage – und das besonders unter jungen Menschen.
Kurt Gossweilers „Taubenfuß-Chronik” ist erschienen!
Frank Flegel: Kurt Gossweilers „Taubenfuß-Chronik” ist erschienen!
Da habe ich knapp eine Woche vor Drucklegung dieses Heftes ein Buch in die Hände bekommen, das ich – auch wenn die Besprechung aus Zeitgründen noch unvollständig sein muss – hier unbedingt und sofort vorstellen muss.
Es handelt sich um das Buch von Kurt Gossweiler: „Die Taubenfuß-Chronik oder die Chruschtschowiade, 1953 bis 1964″, Band I, 1953 – 1957, ISBN: 3-00-008773-7, Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung – Stephan Eggerdinger Verlag, Tulbeckstr. 4, 80339 München, Tel: 089- 540 703 46. Das Buch besteht aus dem politischen Tagebuch Kurt Gossweilers. Ziel des Autors und des Verlages ist es, den zweiten Band noch in diesem Jahr herauzubringen.
Kurt Gossweilers „Taubenfuß-Chronik” ist erschienen! weiterlesen →
Zur Einschätzung der bisherigen Diskussion
Redaktion Offensiv:
Zur Einschätzung der bisherigen Diskussion
Wir haben eine sonst nie von einem Heft erreichte Anzahl von Leserbriefen bekommen. Die Reaktionen schwanken – offensichtlich je nach politischen Spektrum der Verfasser/innen dieser Leserbriefe – von schroffer Ablehnung über verhaltener Kritik an Formulierungen oder am Zeitpunkt oder an der Haltung des Heftes bis hin zu einfacher und manchmal auch überschwänglicher Zustimmung.
Natürlich war so etwas zu erwarten. Wir wollen hier nur die Momente herausgreifen, die uns besonders aufgefallen sind.